Von Martina Annecke

Ägypten, Wüste, Oktober 1919

 

Liebste Cousine,

Ich hoffe, diese Zeilen erreichen dich bei bester Gesundheit, denn was ich dir mitzuteilen habe, wird dich sicherlich schockieren. Du weißt, wie sehr ich mich gefreut habe, dass ich meinen Mann auf der Expedition begleiten durfte. Und mein Wunsch nach einem Abenteuer ist wirklich wahr geworden.

Aber lass mich von vorn beginnen, damit du es genauso nachfühlen kannst, wie ich es erlebte. 

Es war der Tag, an dem endlich der Sarkophag geöffnet werden sollte. Ich habe dir in meinem letzten Brief davon berichtet, und von meinem Ärger darüber, dass mich Expeditionsleiter Petrie davon ausgeschlossen hatte. Ich saß also wie jeden Tag unter meinem Zeltdach, katalogisierte Scherben, trank warmes, versandetes Wasser und starrte immer wieder auf den hitzeflimmernden Horizont. Und während ich vor Hitze und Wut schmorte, fasste ich einen Entschluss. Du weißt, liebe Cousine, ich neige nicht zum Ungehorsam, aber diesmal packte es mich. Ich ergriff meinen Hut und meine Tasche und machte mich auf den Weg zum Grab. Der Anblick des dunklen Loches im Sand lässt mich immer ein wenig erschauern. Ich betrat also die erste Kammer und ergriff eine Öllampe. Mir wurde ein wenig mulmig, denn allein war ich hier noch nie unterwegs, außerdem hatte ich Angst erwischt zu werden. Ich ging aber trotzdem weiter in den nächsten Gang. Je weiter ich mich vorwagte, desto aufgeregter wurde ich. Erinnerst du dich noch an das Gefühl, wenn wir heimlich die eingelegten Früchte aus der Vorratskammer stibitzt hatten? So ähnlich ging es mir nun auch. Man konnte jetzt das Echo der Stimmen im Gang hören. Es war fast ein wenig gruselig. Ich schlich weiter, dem Hallen nach, während mich die Augen der Ägypter von den spärlich beleuchteten Wänden anstarrten. Ich beschrieb dir schon, wie bedrohlich es wirkt, wenn diese manchmal sehr riesigen Figuren auf einen blicken, sie sehen einfach immer unfreundlich aus. Aber ich wäre wohl auch nicht wohlgestimmt, wenn jemand ungefragt mein Haus betreten würde. 

Fast schon hatte ich die Grabkammer erreicht, da wurden die Stimmen lauter und aufgeregter, und gerade als ich meine Nase um die Ecke stecken wollte, gab es ein Geschrei und einen Moment später rannte ein Haufen ägyptischer Arbeiter in meine Richtung. Ich wollte ihnen ausweichen, aber sie schoben mich einfach vor sich her, ohne mich wahrzunehmen. Um nicht zu fallen, lief ich mit ihnen mit, aber bemerkte dann, dass sie nicht Richtung Ausgang rannten, sondern in einen anderen unbeleuchteten Gang! Ich wurde dabei so an die Wand gedrängt, dass ich mir die Haut aufschürfte, aber dann gab es plötzlich eine Nische, in die ich mich retten konnte. Hier kam ich wieder zu Atem, während sich völlige Ruhe um mich herum ausbreitete. Hast du mal mutterseelenallein in völliger Dunkelheit und Stille gesessen, liebe Cousine? Es ist ein sehr beunruhigendes Gefühl. Ich machte mir Gedanken, was wohl passiert sein mochte, war vielleicht Säure ausgetreten beim Öffnen des Sargs? Das kommt immer wieder vor, deshalb war man eigentlich auf so etwas vorbereitet. Ich sorgte mich um meinen Gatten und ein wenig auch über Petrie. Vielleicht hätte ich ihm nicht die Pest an den Hals wünschen sollen. Aber jetzt liebe Cousine, wurde es erst wirklich aufregend.

