Von Daniela Seitz

Irgendwo im Jahr 2354

 

Ich bin auf der Jagd nach dem Nibelungenschatz. Wie mehr als hundert andere auch. Der Schatz ist in einem Labyrinth zu finden und mein Helm zeigt es mir von oben. Das klingt einfach nicht wahr? Ist es aber nicht. Denn jeder der das Labyrinth betritt, bekommt so einen Helm und zehn Karten, mit denen man durch Magie die Struktur des Labyrinthes verändern kann.

 

Man sieht jeden Schatzjäger und jede Bedrohung, die im Labyrinth lauert, wie auf einem Spielbrett. Nur eben in der Spiegelung des Helmes. Verwendet man die Karten klug, kann man andere in einen Kampf mit einem Drachen, Fledermäusen, Spinnen, Insekten und mehr verwickeln. Überlebt man die Kämpfe, braucht man aber die Karten meist, um die Fee aufzusuchen, die die Gesundheit wiederherstellt. Oder man versucht den Schatz, der ebenfalls sichtbar ist, so zu schieben, dass man ihn möglichst schnell erreicht.

 

Ich bin schon ganz nah. Meine letzte Karte ermöglicht es mir den Schatz zu erlangen. Ich spiele sie aus und direkt vor mir öffnet sich die Mauer mit einem dumpfen Dröhnen und einem gewitterähnlichem Grollen. Der Anblick des Schatzes überwältigt mich. Blendet mich regelrecht durch das Glitzern und Funkeln, das zum Greifen nah ist. Gold, Diamanten, Rubine, Smaragde und ein vergoldetes Schwert sehe ich auf den ersten Blick.

 

Als hinter mir das gleiche Dröhnen und Grollen zu vernehmen ist, weil ein anderer Spieler die Wand hinter mir verändert. Hoffentlich erwartet mich einfach nur ein leerer Gang und kein Labyrinthbewohner. Gespannt drehe ich mich um und eine riesige Spinne steht vor mir. Ihre acht Augen fixieren mich. Ihre Beißklauen blitzen scharf und gefährlich. Ohne nachzudenken, renne ich zum Schwert und kann es kaum zur Verteidigung heben, als die Spinne auch schon über mir ist. Ihre Beißklauen fahren erneut auf mich herab und ich rette mich mit einem Hechtsprung hinter sie.

 

Meine Muskeln sind gespannt. Ich bin bereit zum Töten, da trifft mich etwas Klebriges mitten im Gesicht. Ich versuche es abzuwischen, während ich gleichzeitig blind das Schwert vor und über mir schwinge, um weitere Angriffe abzuwehren. Da spüre ich, wie das klebrige Zeug meine Arme zusammen zwingt. Vom blinden Aktionismus getrieben, springe ich hoch, um das Schwert irgendwo in der Spinne zu versenken.

 

Da presst eine weitere klebrige Masse meine Beine zusammen und reißt meinen Unterkörper im Sprung nach oben, sodass ich hart auf meinem Rücken lande. Ich höre Metall über den Boden poltern. Mir bleibt die Luft weg. Ich spüre stechende Schmerzen in meinen Lungen, die sich ausgerechnet diesen Augenblick aussuchen, um zu streiken. Ein harter Ruck zieht mich nach vorn. Und noch einer. Und noch einer, bis ich den riesigen Laib über mir spüre, der mich in Sekundenschnelle einwebt in ein Netz.

 

„Hey! Hier bin ich!“, höre ich einen anderen Schatzjäger brüllen.

 

Er muss ebenfalls einen Weg zum Schatz und somit zur Spinne gefunden haben. Doch kein Schatzjäger würde einem anderen Jäger helfen. Wir sind alle Erzfeinde! Außer Siegfried! Helden können einfach nicht anders, als andere zu retten. Und so höre ich einem gefühlt Stunden andauernden Kampf zu, den Siegfried nur durchhalten kann, weil er im Drachenblut gebadet hat und dadurch unverwundbar wurde. Doch die Spinne findet seine einzig verwundbare Stelle, wo das Lindblatt war und das Drachenblut nicht die Haut berührte. Auf höchst heldenunwürdige Weise winselt Siegfried um Gnade, doch die Spinne wickelt auch ihn ein und tötet uns beide mit einem schmerzhaften Gift, das mir schier die Eingeweide von innen bersten lässt.

