Von Anne Zeisig

Betrachte mich, aufrecht im Bett sitzend, in der Scheibe der Balkontür.

Wie zerzaust meine Haar aussehen!

Beuge mich vor und streife mit beiden Handflächen über mein Gesicht, ziehe die schlaffen Wangen hinauf zu den Ohren. Meine Arme sinken leblos auf die Bettdecke. Es ist anstrengend. Ich schnaufe.

 

„Soll ich Handspiegel holen für Gucken?“, fragt die Frau, welche mit einem Mop im Zimmer umherwischt.

 

Ich kann mich nicht erinnern, diese Dame eingestellt zu haben. Das muss er gewesen sein.

Er!

Eine Unruhe überkommt mich!

Wie war doch noch sein Name?

„Jedenfalls kommt mich der junge Mann regelmäßig besuchen!“, sage ich und bemühe mich um eine feste Stimme. „Er hat Ihnen doch diese Stelle verschafft.“

 

Sie zuckt mit den Schultern, blickt mich kurz an, wischt sich den Schweiß von der Stirn und säuselt: „Ich weiß nichts, Muttchen! Bin von Reinigungsfirma beauftragt.“

 

Streiche über mein Haar, um es zu glätten. Fühle diese Fülle an meinen Handinnenflächen.

War zeitlebens stolz auf meine dichten Locken.

Und blicke mit erhobenem Kopf auf die emsige Reinigungsfrau, deren Flusen verschwitzt an Stirn und Schläfen kleben.

Sehe nicht so aus wie die anderen Alten mit Halbglatze oder durchscheinender Kopfhaut. Das haben die davon, weil sie sich zeitlebens diese Farbchemie auf den Kopf geschmiert haben. Bereits als junges Mädel empfand ich diese ‘ewigen Blondinen’ unglaubwürdig. Als wenn sowas den Blick von den gelebten Spuren im Gesicht ablenken würde, wenn die Altersfratze per Schwerkraft zu Boden fällt.

Aber das Färben brachte Geld in die Kasse.

Ich blicke zum Nachttisch. Außer dem Tablettenbehälter sehe ich nichts: „Wo ist meine Haarbürste?“, frage ich den Wischmop. Sie öffnet die Tür zum Balkon.

Schweigend macht sie sich dort zu schaffen.

 

„Aber wenn Sie hier arbeiten, dann müssen Sie das doch wissen!“, werde ich laut, bin ungehalten über ihr Desinteresse.

Schließlich soll meine Frisur nicht aussehen, wie ihr vor Nässe triefender Aufnehmer.

 

Sie wendet sich mir zu und baut sich massiv vor mir auf: „Ich bin die Roza! Ich habe mit Putzeimer zu tun, aber nicht mit Problemen von der Frisur. Bei mir in Heimat ist Großmütterchen in Familie, wenn alt und krank.“

 

Sie wischt über das Regal gegenüber, wo einige Fotos stehen.

 

Ich recke meinen Hals. Ist er etwa auf einem der Bilder zu sehen? Ja!

„Da!“ Ich zeige hin. „Der junge Blondschopf dort auf dem Bild, das ist er. Und ich warte sehnlichst auf seinen Besuch.“

 

„In Heimat muss nix warten. Familie sind immer da.“

 

„Ist immer da“, rutscht es  aus mir heraus.

„Ich habe Germanistik studiert. In Berlin! Oder in Bonn? Jedenfalls hatte ich in irgendeiner schönen Stadt eine wunderbare Zeit.“

Oder hat er mir das erzählt? Der Blonde von dem Foto? Ist es der Studiosus aus Berlin? Bonn? Jedenfalls mit ‘B’, diese Stadt.

Bildfetzen von Weibern unter Trockenhauben fluten mein Hirn. Und Illustrierte mit Sofia Loren auf dem Titelbild. Oder Claudia Cardinale.

Beide Damen waren seinerzeit Sexbomben. Mit mächtig ‘Holz vor der Hütten’ und langen Haaren.

Ich war am Theater beschäftigt! Oder? Habe doch in dieser Oper mitgespielt. Wie hieß sie doch gleich?

Ich klemme mir meine Strähnen hinter die Ohren, weil sie im Gehörgang kitzeln. Das mochte ich nie.

In dem Moment öffnet sich schwungvoll die Zimmertür und eine junge, hübsche Frau tritt an mein Bett: „Guten Morgen!“

Die ist naturblond. Das sehe ich sofort. So einen goldigen Ton kriegt man mit Chemie nicht hin.

 

Ich schäme mich, weil ich ungekämmt bin: „Könnten Sie bitte wiederkommen, wenn ich manierlicher aussehe?“ Fasse mit beiden Händen durch meine nicht vorhandene Frisur. „Habe keine Ahnung, wann der Friseur kommt! Der da! Auf dem Foto!“

 

Das junge Ding zückt eine Haarbürste und zieht sie wohltuend über meine Kopfhaut: „Mein Name ist Lisa-Anna-Lena. Ich bin die neue Praktikantin.“

 

Immer neue Gesichter, da komme ich ganz durcheinander.

„Hat er sie auch eingestellt?“

 

„Keine Ahnung! Ich habe hier heute meinen ersten Tag.“

 

Wie klar ihre Stimme ist. Nicht so brüchig abgenutzt wie meine.

Verflixt!

Mir fällt der wirkliche Name nicht ein. Es gibt doch so eine Bezeichnung dafür. Für so ein Verwandtschaftsverhältnis, wenn das der Sohn der Tochter ist.

Oder der Sohn des Sohnes?

 

„Wissen Sie eigentlich, dass Sie für ihr Alter noch schönes volles Haar haben?“

 

Wie alt bin ich eigentlich?

