Von Caroline Jansen

Nur ein paar Zentimeter trennten mich von ihren Giftzähnen. In einer aufgerichteten Position stierte die Kobra mir in die Augen. Ihr Hals weit gespreizt. Der Mund leicht geöffnet.

Mein Finger schwebte über dem Auslöser der Kamera. Nur eine nervösmachende Bewegung und sie würde mich erwischen.

Ich hob etwas mehr den Zeigefinger. Die Kobra stieß vor und knallte mit der Nase gegen die Scheibe. Obwohl ein paar Millimeter Glas mich vor ihrem lebensgefährlichen Giftcocktail schützten, so raste mein Puls auf Hochtouren.

„Meine Güte“, staunte eine ältere Herrenstimme neben mir. „So schnell kannste nicht gucken.“

Ich nickte dem knapp 60 Jahre alten Herrn neben mir zu, den ich erst seit gestern kannte. Genauso wie seine Frau, die mit vier weiteren Teilnehmern zu unserer Reisegruppe gehörten.

„Diese Kobra ist zwar gut hinter Glas abgeschirmt“, meinte unser Reiseleiter Herr Bajwa. „Aber in Indien können sie hinter jeder Straßenecke hocken. Achten Sie also immer darauf, wo Sie hinfassen und hintreten.“

Ich erhob mich, wäre aber beim Versuch aufrecht zu stehen fast umgekippt. Mein Kreislauf hatte sich irgendwie noch nicht so richtig an das heiße Klima gewöhnt.

„Frau Mu-eller, alles okay?“

Ich nickte ihm hastig zu. Irgendwie fand ich es ja nett, wie er meinen Namen aussprach, dennoch erinnerte es mich immer daran, dass mein Familienname der gängigste im ganzen deutschen Sprachraum war. Dass der Fremdenführer sich schwer mit dem „ü“ tat, war mir dagegen neu.

Es war im Übrigen auch meine erste Auslandsreise nach Indien. Allerdings unternahm diese Reisegruppe keine Touren durch alltägliche Sehenswürdigkeiten, die man schon auf x-tausend Internetfotos sah. Stattdessen fanden die meisten Führungen im Hinterland statt, wo man mehr über das wirklichen Leben Indiens erfahren konnte. In einer der vielen, oft übervölkerten Städtchen kamen wir auch an einer Kobra-Station vorbei, deren Zweck darin bestand in der Stadt und Umgebung die Kobras aus Häusern oder Gärten zu entfernen, und verletzte Tiere zu verarzten. Obwohl die Angestellten Experten auf dem Gebiet waren, so stand das ganz im Gegensatz zum Haus. Räumlich glich es einem normalen Verkaufsladen mit kargen, weißen Wänden.

„Das ist Ajith“, präsentierte unser Reiseleiter einen breitgebauten Inder mittleren Alters, braune Haut und dunkles Haar. Auf den ersten Blick hätte man ihn nicht für jemanden gehalten, der fast täglich mit Kobras zu tun gehabt hätte. Doch dann klingelte sein Smartphone, weshalb unser „Sprachrohr“ erstmal unterbrechen musste und stattdessen ein paar schnelle Worte auf Hindi mit dem „Kobramann“ wechselte.

Ich verstand kein Wort Hindi. Erst das Wort „Kobara“ ließ mich hellhörig werden.

„Ajith hat gerade erfahren, dass sich in einem Dorf eine Kobra im Netz verfangen hat“, klärte uns Herr Bajwa auf. „Da können wir mitfahren.“

Ajith und ein Helfer fuhren mit ihrer Autorikscha voraus, während wir mit unserer eigenen hinterher tuckerten.

Das Dorf lag knappe 20 Minuten entfernt. Die Straße bestand hauptsächlich nur aus staubiger plattgedrückter Erde und rund herum teilweiser dichter tropischer Wald, gemischt mit Büschen und trockenen Grasflächen.

Kaum hatten wir das Dorf erreicht, liefen uns sofort mehrere Einwohner entgegen. Die Männer trugen gewöhnliche Alltagskleidung, während so gut wie alle Frauen in bunte Roben gehüllt waren.

Einige reden aufgeregt auf Ajith ein, kurz nachdem er die Autorikscha verlassen hatte. Im krassen Gegensatz zur heißen mit Feuchtigkeit getränkter Luft trug er jetzt eine dickte Jacke und lange Hosen. Das Zirpen und Summen verschiedener Insekten bestimmten die Hintergrundmusik des indischen Naturlebens.

Unserer Reisegruppe wurde weniger Beachtung geschenkt. Viel mehr waren die Dorfbewohner damit beschäftigt den Kobra-Fänger an einen dicht bewachsenen kleinen See zu führen, wo die Kobra gesichtet worden war. Der Assistent lief ihnen mit laufender Kamera hinterher.

Wir folgten der aufgeregten Menge bis ans andere Ende des Dorfes. Doch kurz darauf entstand ein lauterer Aufruhr, der nicht gerade einen positiven Beiklang aufwies.

„Der Dorfvorsteher sagt, die Kobra sei verschwunden“, übersetzte Herr Bajwa. „Sie müssen sie wohl suchen gehen.“

Während die Bewohner damit beschäftigt waren die Umgebung abzusuchen, wurde ich auf ein leises Rascheln aufmerksam, dass aus dem Dickicht kam. Ich hielt meine Kamera in Position, in der Hoffnung von einem Tier einen Schnappschuss machen zu können. Ich hatte keine Bedenken, da es nicht mehr als ein paar Meter weg war. Kaum blickte ich um eine Baumgruppe, sah ich wie etwas Kleines hin und her rannte. Von weitem sah es so aus wie ein spielender kleiner Hund. Ich ging näher ran und erstarrte förmlich, als ich kurz darauf ein Fauchen vernahm. Ich reckte den Hals. Das merkwürdig umherspringende Tier sah aus wie ein Marder. Ich hielt mitten im Gehen inne, als knapp einen Meter daneben ein hochaufgerichtetes weiteres Tier stand.

