Von Lea Naum

Spark steht reglos und schläfrig im flachen Uferwasser im Schatten seiner Lieblingseiche. Seine kreisrunden Augen sind offen und es scheint, als starre er ins Leere. Aber er sieht auf den dunklen Halbkreis, den das Blätterdach auf den See wirft, wie auf eine Uhr. Noch reicht er bis zur Mitte des Schilfgürtels. Erst wenn das Dunkel wie ein großes Tuch das ganze Schilf bedeckt, würde seine Stunde kommen.

 Heinrich Sutter steht im Garten. Er legt seine linke Hand wie eine Sonnenblende an die Stirn und späht zum Himmel. Kein Wölkchen! Es wird eine laue Sommernacht. Er muss mit den Vorbereitungen beginnen. Während er langsam zum Haus geht, bemerkt er, wie sich tief in ihm kleine Wellen der Erregung ausbreiten. Heute Nacht wird er ihn holen! 

Der Gedanke tut ihm gut. Zunächst. Da ist er wie ein tröpfelnder Quell. Klein, unscheinbar und erfrischend. Doch je länger er ihn denkt, desto mehr wandelt er sich. Nach einer Weile wird er ein immer schneller strömendes Bächlein, dann ein rasch dahin gleitender Fluss und am Abend ist es  ein reißender Strom, der ihn mit gischtigen Pranken packt, mit sich reißt und ans Ufer des Waldsees schleudert, wo er japsend, keuchend und mit zitternden Fingern versucht, den Köderfisch auf den Drilling zu spießen. So geht das – seit sieben Jahren, drei Monaten und 25 Tagen. 

»Na, Heinrich, holst Du dir die Bestie heute?« Heinrich zuckt zusammen. Der Petersen! Der fehlt ihm gerade noch! 

»Bei der Hitze steht er garantiert hinten unter den Bäumen! Du musst ihn anfüttern, damit der da bleibt!«, ruft Petersen über den Zaun.

»Ja, ja, ich weiß!« Heinrich zwingt seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Schließlich war es Petersen, der ihn damals rettete. Als er schweißgebadet und mit geschwollenem, kobaltblauem Arm vom Stammtischstuhl kippte, begriff Petersen sofort, was los war. Er schleifte ihn ins Auto und brüllte in der Notaufnahme was von »Blutvergiftung«. 

Blutvergiftung! Das war das letzte Wort aus seinem alten Leben. Es klang damals dunkel und dumpf, so als habe ein böser Geist vom Grund des Sees einen düsteren Schwur getan. Er versank mit diesem Wort. Als er nach Wochen aus dem Koma auftauchte, fehlten ihm der rechte Arm und alle Lebenskraft. In den langen Tagen und Nächten des Schlafes zwischen Versinken und kurzem Auftauchen breitete sich die Erinnerung in ihm aus. Eines Morgens, der Tag war noch nicht richtig wach, sah er das Auge. Kreisrund und rotgelb wie ein Vollmond erschien es direkt vor dem seinen und starrte ihn an. »Spark«! Das Wort war damals in seinen Kopf geschossen wie ein Blitz, zusammenhanglos und ohne Sinn. Es war spitz, scharf, und von unbändiger Kraft. Da wusste er es: Das war sein Name!

Spark bemerkt es sofort. Sie sind unterwegs. Das Wasser trägt den Schall des Gezappels ihrer Schwimmfüße von der anderen Seite des Sees bis zu ihm. Er spürt sie mit seinem ganzen Körper. Langsam setzt er sich in Bewegung. Er wird in der kleinen Bucht unter den Weiden Stellung beziehen. Wenn er Glück hat, paddeln sie genau über ihn hinweg. Es braucht dann nur Kraft für einen kurzen Vorstoß. Das ist gut. Gemächlich verlässt er den Schatten der Baumkrone und gleitet hinaus in den See.

