Von Eva Fischer

Was packe ich in den Koffer? Elegant oder sportlich? Für heiße oder kühle Tage? Am Meer jagen die Wolken meist über den Horizont. Beim Wetter ist kein Verlass auf Beständigkeit, wie im Leben auch nicht. Ich betrachte die Spuren, die die Zeit in meinem Gesicht hinterlassen hat. Meine kastanienbraunen Haare muss ich bald wieder färben lassen. Vom Ansatz her lässt sich das Grau momentan nicht leugnen.

Wie lange habe ich Betje nicht gesehen? Das muss auch schon wieder zwanzig Jahre her sein. Früher hieß sie noch Brunhild. Sie hat ihren Namen geändert. Hilft ein neuer Namen, die Vergangenheit ungeschehen zu machen? Heilt er Narben?

Ihr Vater, mein Onkel, ein Tyrann, der die Familie schikaniert hat. Die Familienmitglieder hatten zu parieren wie dressierte Hunde. Zuckerbrot und Peitsche. Selbstachtung wurde niedergeknüppelt. Strafe bestand in erster Linie aus Demütigung, die schlimmer war als die Schläge.

„Bursche, auf die Knie! Zehn Liegestütze!“ Ich habe die Worte noch im Ohr, sehe das Kopfschütteln meiner Mutter vor mir, während ich mich schäme, nicht weiß, wo ich hinschauen soll. Auf keinen Fall möchte ich dem komplizenhaften Grinsen meines Onkels begegnen.

Siggi oder Siegfried, wie ihn sein Vater nannte, wollte so früh wie möglich weg. Nach dem Abitur musste er zum Bund. Es gelang ihm nicht, den Wehrdienst zu verweigern. Danach kehrte er nie mehr nach Hause zurück, solange sein Vater da war. Er war der Held, der dem Tyrannen die Stirn bot. Doch das machte die Situation für die Zurückgebliebenen nicht besser. Die Wut des Vaters richtete sich doppelt gegen seine Frau und seine Tochter. Er argwöhnte zu Recht, dass man sich hinter seinem Rücken mit dem Verräter traf. 

Dann traf ihn der Schlag. Kein Arzt war zur Stelle, um ihn wieder ins Leben zurückzurufen. Die Witwe trug nicht Trauer, sondern feierte ihre neu gewonnene Freiheit. Die Tochter, die schon lange ausgezogen war, besuchte ihre Mutter und umarmte sie. Beide hatten Freudentränen in ihren Augen. Kurz danach ging die Tochter zum Standesamt, um einen neuen Vornamen eintragen zu lassen. Betje, so wie ihre Mutter. Mein Onkel hatte sie nie so genannt. Auch ich las den Namen zum ersten Mal in der Todesanzeige meiner Tante.

 

Das Navi bringt mich zu der mir unbekannten Adresse in Holland, unweit des Meeres. Als sie die Türe öffnet, denke ich, meine verstorbene, holländische Tante steht vor mir. Betje ist groß, schlank, blond. Sie wirkt stark und selbstbewusst. Eigentlich hat der Name Brunhild gepasst, aber wer will schon Walküre sein, Nazi-Wagner-Töne zum Klingen bringen? Betje hört sich da unbelasteter und fröhlicher an. Ihre Grübchen unterstreichen ihr Koboldlächeln. „Immer rein in die gute Stube, liebe Cousine!“ Zwei weiße, große Windhunde schauen mich misstrauisch an. „Ihr beiden Hübschen geht erst mal ins Körbchen! Die Schnupperstunde verschieben wir auf später.“ Sie gehorchen aufs Wort.

„Komm lass dich umarmen! Hast dich gar nicht verändert.“

Ich weiß nicht, ob das ein Witz sein soll. Schon bricht sie in ein tiefes Lachen aus. 

„Ja, wir werden alle alt. Da kannst du nichts machen.“

 

Stunden später laufen wir mit nackten Füßen über den Strand, schauen auf die rollende Gischt des Meeres. Ich atme die jodhaltige Luft ein, die wie eine Welle der Euphorie in mich eindringt, fahre mit der Zunge über den Salzgeschmack auf meinen Lippen. Der Wind peitscht mir die Haare ins Gesicht. Ich schaue Betje an. Sie trägt ein schützendes Stirnband. 

„Kannst du dir hier auch kaufen“, sagt sie, als ob sie Gedanken lesen könnte.

Wir reden nicht viel, wollen nicht gegen das Meerestosen anschreien müssen. Die Hunde tollen über den Strand und auch die Erinnerungen wirbeln durch meinen Kopf. 

 

Vor genau 60 Jahren war ich mit ihrem Bruder hier. Er war meine erste Liebe. Da war ich gerade mal zehn!!

Während der langen Autofahrt erzählte er mir auf der Rückbank des VW Käfers Witze. Mein Vater musste anhalten, denn wir mussten beide kotzen. Wenig später amüsierten wir uns schon wieder und ignorierten unsere empfindlichen Mägen.

„Komm, wir erkunden mal, was es hier so alles gibt!“ Er nahm mich an die Hand und gemeinsam liefen wir mit nackten Füßen durch die Dünen zum Meer, spürten das Salzwasser an unseren Füßen, spritzen uns gegenseitig voll. Die Sonne brannte uns ins Gesicht, brachte unsere Sommersprossen zur Explosion. Wir hätten Geschwister sein können! Ein großer Bruder, der mich mitnimmt ins Abenteuerland, war schon immer mein Traum.