Eine Kobra.

Ich wagte einen Schritt weiter vor. Zuerst dachte ich, dass Reptil säße in einer Art Nest, doch beim genauen Hinsehen war es ein altes Netz.

Jetzt war mir auch klar, was das für ein umherlaufendes Tier war.

Ein Mungo.

Ein bekannter Schlangenfresser.

Hektisch rannte er vor der Kobra hin und her, um sie müde zu machen. Es war nur eine Frage der Zeit bis er dem Reptil den tödlichen Biss in den Hals versetzen würde. Mutig bäumte sich die Kobra auf und versuchte den Schlangenfresser, der sie bedrohte, mit lautem Fauchen und Vorstoßen ihres Kopfes zu vertreiben.

Ich wedelte wie wild mit den Armen. Zuerst wich der Mungo knapp einen Meter zurück. Dann wollte er wieder vor. Dicht an seine leichte Beute.

„Such dir was anderes zum Fressen!“, rief ich und traf heftig mit dem Fuß auf.

Endlich zog sich das kleine Säugetier zurück. Ich atmete erleichtert auf. Eine Chance hätte das Reptil mit Sicherheit nicht gehabt, denn das Gift der Kobras war gegen Mungos völlig wirkungslos.

Langsam drehte ich mich zu der Kobra um.

Ihr Hals war immer noch weit gefächert und ihre Atmung war so stark, dass ihr ganzer Körper auf und ab wippte vor Aufregung.

Allmählich sank mein Übermut. Zwischen mir und ihr befand sich diesmal kein Glas.

Auf einmal hörte ich von weitem Rufe und eilige Schritte.

Einwohner kamen angelaufen.

Im nächsten Moment stand Herr Bajwa neben mir und fragte, ob alles in Ordnung sei. Doch ich nahm es nicht so wahr. Mein Blick war nur auf die Kobra gerichtet. Die vielen Menschen um sie herum machten sie nervös.

Erst als das ältere Ehepaar mich an die Schultern nahm, taute ich langsam wieder auf.

„Da war ein Mungo gewesen“, sagte ich fast automatisch.

„Do legst di nieda“, meinte die ältere Dame überrascht, die so starkes Bairisch sprach, dass man sie kaum verstehen konnte.

Der Kobramann hatte sich inzwischen der wiedergefundenen Kobra angenommen. Er hatte einen Metallstab mit einem Haken hervorgeholt und das Tier mitsamt dem Netz angehoben. Stets von sich weghaltend.

Im Dorf setzte er sie auf einen freien, weitgeräumigen Platz ab, wo er auch genügend Abstand zu ihr halten konnte. Das Netz, in das sich das Reptil verfangen hatte, war schon ziemlich alt. Weiß der Himmel warum es da noch rumgelegen hatte.

Die Kobra ließ den Mann nicht aus den Augen.

Der Assistent stand daneben und filmte alles mit der Kamera.

Wir standen mit der Reisegruppe etwas weiter weg und beobachteten alles.

Die Kobra lag auf dem freien Platz. Umgeben von vielen Dorfbewohnern jeglichen Alters. Einige hielten ihre Smartphones in Position. Mit ausreichend Abstand. 

Die Kobra breitete wieder ihren Halskragen aus, als sich Ajith mit einer Wasserflasche vor ihr hinkniete und etwas davon auf ihren Kopf goss. Zuerst schrak das Tier zusammen, dann schien es aber zu begreifen, dass es Wasser war. Ajith näherte sich erneut mit der Flasche, sodass die Kobra an die Öffnung kam. Die Kobra erwartete ihn schon beinahe sehnsüchtig mit dem Wasser und steckte fast den Kopf in die Flasche. Dann trank sie. Das Wasser floss zwar teilweise an den Seiten vorbei, aber sie trank.

Wir waren so gebannt von diesem Bild, dass wir nicht mal die Fliegen auf unserer Haut spürten, die lästig um uns herumschwirrten.

Das Ganze ging eine Weile, bis sie genug hatte.

Die Kobra schien jetzt etwas entspannter zu sein.

Dann nahm Ajith erneut den Schlangenhaken zur Hand und drückte das Ende auf den Hinterkopf des Tieres, sodass es zu Boden sank und der Kopf fixiert wurde. Mit geübtem Griff bekam er das Tier am Nacken zu fassen. Dann hob er die Kobra hoch, nahm eine Schere zur Hand und durchtrennte damit die Netzmaschen, die teilweise die Haut zuschnürten. Endlich konnte er das Netz abstreifen. Jetzt packte er die Schlange mit Fingerspitzen am Schwanzende und ließ den Kopf knapp über dem Boden los.

Kaum hatte das Tier wieder mehr Bewegungsfreiheit, wollte es gleich abhauen. Doch Ajith hielt sie gut fest. Einige Leute rannten kreischend weg, dennoch blieb die Kobra einigermaßen gelassen. Zum Schluss dirigierte er sie in einen großen Plastikbehälter und schraubte den Deckel zu.

Mit der Kobra im Behälter traten wir die Rückfahrt an.

Während der Fahrt ging mir vieles durch den Kopf und wie alle anderen, war auch ich froh darüber, dass die Kobra weder dem Mungo zum Opfer gefallen, noch im Netz verendet war. Dennoch waren mir meine Königspythons auf der Hand zuhause viel lieber als eine Kobra in der Nähe. Aber helfen würde ich ihnen jederzeit gerne. So wie an diesem Tag.