Von Julia Kalchhauser

Die schwere Sommerluft steht in den Häuserschluchten. Unerbittlich strahlt die Sonne auf den Asphalt, der jeden Moment droht sich zu verflüssigen. In den Gehsteig-Gastgärten sitzen die ewig selben Gestalten bei der Droge ihrer Wahl und palavern über Tagesgeschehen im Grätzl und der großen weiten Welt. Sogar die begeisterungsfähigsten Promenadenmischungen sind während der Hundstage, derart schaumgebremst, dass sie potentielle Leckerli-Spender kaum wahrzunehmen scheinen. Der Bello, der mich sonst stürmisch begrüßt, hebt nicht mal den Kopf, die Zunge hängt schlapp aus dem Maul, und die Bauchdecke hebt und senkt sich in steten schnellen Stößen.
Vereinzelt hör‘ ich Vogelgezwitscher über mir. Schwalben, die in den frühen Abendstunden über die Dächer segeln. In der Ferne vernehme ich das Aufheulen eines Motorrads. Die sonstigen Verkehrsgeräusche sind weniger als sonst. Als ob selbst den Autos die Anstrengung der Zündung nicht zuzumuten wäre. Und dennoch: es sind mehr Parkplätze frei als sonst. Irgendwann mussten die Motoren wohl doch gezündet worden sein.

 

Als die Sonne langsam hinter dem dichten Häuserwald versinkt, scheinen die wenigen Stadtbewohner, die nicht auf‘s Land flüchten können oder wollen, zum Leben zu erwachen. Besteckgeklimper ist aus Küchen und von Balkonen zu hören, sowie der dumpfe Einheitsbrei aus Radios und Fernsehgeräten. Mehr Leute trauen sich auf die Straße. So auch der Halbstarke vom Gemeindebau vis-á-vis. Führt ein Schoßhündchen Gassi, während er in Boxershorts und Badelatschen den Gehsteig entlang schlurft, eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt und ohne Augen oder Hände vom Telefondisplay zu nehmen. Irgendwer muss die Candies schließlich crushen.

 

Der Laptop steht vor mir, ich starre auf das virtuelle leere Blatt und warte auf die Muse. Der Kühlschrank surrt angestrengt, die Kerze flackert trotz offenen Fenstern nicht, es ist vollkommen windstill. Der gelbe Schein der Fenster im Haus gegenüber erinnert, aus dem Augenwinkel betrachtet, an eine Kette kleiner Lampions. Die Sirene eines Einsatzfahrzeugs nähert sich, bis sie nach dem Lautstärkenhöhepunkt wieder abflaut und schließlich gar nicht mehr zu hören ist. Schon wieder jault ein Motor auf. Jemand möchte auffallen; schneller, lauter, beeindruckender sein. Armes Würstchen, denk ich mir. Das Ego im Autopilot.

 

Das Zirpen der Grillen versetzt mich schlagartig zurück nach Griechenland, wo ich vor etwa dreissig Jahren mit meinem Bruder an einem Fallschirm baumelnd von einem Motorboot gezogen wurde. Der erste Duft nach Freiheit, Salz und Motoröl. Während wir abends länger aufbleiben durften, saß mein Vater mit einem kühlen Mythos, einem Softpack Flirt Filter und einem Jerry Cotton Roman auf der Terrasse vorm Zimmer. Als wir langsam vor Erschöpfung in den Traumzustand hinüber glitten, war das Grillengezirpe das eindringlichste und zur selben Zeit vertrauteste und beruhigendste Geräusch, das es gab. Die Grillen zirpen und die Welt scheint in Ordnung. So ist das für mich heute noch.

 

Die Flasche seufzt erleichtert, als ich den Verschluss aufdrehe. Nach dem Eingießen lausche ich dem Prickeln der Perlen im Glas. Eine Zitronenhälfte liegt noch auf der Küchenplatte. Die muss nun dran glauben und der süßsaure Saft verhilft meinem Drink zu einem Upgrade. Nichts ist erfrischender als eiskaltes, prickelndes Wasser mit einem Schuss Zitrone, denk ich mir, während meine nackten Oberschenkel eine unangenehm klebrige Verbindung mit der Barhockersitzfläche eingehen. Für mehr als Unterwäsche ist es aber nunmal gute 10 Grad zu warm. Alle Fenster stehen offen und die Luft in der Wohnung tut es ihnen gleich: sie steht.

