Von Nicole Leidolph

Ich befand mich in einer ungewöhnlichen Situation. Seit einer halben Ewigkeit saß ich auf einem unbequemen Plastikstuhl. Die Stühle waren wohl einst orange, jetzt hatten sie einen verblichenen Ton. Ich wusste nicht, wie ich hergekommen war. Oder wo ich war. Und vor allem, wieso ich hier wartete. Seltsam, nicht wahr? Bei jeder Bewegung bildete ich mir ein, ein schmatzendes Geräusch mit dem Hintern zu verursachen. Der Stuhl und ich waren miteinander verschmolzen. Ja, ich schwitzte. Müde fächelte ich mir mit der Hand Luft zu. Die Klimaanlage war bestimmt ausgefallen. Ich blickte zum wiederholten Mal auf den kümmerlichen Zettel in meiner Hand, der sich mittlerweile an den Rändern wellte. Ich konnte mich nicht erinnern, woher ich ihn hatte. 23 stand dort. 42 prangte leuchtend rot auf der Anzeigetafel. Moment. Hatte da nicht eben 13 gestanden? Ich stöhnte auf und wischte mir über die schweißnasse Stirn. Wie konnte das überhaupt sein? Ich saß einsam und allein hier! Vergeblich hatte ich an jede Tür geklopft. Wahrscheinlich machten alle Pause. Ist doch immer so. Mein Hals fühlte sich an wie ausgedörrt, die Zunge klebte am Gaumen. Ich schluckte mühsam. Womöglich würde ich auf diesem verdammten Stuhl verdursten.

Und dann, als ich nicht mehr daran geglaubt hatte: Klick. 23. Eine der Türen öffnete sich und eine dezente Brise feuchtheißer Luft wehte mir entgegen. Wie in einer Sauna, dachte ich und schälte mich aus meinem Stuhl. Mit dem sicheren Gefühl, einen deutlichen Schweißabdruck an der Hose zu haben, betrat ich das Büro. Kaum zu glauben. Hier war es noch wärmer. Klar, das Fenster war ja auch geschlossen. Der Ausblick offenbarte die trostlose Aussicht auf ein Industriegebiet, in der Ferne rauchende Schornsteine. Wo zum Teufel war ich?

„Frau Annalena Kluntje?“, schnarrte eine Stimme und ließ mich zusammenzucken. Hinter dem Schreibtisch, halb verdeckt von Ordnerstapeln und dicken Büchern, saß ein verhutzelter, alter Mann, der aussah, als wäre die Rente längst überfällig. Er würdigte mich keines Blickes, sondern griff mit einer Hand nach einem der Ordner und steckte sich mit der anderen einen Zigarillo an. Sofort war die Luft erfüllt von einem süßlichen Geruch. 

„Hören Sie schlecht?“

„Nein, nein, ich … nein.“ Ich verhaspelte mich und räusperte mich. „Ich bin Annalena Kluntje.“ Ich räusperte mich erneut, um das brennende Gefühl in der Kehle zu vertreiben. Meine Stimme klang wie morgens nach dem Aufstehen. 

„Näher kommen und deutlicher sprechen. Verstehe kein Wort.“

Ich wiederholte laut: „Ich bin Annalena Kluntje.“

Er kritzelte irgendetwas. Zumindest vermutete ich das, denn er senkte kurz den Blick. Den Rest von ihm konnte ich nicht erkennen, der Ordnerberg war zu gewaltig. „Nummer her.“

„Was?“

Er wedelte unwirsch. „Zettel in der Hand. Mit der Nummer. Hergeben.“

Ich gehorchte unverzüglich und beschloss, mich im Nachgang über ihn zu beschweren. Ja, er war alt, machte den Job wahrscheinlich schon lange und war anscheinend verbittert, aber so konnte man doch mit niemandem umgehen!

Er kritzelte erneut etwas, dann sagte er: „Eingeschult erst mit sieben Jahren.“

„Äh, ja,“ Ich wischte mir über die Stirn. „Das liegt an meinem Geburtsmonat. Ich war ein ‚Kann-Kind‘.“

„Hmhm.“

Ich verdrängte das Gefühl, in jungen Jahren eine Versagerin gewesen zu sein. Ich ließ mich doch nicht von jedem x-beliebigen Sachbearbeiter degradieren. Wieso wollte er das überhaupt wissen?