Strich für Strich tut mir die Bürste gut, denn eine angenehme Durchblutung fördert das Haarwachstum.

Einhundert Bürstenstriche pro Tag!

 

„Aber morgens stehen meine Haare in allen Himmelsrichtungen ab.“

 

Sie lacht glockenhell. Es ist das Lachen der Jugend. „So sehe ich nach dem Aufstehen auch aus.“ Eine kleine Pause. „Ich kann Ihre Frisur gerne mit Haarspray fixieren.“

 

Meine Kopfhaut schmerzt plötzlich. „Aua!“ Ich haue wirsch diese kratzende Haarbürste von meinem Kopf.

 

„Sorry“, sagt sie und hält mir eine Flasche vor die Augen: „Haarspray?“

 

„Chemie? Niemals!“ Ich schlage ihr dieses Teufelszeug aus den Händen, es knallt auf den Boden.

„Mein Figaro hat mir immer ein natürliches Bändigungsmittel mitgebracht. Verpackt in kleinen durchsichtigen Tütchen.“

 

„Was soll Blondschöpfchen bringen?“, fragt mich die Frau im hellblauen Putzkittel.

Die Jüngste ist die auch nicht mehr. Sie hat gefärbte Haare! Rot! Schätze, dass die bereits mit sechzig Haarausfall haben wird.

 

„Sie sollten ihre Haare nicht färben, das ist nicht gut“, flüstere ich und versuche meinem Gehirn zu entlocken, was mir der Coiffeur immer mitgebracht hat. Der vom Theater?

 

Die Reinigungsdame schließt die Balkontür: „Wir wollen ja nicht, dass Großmamutschka sich erkältet“, und zwinkert mit den Augen, die groß aus ihrer überdimensionalen Hornbrille hervor gucken. „Und?“, blickt sie mich fragend an.

 

„Was und?“ Meine Hände zittern. Ich verstecke sie unter der Bettdecke.Wenn mein Barbier hier war, bebt bei mir nichts mehr, fällt mir spontan ein. Da fühle ich mich wohl, ruhig und ausgeglichen. 

Die junge Auszubildende hat den Salon, oder die Bühne, samt Kratzbürste fluchtartig verlassen. Die stelle ich sowieso nicht ein. Sie hat einfach kein Talent.

 

„Ist Raum sauber zur Zufriedenheit?“ Die ungepflegte Frau grinst mich breit an, packt die Utensilien zusammen und wischt sich mit dem Handrücken die verklebten Haare aus dem Gesicht.

 

„Schicken Sie mir die Rechnung wie immer zu“, sage ich routiniert und füge an, dass sie das nächste Mal doch bitte das Waschbecken trocken polieren solle.

Sie nickt.

„Hygiene ist das ‘A und O’ in meinem Beruf!“

Es gibt immer Ärger mit dem Personal. Gute Leute sind Mangelware.

 

Plötzlich wird die Tür aufgestoßen, ein junger Mann betritt ungestüm die Räumlichkeit und wirft sich auf mein Bett, dass die Bettfedern nur so quietschen. „Hei Grandma!“ Er nimmt meine Hand, legt mir etwas auf die Handfläche, drückt meine Finger darüber zusammen, legt einen Zeigefinger an seine Lippen und säuselt „Psssst.“

 

„Mein Figaro von Sevilla!“, schießt es aus mir heraus. Das ist der auf dem Foto. Ich wusste es doch! Sooo altersblöd bin ich also doch noch nicht.

 

„Nun ist Enkelchen ja da, um Babuschka zu machen glücklich.“, sagt die Bedienstete und geht endlich.

 

„Wir beide waren im Barbier von Sevilla. Ist lange her.“

 

„Was hast du mir mitgebracht?“, frage ich heiser, deute zur Tür, als wenn davor Spione lauschen würden und blicke auf meine geschlossene Hand. Wie an Weihnachten spüre ich eine freudige Erwartung. 

Ich wusele ihm mit der Linken durchs strubbelige Haar. „Du machst unserem Berufsstand keine Ehre!“, kritisiere ich und drücke ihn an mich.

 

„Granny, gleich wird es dir besser gehen.“

Er öffnet einen Finger nach dem anderen meiner Faust.

Und was kommt zum Vorschein?

„Haarnetze!“, jubiliere ich.

 

Er legt mir sanft eines um meine Frisur.

 

Ein Haarkünstler weiß, was Frauen wünschen.

Er haucht mir einen zarten Kuss auf die zerknitterte Wange und steckt mir einen Glimmstängel zwischen die schmalen ausgedörrten Lippen.

Ich nehme genussvoll einen tiefen Zug. Blicke dem Qualm entrückt hinterher. Und mein Figaro aus Berlin oder Bonn legt seinen Kopf auf meine Schulter.

 

„Ist das gut?“

 

„Sehr gut“, gackere ich. „Wie war nochmal dein Name?“, höre ich mich wie aus weiter Ferne fragen und schwebe im Nebel aus meinem Bett empor.

 

„Ich bin dein Enkel. Nächste Woche bringe ich wieder ein Tütchen mit und wir rauchen gemeinsam einen Joint.“

 

Ich fahre mir mit ruhigen Händen durch meine Frisur. „Aber nicht die Haarnetze vergessen.“

 

Mein Auszubildender hält beide Daumen hoch.

 

„Und für den Salon stellen wir eine neue Putzfrau ein.“

 

„Machen wir, Oma!“

 

Ich stupse ihn in die Seite: „Aber ich bin doch nicht deine Großmutter.“

 

„Stimmt, Cheffin.“

 

 

anne z. end-VERSION