 

Die vielen Urlaube in Bad Ischl drängen sich in meine Erinnerung. Unzählige Fahrten zum Attersee. Wir kannten die Strecke in- und auswendig. Jede Abzweigung, die enge kurvige Straße, die sich zwischen Fluss und Berg durchschlängelt, und schließlich jedes Haus in dem Ort, in dem unser Stamm-Seebad war. Zwischen Ankunft und Abfahrt gab es nur wenige Momente, in denen mein Bruder und ich bei unserem Liegeplatz waren und dem, meist lesenden oder dösenden Vater, im Schatten des Baumes Gesellschaft auf den Badetüchern leisteten. Der Sprungturm, von dem man sich todesmutig aus gut vier Metern Höhe in den dritttiefsten See des Landes katapultieren konnte, war die unangefochtene Hauptattraktion für Kinder unseres Alters und älter. Wenn der Hunger kam, wurde der Vater um Geld angeschnorrt und es folgte die immergleiche Diskussion: dass wir doch Jause von zuhause mitgenommen hätten und demnach kein Bedarf an Pommes oder Pizzaschnitte vom Buffett bestünde. Na gut. Aber ein Eis durfte es dann doch sein. Schließlich waren Ferien, es war Sommer, und ein Twinni kostete nur sechs Schilling.

 

Immer noch starrt mich die weiße Seite vorwurfsvoll an. Einreichfrist ist in weniger als 24 Stunden. Das Wasserglas auf dem Tisch schwitzt mit mir um die Wette. Es ist schon wieder halbleer. Der Einfachheit halber, hätte ich gleich einen Strohhalm in die eineinhalb Liter Flasche stecken können. Aber Sprudelwasser mit Strohhalm trinken, ist wie feuchte Luft schlucken. Äußerst unbefriedigend.  Von einer Nachbarswohnung dringen Geräusche eines vorabendlichen Liebesspiels in den Hof. Schön, so ein verschwitzter Quickie noch vor den Nachrichten. Warum ist eigentlich fast immer nur die Frau zu hören? Haben Männer grundsätzlich weniger Spaß an der Sache, oder sind sie bloß nicht so mitteilungsbedürftig?

Es lebe die Anonymität der Stadt! Den weitläufigen grünen Hof teilen sich gut fünfzig Wohnungen und dennoch wissen vermutlich bloß die direkt angrenzenden Nachbarn wo gerade jemand so viel Spaß hat. Herrlich.

 

Aus der Wohnung unter mir vernehme ich die Erkennungsmelodie der Zeit im Bild. Unverkennbar, obwohl ich seit gut zehn Jahren kein Fernsehen mehr habe. Manches brennt sich nun mal unwiderruflich ein auf Pupille und Trommelfell. So wie manche Schallplatten meiner Mutter. An einem heißen Sommertag, ähnlich wie heute, legt sie „Feuer“ in ohrenbetäubender Lautstärke auf und Doktor Kurt Ostbahn höchstpersönlich scheint neben mir zu stehen. Nackt, weil eigentlich beim Sonnenbaden, singt und tanzt meine Mutter durch‘s Haus. Wenn Eltern sich zu sehr wie normale Menschen benehmen, ist das als Kind oft schwer zu ertragen, also geh‘ ich lieber raus. Jeder Tag wurde voll ausgekostet. Wir waren draußen bis die Dunkelheit (und die strenger werdenden Rufe der Eltern) uns hinein zwangen.

 

Die Sommerferien dauerten damals eine gefühlte Ewigkeit. Heute dauert nichts mehr ewig. Alles droht blitzschnell zu einer Erinnerung abzusteigen, die nie wieder genau so erlebt werden kann. In diesem Sinne zisch ich mir einen GinTonic ins Glas, schalte den armen Hitzeschlag-gefährdeten Laptop aus und sehe dem Himmel dabei zu wie er sich von einem tiefen Blau gemächlich orange und schließlich dunkelviolett färbt. Flauschige Dünen aus Zuckerwatte. Die Geschichte schreib ich dann eben morgen. Heute genieß‘ ich einfach nur zu sein.

 

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