Von Katharina Rieder

Anfang Juni 2020.

„Ich wusste nicht, dass man dabei blutet. Das hat mir meine Mutter nicht erzählt.“

„Hat es weh getan?“

„Nur ein bisschen.“

Er half ihr dabei, das Blut zwischen ihren Schenkeln weg zu tupfen. 

„Und schon sieht man nichts mehr vom Malheur!“, sagte er grinsend.

Diese Szene mit Tom spielte sich erst vor Kurzem ab und ging Mila nicht mehr aus dem Kopf. Wenn sie an ihn dachte, breitete sich eine angenehme Wärme in ihrem Körper aus, ihre Mundwinkel zogen sich der Sonne entgegen und ihr Herz vibrierte im Rhythmus des „Wang-Dang-Doodle-Bluessongs“. Dieses Lied lief, in seiner modern möblierten Wohnung in der Innenstadt, leise im Hintergrund.

Alles begann an dem heißen Tag im Juni. Toms Weg von der Arbeit zu seiner Zweitwohnung in der Stadt führte am Gymnasium vorbei. Dort sah er Mila zum ersten Mal. Er war fasziniert von ihren ebenmäßigen Gesichtszügen und ihren strahlenden Augen. Er konnte sich die Gefühle zu dem fremden Mädchen, das viel zu jung für ihn war, nicht so wirklich erklären und schämte sich anfänglich dafür. Dann begann er sie heimlich zu beobachten. Jedes Mal, wenn er sie sah, hüpfte sein Herz vor Freude und seine Hände begannen zu schwitzen. Eines Tages trafen sich ihre Augen und Mila zwinkerte ihm zu. Er nahm all seinen Mut zusammen und sprach sie vor der Schule an. Seine zittrigen Hände passten wunderbar zur Schulfahne, die gegenüber im Wind flatterte. Er fragte: „Hast du Lust auf ein Eis?“

 Sie erkannte die Angst vor einer Ablehnung in seinen Augen und nickte. Sein verschmitztes Lächeln und seine raue Stimme eroberten innerhalb eines Wimpernschlages ihr Herz. An diesem Tag wusste sie, dass sie ihm verfallen war. Und er hätte ihr Vater sein können, das reizte sie zusätzlich. 

Ein paar Wochen später nahm Tom sie in seine „Single-Wohnung“ mit. Nichts deutete darauf hin, dass er Familie hatte. Er nannte diesen verborgenen Ort insgeheim seine „Familien-Auszeit-Bleibe“. 

Es war fast dunkel, durch die Jalousien drang nur wenig Licht. Der Lärm der Stadt durchflutete das Zimmer. Sein Blick glitt über ihren Körper. Er erschauderte vor Aufregung. 

„Ich liebe dich!“, sagte er mit bebender Stimme.

Mila blieb stumm und schaute sich im Schlafzimmer um, strich sanft über kühle, marmorne Statuen, die aufgereiht am Fenstersims Richtung Bett starrten. 

Tom umarmte sie von hinten.

„Magst du mich denn nicht?“

„Doch. Ich will nur nicht reden“, antwortete Mila. „Ich will endlich das erleben, was die meisten meiner Freundinnen schon im Bett erlebt haben.“

Tom zog ihr das Kleid aus, streifte den kleinen, weißen Baumwollslip von ihren Hüften und trug sie zum Bett. Er küsste sie innig auf ihre vollen Lippen. Seine Zunge erkundete kreisend ihren Mund und glitt über ihre glatten Zähne. Sie schmeckte nach frischen Sommerbeeren. Toms Hände erforschten geduldig jeden Zentimeter ihres jugendlichen Körpers. Als er die Feuchte zwischen ihren verborgenen Lippen spürte, kam er ihrem Wunsch nach und liebte sie zärtlich. 

*** 

Mitte Juli 2020.

Rundherum wurde es duster, zappenduster. Zuallerletzt ein zerrüttendes Hitzeflimmern und alles verwandelte sich in tiefes Schwarz. Die Abwesenheit von Licht war allgegenwärtig. 

‚Hilfe! So helft mir doch!‘

Nichts, nur ein dunkler Hilfeschrei, der in Milas Kehle stecken blieb und verstummte, bevor er sich durch ihren Hals hätte Bahn brechen können. Glühender Asphalt auf nackter Haut, eine schwere Last auf ihrem Brustkorb, die ihr die Luft abdrückte. Es war so unendlich heiß!

‚Tom? Wo bist du?‘

Das Nächste, an das sich Mila erinnerte, war, dass sie auf weichem Untergrund gebettet zu sich kam. Der erste Versuch, ihre Augen zu öffnen, scheiterte. Das Neonlicht an der Decke blendete sie unsäglich. Schnell kniff sie die Augenlider wieder zusammen. 

„Mila? Mein Gott! Endlich!“

Die Stimme ihrer Mutter drang zu ihr durch. Mila spürte eine warme Hand, die sanft ihren Arm streichelte sowie den heißen Atem ihrer Mutter, der ihre Wange streifte. 

„Ich bin so froh, dass du am Leben bist, Kind!“

„Tom, wo ist Tom?“

„Wer ist Tom? Ich kenne keinen Tom!“

Mila blickte auf. Eine Horde „Weißkittel“ stand um sie herum. 

„Wie geht es Ihnen? Können Sie uns hören?“

Sie nickte. 

„Wie heißen Sie und wie alt sind Sie?“

„Ich bin Mila, 16 Jahre alt.“

Eine der Ärztinnen leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in ihre Augen. Milas Augen folgten gehorsam ihrem Finger. 

