Von Bernd Kleber

Die Klimaanlage surrt leise. Das Geräusch erzeugt ein beruhigendes Gefühl. Ich fühle die Frische auf der Haut, mein Geist ist frei und klar. Durch die Scheibe sehe ich den Sommer in seiner Unbarmherzigkeit an allem Grün zerren und fressen. Seine glühenden Fingerspitzen streichen über die Enden und Spitzen von Laub und Blüten, hinterlassen braune Ränder, die auf die Endlichkeit hinweisen.

Ich verfasse einen Arztbrief, dieser Patient erlebt seine letzten Tage. Die Stimmung und Ruhe an diesem Sonntag in meiner Praxis lassen mich verweilen, verweilen in Augenblicken und Zurückdenken an Vergangenes.

So wie dieser Sommer vergehen wird, vergeht alles, jede Jahreszeit, jede Blüte verwelkt, jedes Leben endet einmal.

Und die Grundlage des Lebens ist in der gesamten Natur die Fortpflanzung. Die Befruchtung, die nach dem Sommer Früchte trägt und manchmal in einem Sommer Früchte erzeugt für ein ganzes Leben.

Ich sehe auf das Familienfoto auf dem Schreibtisch und freue mich über die Ähnlichkeit zwischen meiner Tochter und meiner Frau. Ich lächle und nun tritt doch ein feiner Schweißfilm auf meine Stirn. Das liegt aber an dieser Mehndi-Zeremonie 1993, die mir in den Sinn kommt. Ich war zwölf Jahre alt.

***

Gia und ich sitzen auf dem Dach unseres Hauses. Die Hitze drückt von oben wie ein Deckel, der den Topf schließen will, und nur unser Dampf verhindert das, lässt ihn unentwegt klappern. Schweißperlen rinnen am Körper herab, die wir ignorieren. Peschawar im Juli, wie wir es kennen.

Knapp, dass wir mit unseren Köpfen über den Rand der Dachterrasse lugen. Gia ist ganz zappelig und zieht an meiner kurzen Kurta. Ich lache, weil sie so vertieft ist in dem, was sie mir zeigen will. Gia, Wajheea Adnan, ist zwei Jahre älter als ich, Klassenbeste und hat mir vor einigen Tagen ihre Kaninchen gezeigt. Was ich anfänglich im Gespräch für ihre neuen Haustiere hielt, entpuppte sich später real als ihr Busen, den ich betrachten und betasten durfte. Mir war ganz schwindelig geworden und ich hatte kaum gewagt zu atmen.

Das war heute wieder so ein Tag, bei dem mir Gia etwas zeigen will, was meinen Horizont erweitern soll.

Ich bin gespannt.

„Warte, du Dummkopf!“ Ich bewege mich gar nicht. „Und sieh´ hin!“

Ich halte meine Hand vor den Mund, um nicht laut zu lachen.

„Da, Adil, da ist er!“ Sie gibt mir einen Klaps an den Hinterkopf. Ich habe gar keine Zeit empört zu sein, denn sie greift mein Kinn, reißt an meinem Kopf, den Blick in die richtige Richtung zu lenken. Den Schweiß meiner Wangen wischt sie an meinem Oberteil ab.

Auf dem Dach, zwei Häuser weiter, erscheint Sharoom, Sharoom Bahtii. Er ist derjenige, den es sicher in den meisten Schulen einmal gibt. Der kraftprotzende Liebling aller Mädchen. Wenn er den Schulhof betritt, stecken die Mädchen tuschelnd ihre Köpfe zueinander. Bei jedem Sportfest erntet er Siege und Medaillen.

Dieser Protz reckt sich mit freiem Oberkörper auf dem Dach seines Hauses, stellt sich breitbeinig auf und schüttelt seine Löwenmähne. Ich erwarte, dass er einen Brunftschrei ausstößt.

Gia klopft mir auf die Schulter; „Guck nur, sieh!“

„Ich sehe ja. Aber was soll ich den begaffen, lass uns weiterspielen.“

„Boah, seine Muskeln und die Behaarung. Das ist ein Mann! Jetzt ehrlich! … Zeig mal, hast du Haare?“ Und schon reißt sie meine Kurta hoch und wuschelt über meine Brust, meinen Flaum, der sich neuerdings ausbreitet und lacht dabei.