 

Game Over! You lose!

 

Frustriert nehme ich den Helm ab, der zu dem neuen Computerspiel gehört, bei dem das Bewusstsein vom Körper getrennt und in das Labyrinth transferiert wird. Eine ganz neue Entwicklung für echte Kampferfahrungen bei denen der Körper keinen Schaden erleidet. Auch die Schmerzen, die ich eben noch verspürte, sind wie weggeblasen. Sie nennen das „Split“.

 

Den Schatz zu finden und mit ihm aus dem Labyrinth zurück zum Ausgangspunkt zu kommen, bedeutet eine Million zu gewinnen. Doch da dies viele andere Spieler ebenfalls versuchen und den Spielern darüber hinaus ein Zeitlimit gesetzt wird, ist dies noch keinem gelungen. Da diese neue Entwicklung des „Splittens“ sehr teuer ist, kann man das Spiel nur beim Anbieter und nicht zu Hause spielen. Auch muss man eine Startgebühr zahlen.

 

Doch nun zum einjährigen Jubiläum kann man eine Woche lang mehrere „Easter-Eggs“ in dem Labyrinth finden. Eine Art Belohnung für die Spieler zu besonderen Anlässen, wie eben dem Geburtstag des Spieles, bei dem normalerweise der Spieleentwickler seinen Namen in dem Spiel verewigt und den Spielern umsonst eine Besonderheit in dem Spiel zur Verfügung stellt. Man muss es jedoch während des Spielens wie ein Osterei suchen und nicht jeder findet es.

 

Die, die dieses „Ester-Egg“ finden, werden bei dieser Aktion zur Spielfigur Siegfried und erhalten die damit einhergehende Unverwundbarkeit, für die der andere Spieler einfach zu unfähig war, um diese richtig einzusetzen. Schon faszinierend, wie der Erfinder seinen Namen, ohne Buchstaben zu benutzen, in dieses Spiel integriert. Siegfried!

 

In der Theorie ist es für die Entwickler gefährlich, dem Spieler eine solche Stärke zu verleihen. Denn auch wenn mehrere Spieler Siegfried finden und theoretisch vermutlich sogar alle Spieler Siegfried werden könnten, müssen die Chancen bei jedem Spiel ausbalanciert werden. Deshalb wurden Siegfried zwei Schwachstellen verpasst.

 

Trifft er auf Schatzjäger in Not, zwingt die Spielfigur den Spieler zum Helfen, indem sie ein sich abwenden durch Bewegungslosigkeit unmöglich macht. Entscheidet sich der Spieler zu kämpfen, ist die Figur wieder voll einsatzfähig. Dieser „Ich rette jeden“ Schwachstelle, kann man allerdings durch geschicktes Einsetzten der Karten entgehen.

 

Denn der Helm zeigt einem ja alle Spieler an und der Zwang tritt nur ein, wenn man die Notlage direkt vor sich hat. Eigentlich hätte der Spieler nur meinen Tod abwarten müssen. Er muss mich und die Spinne ja mit dem Helm gesehen haben. Aber vielleicht hat er gefürchtet, dass dann der Schatz schon wieder für ihn unzugänglich verschoben worden wäre. Vielleicht ist er auch einfach altruistisch veranlagt und wollte mir, auch ohne Siegfrieds Retter Zwang, helfen?

 

Einzig die verwundbare Stelle kann einem zum Verhängnis werden, aber auch diese muss man einfach nur zu schützen wissen. Daher erfasst mich rasende Wut darüber, dass dieser unwürdige Spieler ein „Easter-Egg“ gefunden hat und ich nicht. Denn die Woche ist rum. Und das heutige Zeitlimit auch.

