Von Daniela Seitz

Ein Dorf nahe der Steinbachtalsperre. Ein vollgelaufener Keller eines Hauses. Ein kleiner Bach, der eine Straße weiter entlang des Hauses verläuft. Eine Rückstauklappe, die verhindert hat, dass der Keller schon am Nachmittag vollief und dem Ehepaar somit ein paar Stunden Zeit verschafft hat, als sie Abends doch feststellen, dass sie die Pumpe anwerfen müssen. Eine kaputte Pumpe.

 

„Schatz, dass ist wohl der Zeitpunkt, an der wir die Feuerwehr zu Hilfe rufen sollten“, sage ich zu meinem Mann.

 

Plötzlich ist der Strom weg. Für drei Sekunden stehen wir im Dunkeln. Da geht der Strom wieder an. Mein Mann kommt telefonisch nicht zur Feuerwehr durch. Also öffnet er die Haustür auf der Suche nach Netz.

 

Braune Wassermassen überfluten die Straße. Tief genug, dass der Nachbar mit dem SUV noch durch die Straße fahren kann. Er hält an und kurbelt das Fenster herunter.

 

„Habt ihr noch nicht mitbekommen, dass wir evakuiert werden? Der Strom wurde abgestellt!“, informiert uns der Nachbar.

 

„Ach so…nun wir haben ja die Solaranlage und speichern den Strom in einer Batterie…“

 

„Der Strom ist nicht das Problem. Die Burgmauer des Weyers ist gebrochen und hat unser Bachrinnsal in einen reißenden Strom verwandelt. Treffpunkt für die Evakuierung ist der Parkplatz beim Norma Supermarkt. Wir fahren jetzt aber direkt zu Verwandten!“, unterbricht der Nachbar und fährt gehetzt weiter.

 

Zwei blauäugige Menschen, die beide keine Ahnung haben, was das Wort Evakuierung für Konsequenzen nach sich zieht, sehen sich an. Suchen nach wasserfester Kleidung und den Gummistiefeln, die sie nur wegen einer Wattwanderung für den Urlaub gekauft haben.

 

Man ist ja bald wieder da. So bald, dass man kein Akkuladegerät für die Handys braucht. Und im Norma sind ja Lebensmittel vorhanden. Also ist auch etwas zum Essen/Trinken für unterwegs überflüssig.

 

Geldbeutel mit Papieren, Handys, Schlüssel, ein MP3 Player mit Meditationen statt Musik, Mutterpass, der Impfpass und Coronamasken sind die Dinge, die entweder zufällig sowieso in der Handtasche der Frau lagern oder die bewusst eingepackt werden. Dann verlassen Sie das Haus.

 

Als ich durch die Wasserstraße wate, ergießt sich ein Schwall Wasser in meine Stiefel, die nur bis zu den Waden reichen. An der Kreuzung wird es weniger. Es scheint, dass eine Straße weiter festes Schuhwerk ausgereicht hätte, um keine nassen Füße zu bekommen. Ich bin nun durchnässt, weil unsere Straße genau beim Bach liegt, der das Wasser leitet. Zwei Feuerwehrmänner sprechen mit einem Anwohner, als wir vorbeigehen und Satzfetzen aufschnappen:

 

„Das Wasser hier in den Straßen ist unser kleinstes Problem“

 

Wir halten inne, um mitzuhören, was denn nun die eigentliche Ursache für die Aufregung ist. Etwas entnervt und trotzdem noch freundlich, scheucht uns der Feuerwehrmann Richtung Evakuierungstreffpunkt.

 

Dort angekommen steht eine Menschengruppe versammelt unter dem Vordach des Normas um nicht noch nasser zu werden. Denn der Regen hat nicht aufgehört. Wir gehen in ihre Richtung als ein sehr gestresster Einsatzleiter die Menschengruppe anbrüllt:

 

„Ich dulde keine Widerrede. Alle steigen jetzt in die zwei Busse ein! Sofort!“

 

Die zwei Busse sind noch leer und stehen zwischen der Menschenmenge und uns. Kaum angekommen, erobern mein Mann und ich daher als eine der Ersten die wartenden Busse.