Mir wird heißer als schon unnötig und mein Gesicht glüht, glüht jetzt wie ein Stück Kohle kurz vor dem Zerfallen. Am liebsten würde ich fortlaufen. Aber dann wäre ich dem Gespött Gias ausgesetzt und darauf verzichte ich gern. Schließlich mag ich sie ja.

Gia blickt noch eine Weile hinüber. Sharoom startet Kraftübungen, besitzt eine Hantelstange, die er in Rückenlage gegen den heißen Himmel drückt.

Mir ist langweilig. Mich nervt der Junge. Ich möchte lieber die unangefochtene Aufmerksamkeit meiner Gefährtin. Etwas regt sich in meinem Magen, ein Gefühl von Unmut und Wut und ich weiß nicht, wo das herrührt.

Ich lehne mich an die Brüstung mit dem Rücken zu den Nachbardächern. Sehe in eine andere Richtung. Blöder Sharoom!

Gia atmet tief ein und aus, „Sharoom sagt, er könne jede Frau auf der Welt küssen, wenn er wolle. Kein Weib würde ihm widerstehen. Krass oder? Sag mal was, Kleiner! Wie findest Du das?“

„Mir egal!“, behaupte ich.

Wir verabschieden uns, denn die Sonne hatte zähflüssig der Nacht Platz gemacht. Eine Nacht, die keine Abkühlung bringt. Wir sind mitten im Monsun, alle warten auf Regen. Ich schwimme im Bett, das Laken klebt. Die Glut, die sich in meinem Magen festgesetzt hat vergeht nicht, rumort und bohrt in mir. So, als wäre ich der Nächste in der Reihe auf dem 10-Meter-Turm der Schwimmhalle. Was ist mit mir los?

Am nächsten Morgen starte ich mit einer üblen Laune. Am Frühstückstisch herrscht eine aufgeregte Freude, alle gackern durcheinander. Irgendwann fragt meine Mutter: „Was hältst Du von der Idee, dass wir alle in der gleichen Farbe zum Fest gehen?“

„Welches Fest?“, schnarre ich und bemerke, dass ich nichts mitbekommen habe, bin mit meinen Gedanken woanders. Wo nur? Werde ich krank?

„Wir haben eine Einladung von Bahtiis, Enaan wird heiraten. Wir gehen alle zur Mehndi-Zeremonie. Das ist eine große Ehre. Nicht jeder in der Nachbarschaft ist eingeladen und wir müssen einen guten Eindruck machen. Die Frauen ehren die Braut und verabschieden sie in ihr neues Leben. Männer dürfen auch teilnehmen. Zu Shahdie und Walima sollen wir dann auch kommen, das wird teuer! Drei teure Tage, die wir aber genießen werden.“

Ich verdrehe die Augen.

„Was hast Du denn, Adil?“

„Ach nichts. Aber ich weiß nicht, warum alle immer so viel Gewese machen um die Familie von Sharoom.“

„Sharoom ist der Bruder des Bräutigams und der beste Sportler der Schule und ein sehr netter Schüler!“, tönt meine Schwester mit kirschroten Wangen.

„Lasst mich alle in Ruhe!“, brumme ich auf dem Weg in mein Zimmer.

Das Fest kommt, wir gehen alle in gelber Kleidung und sehen albern aus, wie ich finde. Die Hitze ist unerträglich und wir sind in unserem Festgewand gefangen.

Die Frauen bemalen Hände und Füße mit Henna. Musik begleitet die Stimmung, eine Tanzgruppe klatscht im Takt und dreht sich im Kreis. Die Männer stehen abseits, lächeln und sehen der Weiblichkeit zu. Die halbe Nachbarschaft ist im Hof. Die Küche dampft und zischt. Ich bekomme kaum Luft.

Gia ist mit ihren Eltern ebenfalls anwesend und hat sich zu mir gestellt. Sie spricht schon wieder von Sharoom, was der sich so denken würde und wie er wohl die Mädchen betöre. Meine Kehle wird eng, alles zieht sich in mir zusammen. Ich glühe wie im Fieber.