„Das Gymnasium in der achten Klasse verlassen. Schulverweis.“

Meine Wangen wurden wärmer. Halb vor Scham, halb wegen der Hitze. „Das war eigentlich ganz anders.“

Er sah auf. „Aufgrund einer Schlägerei.“

Die Schweißperlen auf meiner Stirn vermehrten sich. „Wieso fragen Sie mich das? Was für einen Ordner haben Sie da?“

„Vom Gymnasium auf die Hauptschule.“ Seine Augenbrauen wanderten in die Höhe und hingen dadurch kurz im schütteren Haaransatz. „Dann durch ‚gute Noten‘“ – seine Finger zeichneten Gänsefüßchen in die Luft – „auf die Gesamtschule. In Wahrheit durch Betrug.“

„Äh, was?“ Ich ignorierte das Schwindelgefühl. „Woher wissen Sie …“ Ich verstummte. Unmöglich. Ja, mein Vater hatte einige Leute bestochen. Wozu war man schließlich reich? Aber das wusste niemand außer uns beiden. Und er hatte dieses Wissen vor zwei Monaten mit ins Grab genommen.

„Steht hier.“ Der Mann sah nicht einmal auf, sondern benetzte mit der Zunge den Zeigefinger und blätterte um. Ich kann das nicht leiden. Im Grunde sabbert man das Blatt Papier an. Dann fiel mir etwas auf. Seine Zunge war blau, wie die eines Chow-Chows. Wieso hatte er eine blaue Zunge? Es sah ungesund aus. Vielleicht eine Zyanose? Ob es ihm gut ging? Jedenfalls schien er weniger zu schwitzen als ich. Mir rann der Schweiß mittlerweile die Wirbelsäule hinab, die Müdigkeit nahm im selben Maß zu. Ich wischte mir über die Stirn. Nass auf nass. Als ich die Hand wieder sinken ließ, tropfte es von meinen Fingerspitzen. Die Tropfen fielen zu Boden, direkt in eine Pfütze. Moment, hatte ich wirklich so viel geschwitzt? Löste ich mich jetzt auf? Vor meinen Augen flimmerte die Luft, als ich testweise einen Fuß in die vermeintliche Pfütze schob. Er blieb trocken. Entweder ich halluzinierte oder es handelte sich um eine Art Fata Morgana. Verrückt. Und irgendwie wurde es immer heißer, die Luft stickiger, der Sauerstoff weniger. Dem kleinen Mann schien das nach wie vor nichts auszumachen. Mich hingegen lähmte es. Ich unterdrückte mit Mühe ein Gähnen.

„Kommen wir zum relevanten Teil.“ Er warf mir einen Blick zu. Das Weiße in seinen Augen hatte einen gelblichen Ton. Er litt bestimmt an irgendeiner Krankheit. Deshalb war er so verbittert. Als er erneut umblätterte, konnte ich einen Moment seine Fingernägel sehen. Gräulich, krank, brüchig, irgendwie zu lang für einen Mann wie ihn. Ekel krabbelte wie eine Spinne meine Arme entlang, umschlang meinen Hals und legte sich schlingenartig darum.

„Aha“, riss er mich aus meinen Gedanken. „Da haben wir’s. Den Grund.“

„Den was?“ Meine Stimme klang so brüchig wie seine Fingernägel. Ich räusperte mich, doch es half nicht. In meinem Hals kratzte es dadurch noch mehr. „Haben Sie …“ – Husten –  „ … vielleicht etwas Wasser?“ Erneuter Husten.

„Nein.“ Er sah mich nicht einmal an, erhob plötzlich ein Glas Wasser, das bis dahin im Verborgenen gestanden hatte, und nahm einen großen Schluck. Mit einem geräuschvollen „Aaaahhh“ stellte er es auf einem Aktenstapel ab, so dass ich es problemlos sehen konnte.

„Na, der Grund, aus dem Sie hier sind. Was denn sonst.“ Er sah mich missbilligend an. „Keine Idee, was das sein könnte?“

Ich schüttelte den Kopf und krächzte: „Was wollen Sie von mir? Ich weiß nicht mal, wo ich bin und wie lange schon.“

„Drei Tage, fünf Stunden und exakt 27 Minuten.“

„Was?“ Mein Krächzen klang ungläubig. „Ich habe drei Tage auf dem Flur da draußen gesessen?“

„Drei Tage, fünf Stunden und 27 Minuten nach Ihrer Zeitrechnung. Jetzt 28 Minuten.“

„Nach meiner …“, begann ich und wurde unterbrochen.