Energisch reißt Heinrich mit seinem linken Arm den Eimer mit den Köderfischen hoch. Der Boden des Eimers streift die Kante des Fahrradanhängers. Schwapp! Die Köderfische zappeln auf dem Blechboden der Ladefläche und eine Wasserlache schleckt an seinen achtlos hineingeworfenen Nachtlichtern. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Heinrich brüllt, dass ihm der Atem wegbleibt. Er ringt nach Luft. Als seine Lungen wieder voll sind, ist sie da – diese unbändige Wut. Sie brennt in ihm wie Säure und treibt sein Herz an, bis es rast. Nur ein Wort ist noch in ihm. Spark!

Spark schwingt seine Schwanzflosse sanft hin und her. Er meidet ausladende Bewegungen und hält Abstand zu den Algen und der Wasserpest. Zu oft war er darin hängengeblieben. Am schlimmsten erging es ihm, wenn er jagte. Früher stieß er blitzschnell nach oben, sobald er seine Beute sah. Doch nachdem es ihn mehrmals mitten im Vorschnellen zurückriss und ein rasender Schmerz seinen Körper durchzuckte, veränderte er seine Jagd. Jetzt sucht er sich unbewachsene Stellen, liegt stundenlang leblos wie ein versunkener riesiger Ast auf dem Grund und wartet. Er weiß, wann und wo Enten und Blesshühner ihre Küken zum Baden ausführen. Er überblickt die Laichstellen der Barsche und Karpfen, kennt die Unachtsamkeit der Jungfische und die kopflose Flucht all jener, die aus fremden Revieren vertrieben werden. 

Heinrich steht vor seinem Küchentisch, auf dem er Angelhaken, Sehnen, Bleie und Blinker ausgebreitet hat. Es ist sein Altar! Er atmet. Ein, aus! Ein und aus! Heu – te! Heu – te! Zuversicht strömt in ihn ein. Heute klappt es. Bestimmt! Er könnte eine dickere Sehne nehmen und einen stabileren Haken, vielleicht auch zwei! Aber wie soll das gehen? Den letzten Haken mit Sehne hat ihm vor Monaten Arnold zurechtgemacht. Heinrich besieht seine linke Hand, die ungelenke, unzuverlässige, die zu nichts reicht. Nicht für seine Tischlerei, nicht zum Kartoffelschälen, nicht zum Skat spielen, nicht zum Rudern des Angelkahns, nicht mal, um ein Formular auszufüllen oder einen halbvollen Eimer ordentlich anzuheben! Ein Kloß wächst in seinem Hals. Verdammt! Alles wegen diesem Mistvieh! Seine linke Hand zittert, als er seinen größten Angelhaken mit einer Zwinge auf dem Holzbrett fixieren will. Er braucht mehrere Versuche. Nach Stunden zieht er endlich die Knoten am Vorfach mit seinen Zähnen und der linken Hand fest. Das Holzbrett ist nass und salzig. 

Spark liegt wie Totholz auf dem Grund. Es ist eine gute Stelle. Die Sicht nach oben ist frei. Keine Schlingpflanzen weit und breit. Die Entenpaddel sind noch ein Stück weg. Ihm bleibt nur Warten. Oft schon änderten sie unvermittelt ihren Kurs. Mal wegen eines Raubvogels, den er über sich hinweggleiten sah. Manchmal wegen eines Wildschweins, das zum Saufen ans Ufer kam. Hin und wieder schwammen sie urplötzlich ins Schilf oder paddelten über die Seegraswiesen. Da waren sie für ihn unerreichbar. Spark drehte dann ab und suchte einen neuen Lauerplatz. Aber heute hat er Glück. Die Enten kommen näher. Der Schall verrät es ihm.

Am gegenüberliegenden Ufer erspäht Heinrich eine Stockente mit ihren fünf Küken. Wie Tennisbälle schwingen die Kleinen auf den Wellen gemächlich auf und ab. Ihr aufgeregtes Geschnatter und Gepiepse verteilt der Wind über den ganzen See. Heinrich lächelt. Eigentlich ist es sehr schön hier. Dann wölbt sich urplötzlich die Wasserfläche direkt unter dem letzten Küken. Es steigt hoch und höher. Gischt schießt wie ein Geysir nach oben. Das Geschnatter wird zum verzweifelten Geschrei. Ein enormes Platschen. Dicke Wellen breiten sich aus. Sie scheppern ans gegenüberliegende Ufer. Der Seerosenteppich in der Mitte des Teiches wölbt und senkt sich. Und nach einiger Zeit wabern die Restwellen wie kleine Nachbeben gegen Heinrichs Angelsteg. Stille.