„Frau Ansbacher, können Sie uns einen Augenblick mit ihrer Tochter allein lassen?“

Milas Mutter, die damit beschäftigt war, ein weiteres Kissen unter Milas Nacken zu schieben, verharrte in ihrer Bewegung und schaute die Ärztin mit großen Augen an. 

„Ehm, ja natürlich.“

Die Türe fiel sanft ins Schloss, als sie ging. 

„Frau Ansbacher, Sie hatten einen Mopedunfall. Können Sie sich daran erinnern? Die Polizei wird Sie nachher noch genauer dazu befragen.“

„Nein. Doch, vage erinnere ich mich.“

„Sie hatten riesiges Glück! Ihrem Baby geht es gut!“

„Welchem Baby?“

„Sie sind in der 6. Woche schwanger, wussten Sie das nicht?“

Nachdem sich die „Weißkittel-Truppe“ wieder entfernt hatte, schüttelte Mila den Kopf. 

Sie schlug die Bettdecke zurück und starrte auf ihren flachen Bauch. 

‚Wir haben doch nur ein einziges Mal, ohne zu verhüten! Da kann man doch nicht …‘

***

Mitte Juli 2020

An jenem Tag im Juli, als der Unfall passierte, klebte die Sonne heiß am Himmel. Kein Wölkchen weit und breit baumelte in ihrer Nähe. Die Sonnenstrahlen erhitzten unbarmherzig den dunklen Asphalt. Die Luft darüber dehnte sich aus, wurde dünner und leichter. Dezent wie eine Feder stieg sie an, um der kühleren Luft darunter Platz zu machen. Und so brachen sich die Lichtstrahlen an der Grenze zwischen warmer und kalter Luft. 

Es flirrte über der Straße und Mila brauste mit flatterndem Herzen auf der Landstraße Richtung Stadt. Ihre Gedanken flogen voraus. Sie kreisten um Tom, wie Aasgeier um ihre Beute. Er wartete bereits in seiner Wohnung auf sie.

‚Oh, Tom! Ich bin gleich bei dir!‘

In einer scharfen Rechtskurve verlor sie die Kontrolle über ihr Moped. Es wurde duster, zappenduster. 

***

Ende Juli 2020.

Mila wartete in einer ruhigen Ecke des Cafés. Sie rutschte mit ihrem Po hin und her, reckte immer wieder ihren Hals Richtung Eingangsbereich. Dann tauchte Tom endlich auf, betrat den Raum, sah sich hastig um und eilte auf sie zu. 

Mila schenkte ihm ein warmes Lächeln, das gefror, als sie in seine kühlen Augen schaute. Tom setzte sich auf den Stuhl gegenüber und starrte auf die Tischplatte. Eine unangenehme Stille legte sich über die beiden. 

„Wer weiß, ob es überhaupt von mir ist“, sagte er nach einer Weile.

„Natürlich ist es von dir! Von wem sonst? Freust du dich denn nicht?“

„Hör mal gut zu! Ich bin verheiratet und habe schon drei Quälgeister zu Hause! Ich kann echt kein viertes Kind gebrauchen!“

Mila schluckte. Tränen kullerten aus ihren Augenwinkeln und hinterließen schwarze Rinnsale auf ihren heißen Wangen.

„Aber du hast gesagt, du liebst mich!“

„Ich kenn da einen guten Arzt, ein Freund von mir. Der weiß, wie wir das Problem wieder loswerden!“

„Das kannst du vergessen! Du bist so was von feige! Ich weiß genau, dass du mich liebst!“, presste Mila zwischen ihren Zähnen hervor.

Sie fischte nach ihrer Jacke und ließ Tom zurück, den bitteren Schmerz der Enttäuschung in ihrem Herzen.

***

Mitte Februar 2021.

 „Der Kopf ist schon zu sehen! Möchten Sie mal anfassen?“

Mila konnte es nicht glauben und schaute verwundert ihre Mutter an, die ihr ermutigend zulächelte. Milas Hand wanderte zögerlich nach unten zwischen ihre Beine und streichelte über das zarte Köpfchen. Sie fühlte die samtigen Härchen ihrer Tochter zwischen ihren Fingern. Gleichzeitig bahnten sich Tränen der Erleichterung ihren Weg aus den Augenwinkeln und ihr Herz dehnte sich in alle Richtungen. 

„Bei der nächsten Wehe, ziehen sie das Kinn an die Brust und schieben kräftig mit, ja?!“

„Bravo! Gut machen Sie das! Ein bisschen noch! Schieben, schieben, schieben! Noch ein bisschen!“

Mila sammelte ihre Energien und schob. 

 „Geschafft! Da ist es ja, das Köpfchen!“

Mila sackte erschöpft nach hinten und sah in die geröteten Augen ihrer Mutter. Ein eigenartiges Glücksgefühl breitete sich in ihrem Körper aus. 

„Noch einmal, Frau Ansbacher, dann kann ich ihnen ihr Kind auf die Brust legen.“

Mila mobilisierte ihre letzten Kräfte und schon flutschte ihre Tochter aus ihr heraus. 

„Wie soll der kleine Spatz heißen?“

„Keona!“

„Das ist aber ein schöner Name. Hat er eine Bedeutung?“

„Ja, gnädiges Geschenk Gottes!“

Die Türe des Kreissaals wurde geöffnet und eine Krankenschwester erschien im Türrahmen. 

„Frau Ansbacher, es wartet da jemand schon ganz gespannt auf Sie!“ 

Milas Augen weiteten sich überrascht. 

„Ein Tom Lechner. Er meinte, er sei der Vater.“

Keona an ihrer Brust ließ ihr Herz flattern und sie glaubte, die Luft würde flimmern. 

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