„Hier vergeht das, was Sie Zeit nennen, anders. Merken Sie noch.“

Ich nickte lethargisch. Vor meinen Augen flimmerte es erneut. Der kleine Mann schien zu verschwimmen, kurz zu wachsen und wieder zu schrumpfen. Seine Hautfarbe wechselte von gräulich zu einem schmierigen Grün. Ich blinzelte. Meine Augen brannten, als die Augenbrauen den Schweiß von meiner Stirn nicht mehr aufhalten konnten. Ich ekelte mich langsam vor mir selbst. Immerhin konnte ich ihn wieder erkennen. Zwar wie durch einen Nebel, aber nicht mehr so verschwommen.

„Und der Grund, aus dem ich hier bin …“ Meine Gedanken wurden zunehmend träger. Ich unterdrückte wieder ein Gähnen.

„Mord.“

Ich sah ihn an. Stumm und still. Nein. Absolut unmöglich.

„29. Januar, 16:25 Uhr. Wohnzimmer in der Villa Ihres Vaters. Küchenmesser, frisch geschärft. Stoß in den Rücken.“

Ich starrte ihn weiterhin an. Mein Kopf war leer. Es war ausgeschlossen, dass irgendwer davon wusste. Es hatte keine Zeugen gegeben. Es hatte keine Spuren gegeben. Ich hatte genug gezahlt. Der Kripo, dem Gerichtsmediziner, dem Gericht. Allen. Nicht einer hatte geredet, da konnte ich sicher sein.

„Ich war es nicht“, platzte es aus mir heraus. „Das war mein …“

„Bruder“, vollendete er den Satz. „Ich notiere: ‚Verrat am Bruder‘.“

Ich richtete mich etwas auf, jetzt wacher. Was ging hier eigentlich vor sich? „Wo notieren Sie das? Und wieso?“

Er wirkte genervt. „Im Protokoll.“

„Protokoll?“

„Ihr Protokoll.“ Der Tonfall ließ keine Fragen mehr zu.

„Mein Vater war ein Psychopath“, sagte ich kläglich, als würde das meine Schuld mindern. 

„Das ist bekannt.“

„Oh. Okay.“ Ich schwieg und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Mittlerweile zweifelte ich an der Echtheit meiner gegenwärtigen Situation. Wahrscheinlich befand ich mich in einem Traum. 

Dieser Verdacht erhärtete sich, als die Tür aufschwang und ein entzückendes Mädchen hereinkam. Ihr folgte ein Schwall heiße Schwüle. „Kann ich sie mitnehmen?“, fragte sie mit unerwartet tiefer Stimme. Sie klang wie ein alter Mann. Die Absurdität dieser Tatsache fiel mir kaum noch auf. Die Hitze war betäubend.

Das Männlein hinterm Schreibtisch nickte und wedelte mit der Hand, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich folgte dem Mädchen, froh, das Büro zu verlassen. Auf dem Flur war es heiß wie geschmolzener Stahl. Ihre Haare wippten bei jedem Schritt, zerschnitten dabei die Luft.

„Wohin gehen wir?“, fragte ich.

„In den Wartebereich“, antwortete sie. „Deine Verhandlung. Du weißt.“

„Nein, ich weiß nicht. Meine Verhandlung?“ Ich blieb stehen. „Was wird verhandelt?“

Das Mädchen blieb ebenfalls stehen. „Wie lange du bei uns bleibst.“

Ich hob hilflos die Arme. „Aber wo bin ich denn überhaupt?“

„Hmhm.“ Sie überlegte einen Moment. „Welcher Religion gehörst du an?“

„Religion?“ Ich schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich bin katholisch.“

„Alles klar.“ Sie lächelte. „Komisch, dass du das dann noch nicht gemerkt hast.“ Sie griff in die Leere vor sich und hielt auf einmal die Klinke einer rot glühenden Stahltür in der Hand, die sie mit einem Ruck öffnete. Dahinter lag ein weiterer langer Flur mit Plastikstühlen. „Willkommen in der Hölle.“

 

Version 1, 10.000 Zeichen