Nach dem Essen verabschiede ich mich bei meiner Mutter, ich wolle noch etwas lernen, und gehe durch den Hof zu uns hinüber. Auf dem Dach genieße ich den feinen Luftzug, im Haus ist es stickig. Plötzlich sitzt Gia neben mir. „Geht es dir gut, kleiner dummer Esel? Bist du krank? Mir fehlt mein lustiger Adil. Wo ist er? Hat der Monsun ihn verbrannt?“

Ich sehe ohne Antwort in ihre funkelnden Augen und denke an ihre Kaninchen.

Gia dreht sich um und blickt wieder hinüber zu dem Haus, aus dem ich eben geflohen war. Musik quillt zu uns hinauf wie Lava. Gerüche nach Hühnchen, Lamm, Batura und Kichererbsenfladen parfümieren die aufsteigende Luft. Das Haus hüpft in der flirrenden Aura zum Takt von Dholak und Dhoi. Nun erscheint drüben auf dem Dach Sharoom, allein. Er blickt in den Himmel und trinkt eine Limonade.

Gia erhebt sich und läuft eilig auf die andere Terrassenseite. Ich nehme an, sie möchte nach unten verschwinden. Aber sie dreht sich um, rennt los, auf mich zu. Ich öffne meinen Mund und starre sie ungläubig an. Bei mir angekommen, stemmt sie sich mit ihrem rechten Fuß auf meinem angewinkelten Knie ab und springt…

Die Irre springt über die Gasse auf ihr Dach, Dupatta und Haare flattern wie ein Schweif. Angekommen, dreht sie sich zu mir um, lacht und hält beide Hände wackelnd vor ihre Nase. Dann nimmt sie wieder Anlauf und springt auf das Dach von Sharooms Haus. Sie landet galant wie eine Katze. Langsam geht sie auf Sharoom zu. Sie redet auf ihn ein. Dann lächelt sie irgendwie magisch. Er blickt sie mit erstarrter Miene an.

Jetzt geschieht etwas Furchtbares. Gia umfasst seinen Hals, zieht ihn an sich und küsst den Jungen. Die Lippen berühren sich und lassen nicht wieder voneinander ab. Als Gias rechtes Bein sich hebt, steht sie einen Augenblick grazil einer Elfe gleich. Sie lässt ihn los. Klatscht mit der flachen Hand gegen die Stirn Sharooms und verlässt das dortige Dach durch die Tür. Ich bedecke mit meinen Händen mein Gesicht. Mein Herz pocht heftig.

Sharoom bewegt sich nicht, steht wie eine Statue. Es regnet wie aus einer aufgedrehten Dusche, dazu Blitze und Donnern.

Mir ist übel, es würgt mich. Nass glitsche ich in mein Zimmer und liege auf dem Bett. Ewig sehe ich in den kreisenden Ventilator. Wenn jemand Gia bei dieser Aktion beobachtet hat, wenn Sharoom sie anklagt, ist ihr Ruf in dieser streng muslimischen Gemeinde für immer verdorben, beschmutzt und entehrt. Niemand wird sie mehr respektieren. Wenn nicht sogar noch Schlimmeres passiert.

Am nächsten Tag in der Schule kommt Gia auf mich zu und fragt: „Warum hast du gestern nicht mehr aufgemacht? Ich habe geklopft.“

Übermüdet erwidere ich gedehnten Tones, dass ich schon geschlafen hätte.

Gia schiebt mich in die Ecke des Schulflurs, wo die Besen stehen, und ist sehr nah. Unsere Brustkörbe heben und senken sich vereint.

„Dummer alter Esel. Weißt du, was ich zu Sharoom gesagt habe? Es gibt Mädchen, die bestimmen selbst, wen sie küssen und die Vorführung ist das, was er bei mir nie einfordern könne, außerdem sei er ein arroganter Sohn einer Eselin. Ihm fehlt es an Respekt. Dann habe ich ihm nach meinem Kuss eine geklatscht und bin gegangen. Das musste ich tun. Ich hasse diese Art Machos.“

Ich starre sie an. Diese Freundin ist verrückt und das schönste Mädchen der Welt.

Dann gibt sie mir einen zärtlichen Kuss, den ersten meines Lebens, hält mich ganz fest.

Manchmal nennt sie mich heute noch „Dummer alter Esel“.

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