Wir stellen die Anweisung nicht in Frage.

 

Ich bin ganz ruhig. Mein Mann ist bei mir. Wir sitzen im trockenen Bus.

 

Wie ruhig ich bin, wird mir bewusst, als eine Gruppe von fünf Kindern mit einer Erwachsenen ebenfalls in den Bus steigt. Der Älteste der Kinder, etwa 14 oder 15 Jahre alt, schluchzt vollkommen aufgelöst seine ganze Angst aus sich heraus. Er will nicht mit dem Bus mitfahren.

 

„Nein du bleibst bei uns! Wir bleiben alle zusammen. Entweder verlassen wir gemeinsam den Bus oder alle bleiben. Und wir bleiben jetzt hier“, gebietet die Frau dem Jungen.

 

„Aber… was ist… mit …meiner Mutter?“, weint er, von völlig aufgelösten Schluchzern unterbrochen.

 

Mir wird bewusst, dass der Junge nicht zu den anderen zu gehören scheint. Vielleicht bei seinen Freunden war, als klar wurde, dass man das Dorf evakuieren muss. Und nun von seiner Familie getrennt ist, ohne zu wissen, was mit ihnen ist.

 

„Da schau“, ruft eines der anderen Kinder „ist das da, nicht deine Mutter?“

 

Die Frau dreht sich um. Schaut in die Richtung in die ihr Kind zeigt.

 

„Das ist deine Mutter! Los, alle wieder raus aus dem Bus!“, ruft sie und scheucht die Gruppe wieder hinaus in den Regen, der Mutter entgegen.

 

Mein Mann dreht sich zu mir.

 

„Bin ich froh, dass Zwerg Nase in deinem Bauch nicht verloren gehen kann!“

 

Die Busse steuern eine Sportanlage eines benachbarten Dorfes an, doch der Sportplatz ist bereits ebenfalls abgesoffen. Plötzlich warnt die App Nina meinen Mann viel zu spät, als das Handy wieder Netz findet.

 

Ein Berufskolleg in der nächsten Stadt wird angefahren und scheint nun zum Evakuierungsort zu werden. Ein Provisorium, da noch nichts außer der Anmeldung organisiert ist. Immerhin bietet die Schule Toiletten und einen Sitzplatz ohne Tische in einem riesigen „Amphitheatersaal“ mit einem Beamer. Die Menschen sitzen eine Weile mit ihren Coronamasken herum. Dann wird es zu viel und viele nehmen die Coronamaske ab. Weitere Busse liefern andere Evakuierte aus drei weiteren Dörfern ab.

 

Zwei evakuierte Hunde keifen sich an und werden von den Besitzern auseinander gebracht.

Auch wenn die meisten Menschen „ruhig“ sind, weil sie Netz und Akku haben und noch Angehörige, Freunde und Kollegen informieren können, die ihre Emotionen zu regulieren verstehen. Diese zwei sich anbellenden Hunde zeigen deutlich wie erhitzt alle Gemüter sind.

 

„Wir müssen Sie erneut evakuieren! Hinter der Schule ist ein Bach und auch das Berufskolleg

wird bald unter Wasser stehen!“, setzt der Einsatzleiter uns erneut in Bewegung.

 

Nun beginnt das Warten auf Rettungswagen, die nur Platz für sechs Menschen auf einmal bieten. Sie sind das einzige, was sich aus der Überraschung heraus in diesem Durcheinander organisieren lässt, während die Busse anderswo im Einsatz sind.

 

Der Regen hat aufgehört und wir stehen nachts um ein Uhr an einer Bushaltestelle herum. Nahe bei den Einsatzleitern fange ich wieder Gesprächsfetzen auf:

 

„Die Leute müssen hier dringend weg! Das Wasser kommt!“

 

Eine alte Frau wendet sich an einen Rettungshelfer:

 

„Wir stehen hier draußen nachts herum und es geht nicht weiter. Das ist doch eine Unverschämtheit!“

 

Sie scheint zu denken, dass die Rettungshelfer uns alle rausgejagt haben, um früher Feierabend machen zu können. Daher klärt mein Mann sie erneut über den Bach und die drohende Überflutung der Schule auf. Ich füge hinzu:

 

„Wir können von Glück sagen, wenn wir in ein oder zwei Tagen wieder zurück in unsere Häuser können!“

 

Gerade werden die ersten sechs Menschen erneut evakuiert. Eine andere Schwangere ist dabei. Mein Mann möchte ebenfalls in den ersten Wagen mit rein. Doch wir standen nicht nahe genug, also sage ich ihm:

 

„Lass, wir fahren mit dem Zweiten Wagen“

 

Mittlerweile wurde auch der Strom in der Stadt abgestellt. Als der zweite Wagen kommt, sage ich dem Einsatzhelfer, dass ich schwanger bin, wie ich es beim ersten Wagen und der anderen Schwangeren gesehen habe. Sofort werden mein Mann und ich in den zweiten Wagen mit Blaulicht und Sirene durch die dunkle Stadt und über eine Autobahn in eine andere Stadt gefahren.

 

In einer Turnhalle angekommen, ist das ganze schon organisierter. Sitzplätze mit Tischen. Getränke zum Selbst bedienen und eine warme Suppe mit Brötchen wartet auf uns. Eigentlich sind wir früh genug, um uns eine Turnmatte als Schlafplatz zu sichern. Doch wir unterschätzen erneut die Situation und verbringen die erste Nacht Karten spielend sitzend am Tisch.

 

Doch auch diese Stadt muss den Strom abstellen. Die Turnhalle läuft auf Notaggregat, weitere Lebensmittel wie Obst werden herangeschafft. Doch was nun genau das Problem ist kann immer noch keiner sagen, da die Rettungskräfte keine beständige Funkverbindung haben und teilweise selbst ohne Informationen da stehen.

 

Gerüchte, dass die Steinbachtalsperre gesprengt werden muss, weil das Abflussventil nicht funktioniert machen die Runde. Sofort habe ich Bilder von einem weggeschwemmten Haus vor Augen. Egal ob die Talsperre bricht oder ob sie „kontrolliert“ gesprengt wird, unser Haus ist weg, wenn der Damm nicht hält.

 

Meinem Mann nimmt mir alles ab. Schafft es irgendwie, meinen Eltern Bescheid zu geben, wo wir sind. Ich konzentriere mich auf die Meditationen und Atemübungen. Eine Frühgeburt in dieser Turnhalle ist so ungefähr das Letzte was ich gebrauchen kann.

 

Eineinhalb Tage und wir haben keine Informationen, keinen Strom, kein Netz und keinen richtigen Schlaf. Ich stelle mich auf weitere drei Tage in dieser Turnhalle ein, da das Gerücht umgeht, dass die zuletzt Evakuierten gesagt bekommen haben sollen, sie sollen Sachen für zwei Tage einpacken.

 

„Boaaah, ich habe keinen Bock mehr!“, jammert mein Mann.

 

Da sieht er meinen Vater! Er hat für 20 km sechs Stunden gebraucht, weil es tatsächlich kein Durchkommen gab. Doch irgendwie haben er und meine Mutter es geschafft.

 

Wir melden uns ab und kommen nun bei meinen Eltern unter.

 

Endlich Zugang zu Nachrichten, einer Dusche, Ruhe und richtigen Betten. Anfangs ist die Steinbachtalsperre noch in allen Nachrichten. Als Sie langsam aus den Nachrichten verschwindet sagt ein Reporter einen Nebensatz zu ihr:

 

„Der Damm wird halten!“

 

Ein Restrisiko bleibt. Der Reporter ist noch zu voreilig. Denn noch kann nicht entwarnt werden. Noch kann unser Haus immer noch weggeschwemmt werden.

 

Auch die Hitze der Gemüter bleibt. Wird sogar noch zunehmen, sobald Versicherungen nach eingebauten Rückstauklappen und einer Elementarversicherung fragen werden. Den Leuten mit einer Elementarversicherung das Kleingedruckte präsentieren und erklären werden, dass trotz der Elementarversicherung keine Absicherung gegen Hochwasser enthalten ist.

 

Der Sommer 2021. Keine Hitze im eigentlichen Sinne. Und doch im Westen und Südwesten gemütserhitzender, als andere Sommer.

 

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