 

„Bitte verlassen Sie die Konsolen. Aufgrund eines Updates schließen wir ab morgen eine ganze Woche. Besuchen Sie uns bitte danach wieder und „Seien Sie der Held, der den Nibelungenschatz hebt“, höre ich eine Lautsprecher-Durchsage.

 

Ich will Siegfried! Also verstecke ich mich und sorge dafür, dass ich nicht entdeckt werde. Als alles ruhig ist und ich mir sicher bin, nicht entdeckt zu werden, schleiche ich mich zurück zur Konsole. Sie lässt sich nicht wie üblich starten. Wahrscheinlich wegen dem Update. Ich muss schnell sein. Doch ich verfüge über genug Kenntnisse, um das Spiel wieder in Gang zu bringen.

 

Ohne einen weiteren Spieler ist es lächerlich einfach, zum Nibelungenschatz zu kommen, doch der Gewinn würde mir nicht ausgezahlt werden, weil ich ja illegal spiele. Aber Siegfried werde ich finden und ihn nutzen. Ich klopfe die Mauern ab. Ziehe an den Fackeln, die das Labyrinth erhellen und weiche den Bewohnern des Labyrinths aus.

 

Am Drachen komme ich allerdings nicht vorbei, also stelle ich mich ihm. Doch ich habe Glück. Er schläft. Wieso schlafen Spielfiguren? Als der Drache sich im Schlaf bewegt, interessiert mich die Antwort nicht mehr. Denn er bewacht Eier. Sind das die „Easter-Eggs“? Habe ich Siegfried gefunden? Wenn ja, können nicht sehr viele Spieler ein „Easter-Egg“ erlangt haben, denn an dem Drachen vorbeizukommen, ist normalerweise wohl fast unmöglich.

 

Ich bemerke dass sich das Licht verändert. Regenbogenfarben wechseln sich ab und kommen als Wand langsam auf den Drachen und mich zu. Ob so das Update aussieht? Ich muss mich beeilen. Vorsichtig, um den Drachen nicht zu wecken, nähere ich mich ihm. Und schaffe es mir ein Ei zu nehmen. Ich zerbreche es und verwandle mich. In Siegfried! Doch die Transformation dauert. Und die Regenbogenfarben erreichen mich und ein ohrenbetäubendes hochfrequentes Geräusch treibt mich in den Wahnsinn!

 

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Split Meldung Nr. 876: Der Todesfall eines 20-jährigen beim Update hat sich als Unfall erwiesen, der nicht vorhersehbar war. Der 20-jährige hatte die Konsole so manipuliert, dass die Split Cooperation nicht für diesen Vorfall haftbar gemacht werden kann. Ermittlungen gegen die Split Cooperation wurden daher eingestellt und die Spiele erneut eröffnet.

 

Zwei 19-jährige tauschen sich aus:

 

„Hast du schon gehört? Die sollen mit dem Update beim Nibelungenlabyrinth, nun den Geist von Siegfried integriert haben, der sich für seine Ermordung rächen will! Wie geil ist das denn?“

 

„Ja, das müssen wir uns unbedingt ansehen und ausprobieren, was dieser Geist alles kann“

 

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Ich bin Siegfried! Ich weiß nicht was passiert ist, aber ich komme nicht mehr aus dem Labyrinth heraus. Und ich bin wie der Drache und die Spinne an ein gewisses Terrain gebunden, so dass ich nicht einmal mehr, dass ganze Labyrinth erkunden kann und von den Schatzjägern hin und her geschoben werde. Wie ein Gefangener!

 

Mich beschleicht der Verdacht, dass der Drache schlief, weil auch er ein Gefangener ist. Warum sollten Spielfiguren denn sonst Schlaf brauchen und auch ich mich immer wieder ausruhen müssen, obwohl ich nun auch eine Spielfigur zu sein scheine?

 

Ich habe keine Beine mehr und schwebe herum. Aber ich habe ein Schwert. Und jeder Schatzjäger der sich in mein Terrain vorwagt, wird sich dem Zorn des Gefangenen des Nibelungenlabyrinthes stellen müssen.

 

Ergib dich und stirb! Kämpfe und stirb ebenso! Das ist nun mein Leben.

 

V3