Um mich der beängstigenden Düsternis zu berauben, musste ich die Lampe anzünden. Wie gut, dass Henry mich das so oft im Dunklen üben ließ. Während ich also in meiner Tasche nach Zündhölzern tastete, hörte ich jemand oder etwas an mir vorbeihuschen. Meine Hände waren ganz zittrig vor Aufregung. Aber irgendwann brannte die Lampe. Ich leuchtete um mich herum, niemand war in meiner Nähe, aber ein paar Meter weiter blinkte etwas im Schein des Lichtes. Neugierig kroch ich dorthin. Es war eine weitere Nische, in der ein Bündel Lumpen lag. Und darin schien ein Schmuckstück zu stecken. Ganz vorsichtig wollte ich danach greifen, aber da sprang das Bündel plötzlich auf. Kannst du dir mein Erschrecken vorstellen? Ich schrie, wich zurück und verlor zu allem Überfluss auch noch die Lampe. Dann kauerte ich mich in den sandigen Boden und versuchte mich ganz still zu verhalten. Aber mein Herz klopfte so stark, dass ich dachte, sein Echo müsste durch die Gänge des gesamten Grabes hallen. Als dann nichts geschah, versuchte ich durch meine Hände zu linsen, und was sah ich? Da stand wahrhaftig eine lebendige Mumie vor mir! Es war ein grauenhafter Anblick. Durch das flackernde Licht der Lampe warf sie wabernde Schatten an die Wand, während sie selbst stillstand und mich anstarrte. Ich konnte natürlich ihre Augen nicht sehen, denn sie war ja über und über mit Leinentüchern überzogen, aber ihr Zustand war wesentlich besser als die, die wir im Museum… Es war absurd, wie die Gedanken meinen Verstand streiften, und ich verfluchte mich, (bitte verzeihe mir dieses Wort), dass ich Bücher wie Frankenstein oder Dracula so oft gelesen hatte. Denn ich hatte meinen Tod schon vor Augen. Doch jetzt geschah Seltsames. Die Mumie kniete sich zu mir und hielt mir das Schmuckstück vor das Gesicht. Es war ein goldenes, wunderschönes Amulett und die Mumie schwenkte es vor mir her und machte merkwürdige Grunzgeräusche. Sie wurde immer energischer und so berührte ich das Amulett. Im gleichen Augenblick hörte ich eine kindliche Stimme in meinem Kopf. 