Dann warf er mich in den Sand und wir kämpften. Auch wenn ich nicht aufgeklärt und vollkommen jungfräulich war, gehören diese Momente in der Erinnerung mit zu den erotischsten meines Lebens. Immer wieder spielten wir das Spiel des Stärkeren, berührten unsere Hände und Beine. Seine grünen Augen versanken in meine. Liebevoll streichelte er mein Gesicht und meine Lippen mit einem Grashalm und ich spürte das erste Mal in meinem Leben die Röte in meinem Gesicht hochsteigen. 

Leider lernte ich auch die Eifersucht kennen, als er mit einem holländischen Meisje anbändelte, und ich durchlitt die Qualen des Liebeskummers. Von meinen Eltern wurde ich belächelt. Sie ist so jung. Wie süß! Sie hat das Leben noch vor sich!

The first cut is the deepest. So war auch dieser Schmerz heftiger als alles, was noch folgte. Vierzehn Tage meines Lebens! So kurz wie ein Vogelschiss und dennoch bleibt die Erinnerung in mir frisch wie in einer Tiefkühltruhe. Wo bist du jetzt, Siggi, du Held meiner Kindheit? 

 

Abends öffnen Betje und ich eine Flasche Weißwein. Obwohl sie blond ist, hat ihre Haut einen frischen Braunton angenommen, während meine rot glüht, woran der Alkohol nicht ganz unschuldig ist.

Auch Betje liebt ihren Bruder. Es ist nicht schwer, das Gespräch auf ihn zu bringen. Und dann erzählt sie:

„Ein Leben lang hat er versucht, das Phantom ‚Vater‘ hinter sich zu lassen, hat alles getan, um nur nicht an das gemeinsame Blut in ihren Adern erinnert zu werden. Er ist viel gereist. Wo es am gefährlichsten war, hat es ihm besonders gut gefallen. Er ging in die Partei, die unter Hitler verfolgt wurde, zu den Linken, demonstrierte gegen den Vietnamkrieg, fuhr per Anhalter nach Berlin, um an den Friedensmärschen teilzunehmen, wurde auch Lehrer, ein besserer als sein Vater, so hoffte er. Einer, der die Kids zu kritischen, selbstständig denkenden, freien Staatsbürgern erzieht und sie nicht wie auf einem Kasernenhof drillt. Aber es gab auch Schattenseiten in seinem Leben.“

Ich weiß nicht, was mich mehr irritiert. Das Vergangenheitstempus oder „die Schattenseiten“?

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Meine Cousine legt ihre Hand auf meine. 

„Vor vier Wochen ist Siggi gestorben. Ich wollte dir das nicht schreiben, sondern ich finde es besser, wenn wir uns gemeinsam von ihm verabschieden.“

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.

„Siggi ist tot?“ Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. 

„Er hatte Krebs. War nur noch Haut und Knochen. Am Ende wollte er nicht mehr.“

Auch meine tapfere Cousine kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wir halten uns gegenseitig in den Armen.

„Er fehlt mir sehr, weißt du.“ Ich nicke. Sie hatte bis zum Schluss Kontakt zu ihrem Bruder. Ich habe ihn seit 45 Jahren nicht mehr gesehen. Damals hat er mir zu meiner Hochzeit, zu der er trotz Einladung nicht kam, eine Leiter geschenkt, zum Abseilen, wie er meinte. Ich fand das damals deplatziert. Seither hörten wir nichts mehr voneinander. Sechshundert Kilometer machten uns das Schweigen leicht. Jeder lebte sein eigenes Leben und ich erfuhr Neuigkeiten nur über gemeinsame Verwandte. So wurde mir ein Zeitungsartikel geschickt, in dem anlässlich seiner Pensionierung sein politisches Engagement lobend hervorgehoben wurde. Geheiratet hat er nie, aber er hatte wohl zahlreiche Affären. 

„Siggi hat einen Sohn.“

Verwundert schaue ich meine Cousine an. 

„Er kommt morgen. Wir werden gemeinsam den letzten Willen meines Bruders befolgen. Er hat sich eine Seebestattung gewünscht, hier, ganz in der Nähe des Geburtsortes unserer Mutter. Leider hat sich Siggi nie um seinen Sohn gekümmert, aber ich habe Kontakt gehalten. Du wirst staunen, wie ähnlich er seinem Vater ist.“ 

 

Immer wieder sehe ich Siggi vor mir. Den Siggi, den ich kannte, den Abenteurer, aber auch den kranken, dahinsiechenden Mann. Seine Augen sind nach innen gewandt. Sein Blick ist leer. Zu spät! Betje hat mir gestern Fotos von ihm auf dem Handy gezeigt, auch von seinem Sohn. Er lebt. Irgendwann werden wir alle zu Asche verbrannt, doch ich kann den Gedanken nicht ertragen. Nicht jetzt! Nicht heute! Sterben ist das eine, aber in alle Winde verstreut zu werden das andere. Kein Ort, kein Grabstein. Nichts, was bleibt. Doch plötzlich begreife ich: Siggi hätte nie einen Pfaffen am Grab haben wollen. Sein Leben war unstet. Warum sollte es jetzt anders sein?     

Nach dem Schüttelfrost kommt das Fieber. Betje reicht mir ein Glas Wasser und gibt mir ein Handtuch, damit ich mir den Schweiß abwischen kann. Mein Gesicht, ja mein ganzer Körper brennen wie Feuer.

Tagsüber wärmt die Sonne sanft die Haut. Der Wind lässt die Hitze nicht spüren. Sie stellt sich erst ein, sobald die Sonne untergegangen ist. Ich mag es, wenn die glühende Wärme Besitz von meinem Körper ergreift.

 

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