Heinrich wischt sich die schweißnasse Stirn. Bei Gott! Das ist er! Spark! Das kann nur Spark sein! Schon damals war er riesig. Aber jetzt! Das ist kein Hecht mehr! Das ist ein Kollos, Riese, ein Molloch, ein Monsterfisch! Grundgütiger! Wie soll er das schaffen? Schon damals ist es schief gegangen.

Damals! Das war vor sieben Jahren, drei Monaten und 25 Tagen. Da biss er an. Heinrich ließ ihn ziehen, holte ihn wieder heran. Er schwitzte, keuchte, ließ locker, zog an. Wieder, wieder und wieder. Als endlich der große dunkelgraue Rücken des Hechtes auftauchte, wollte er nur noch eins: Gewinnen! Er griff den Kescher und schob ihn tief unter den tobenden Körper. Als er ihn anhob, drohte die Stange unter dem Gewicht des Hechtes zu bersten. Also zog er ihn bis an den Rand des Bootes, griff mit beiden Händen die Kiemen des rasenden Fischs und wuchtete ihn hoch. Für eine Zehntelsekunde erstarrte der Hecht. Dann krümmte er sich mit einem gewaltigen Ruck. Seine Schwanzflosse schlug Heinrich mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Einmal und noch einmal. Instinktiv ließ Heinrich einen der Kiemen los, um sich zu schützen. Der Hecht drehte sich in der Luft. Noch im Flug biss er zu. Dann krachte er ins Wasser. Heinrich griff nach der Angelrute, stoppte die Rolle, wartete auf den Ruck, den es gleich geben würde. Es dauerte, bis er erkannte, dass nur noch ein loses Ende der Angelschnur auf dem Wasser lag.

Sechs kleine Löcher in der rechten Hand blieben ihm an diesem Morgen vom Fang. Er zeigte sie wie Trophäen im Dorf herum. Mit ausgebreiteten Armen beschrieb er die Ausmaße seines Kampfes. Am Abend fühlte er sich elend, aber der Stammtisch musste vom Beinahesieg gegen die Bestie erfahren. Danach war Heinrich nie mehr beim Stammtisch. Auf die mitleidigen Blicke, oder das versteckte Grinsen, das ihm gilt, wenn sie sich »Petri Heil« zurufen, kann er gut verzichten.

Heinrich starrt wie gebannt auf den See. Irgendwo da unten ist er jetzt. Mächtig, schön und voller Kraft. Ein riesiges, wildes und dunkles Geheimnis, dass sich nur ihm offenbart hat. Und auf einmal weiß er es. Er kann Spark nicht besiegen und will es auch gar nicht mehr. In dieser Sekunde wird sein Herz federleicht. Dann überkommt Heinrich eine große Müdigkeit. Sie legt sich auf ihn wie eine Decke aus Blei, die ihn auf den Steg drückt. Er wird ein Nickerchen machen, ein ganz kurzes.

Als er aufwacht, liegt sein rechtes Auge genau über einem Spalt zwischen zwei Stegbrettern. Er blickt ins Wasser. Und er sieht Spark. Wie ein lang gestreckter Fels liegt er direkt unter ihm. Seine gelbroten Augen blicken zu ihm hinauf. Heinrich ist wie erstarrt. Sein Auge tastet Sparks Körper ab. Wie in Zeitlupe dreht sich das riesige Tier auf die Seite. Heinrich kann jetzt die Beule sehen. Aus dem vernarbten fußballgroßen Abszess am Bauch ragen die Zinken eines Drillings. Es ist seiner.

Heinrich sitzt auf dem Steg. Er wirft kleine Fische ins Wasser, auch mal Brot oder eine Möhre. Wenn er den großen Schatten am Steg vorbei gleiten sieht, hebt er seinen linken Arm zu einem Gruß.

 

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