„Hilf mir.“ Erschrocken ließ ich sofort wieder los, wurde aber sogleich aufgefordert, den Anhänger abermals zu berühren. Allmählich wandte sich mein Schrecken in Neugier, auch dem geschuldet, dass die in Leinen gewickelte Person nun gar nicht mehr so bedrohlich auf mich wirkte. Ich ergriff also abermals das Amulett und es entspann sich eine Art Unterhaltung. Ich erfuhr, dass es sich bei der Mumie wirklich um die Prinzessin Neferut aus dem Sarkophag handelte. Und stell dir vor, sie wusste, was mit ihr geschehen würde. Es gibt eine Vorhersehung in der steht, dass sie in diesem Jahr aus ihrer heiligen Ruhe gerissen würde und dass eine Frau ihr bei der Erfüllung ihrer Aufgabe helfen würde. Und diese Frau sollte ich sein! Ich muss gestehen, dass ich nicht in Erfahrung bringen konnte, worum es bei der Aufgabe geht, aber Neferut versprach mir, dass ich und meine Begleiter nicht zu Schaden kommen würden. Kann man einer Verstorbenen trauen? Ich beschloss, dieses Wagnis einzugehen. Als erstes mussten wir die Prinzessin unbemerkt aus dem Grab schmuggeln. Da ich vermutete, dass die Männer sich bald wieder sammeln und zurückkehren würden, musste eine Verkleidung her. Wir hatten nicht viel Möglichkeiten, also zog ich meine Unterröcke aus und versuchte, Neferut darin einzukleiden. Es gelang mehr schlecht als recht, da sie um einiges kleiner war als ich, aber nachdem ich ihr meinen Hut aufsetzte, konnte sie zumindest in dem flackernden Licht als Weibsperson durchgehen. So schlichen wir zum Ausgang und beobachteten das Treiben. Alle liefen sehr aufgeregt durcheinander, es sah so aus, als wollten viele der Arbeiter die Grabungsstätte verlassen. Es gab nur zwei Wachen am Ausgang, niemand sonst beachtete ihn. Es war wohl die beste Gelegenheit. Neferut übergab mir ihr Amulett, und ich musste ihr Versprechen, auf ihre Rückkehr zu warten. Dann verabschiedeten wir uns voneinander. Es war ein sehr merkwürdiger Augenblick. Anschließend folgte mein großer Auftritt, ich sollte die Wachen ablenken. Und ich gab wirklich mein Bestes. Ich stolperte ihnen entgegen, wirres Zeug brabbelnd und zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich. Die Wachen ergriffen meine Arme und führten mich fort. Doch nach ein paar Schritten erstarrten sie wieder. Die Geräusche im Lager verklangen nach und nach und erst dachte ich, es wäre meinetwegen, aber dann fiel mir auf, dass alle an uns vorbeisahen. Mir schwante nichts Gutes und als ich mich umsah, erkannte ich Neferut, die ebenfalls wie versteinert dastand. Zuerst glaubte ich an einen Zauber, aber dann war ich mir sicher, es war nur ein Erschrecken beiderseits. Ich spürte die Blicke der Männer zwischen uns hin und her wandern. Sie verstanden nicht, warum die Mumie in meinen Kleidern auftauchte. Ich nutzte die Situation, riss mich von den Wächtern los und eilte zu Neferut.

„Komm, du musst fort“, rief ich ihr zu, aber sie reagierte nicht. Also ergriff ich ihre Hand und zog sie mit mir. Ich fühlte ihre Verwirrung und versuchte, ihr zu erklären, dass sich in tausenden Jahren die Welt verändert hatte. Aber ohne das Amulett verstand sie mich nicht. Noch schlimmer wurde es, als wir bei den Kamelen ankamen. Ich wollte ihr begreiflich machen, dass sie auf einem der Tiere fliehen sollte. Aber sie weigerte sich. Eine Prinzessin würde nicht auf einem Kamel sitzen. Kannst du dir das vorstellen? Ich wurde richtig wütend, wie kann man in so einer gefährlichen Situation nur so stur sein? Ich habe vor Wut mit dem Fuß gestampft, aber auch das hat sie nicht beeindruckt. Erst als sich bewaffnete Männer näherten, ließ sie sich umstimmen. Ich hievte sie also auf eines dieser Höckertiere und wollte ihm einen aufmunternden Klatsch geben, da griff Neferut nach meiner Hand. Sie wollte nicht ohne mich gehen. Wieder spürte ich ihre Angst vor dieser Welt und wie sehr sie mich brauchte. Ich wollte natürlich nicht mit ihr fliehen, aber als ich die Männer mit ihren Gewehren sah, fühlte ich mich so verantwortlich für die Arme, dass ich tatsächlich auf das Kamel stieg. Während das Tier loslief, hörte ich jemand meinen Namen rufen. Noch einmal drehte ich mich um und sah meinen Gatten, wie er hinter uns herlief. Ich rief ihm zu, dass ich zurückkommen würde und sah ihn dann langsam im Hitzeflimmern verschwinden.

Liebe Cousine, wie konnte ich nur so töricht sein. Jetzt sitze ich hier des nachts in einer Oase, mitten in der Wüste, mit einer Mumie und warte auf das Unbekannte. Es ist mir bange. Aber wenn ich zum Mond hinaufsehe, und weiß, dass du dort in England den gleichen siehst, dann fühle ich mich nicht mehr so allein. Es wird bestimmt alles gut. Es muss einfach. Denn dieser Brief muss dich doch erreichen. 

 

Deine 

  1.  

 

V2/ 9983