Von Fred Maurer

„… Wenn Sie den Konflikt mit unserem Kollegen nicht unverzüglich lösen, müssen wir uns leider von Ihnen trennen …“ 

 

Hiba, eine junge, ansehnliche Frau mit dunkelblonden Locken, die soeben ihr Studium abgeschlossen hat und nun seit einigen Monaten in einem renommierten Architekturbüro arbeitet, fällt aus allen Wolken, als sie diese Schreckensbotschaft Ihres Chefs liest. Ihr wird noch heißer, als es Mitte Juli ohnehin schon ist – in diesem unpersönlichen Großraumbüro ohne Klimaanlage.

‚Der Kollege ist doch mir gegenüber unverschämt aufgetreten!‘

Sie hat ihm, der am liebsten noch wie früher mit Bleistift, Reißschiene, Zeichendreieck und Lineal arbeiten würde, doch nur die Computertechnik des CAD-Zeichnens erklären wollen!

„Ihr Berufsanfänger mit euren neumodischen Methoden!“, hat er sie barsch angefahren und wütend den Raum verlassen, um sich unverzüglich über sie zu beschweren.

Eher mechanisch bringt Hiba den restlichen Arbeitstag hinter sich, versucht trotz der hohen, schier unerträglichen Temperaturen einen klaren Kopf zu behalten.

 

‚Vielleicht kann ich mich abends mit meinem Freund treffen?‘

Sie hat ihn schon tagelang nicht gesehen; eine Mail war unbeantwortet geblieben.

Doch sie erreicht ihn auch diesmal nicht, nur den Anrufbeantworter.

Im Briefkasten unten im Flur lauert ein Brief ihres Vermieters, der die nächste bedrohliche Botschaft enthält: Die befürchtete Mietnachforderung beträgt mehrere 100 €; außerdem müsse sich zudem „die Monatsmiete erhöhen“, „steigender Kosten wegen“, „leider“.

Wie soll sie diese Unsummen aufbringen?

‚Als Berufsanfängerin verdiene ich doch kaum etwas!‘

Sie setzt sich an den Laptop und will den Vermieter um Zahlungsaufschub bitten; da blinkt per Mail die unterbewusst befürchtete Botschaft ihres Freundes auf:

„… viel zu tun… wenig Zeit… können wir uns derzeit nicht sehen…“

Instinktiv spürt sie, das war’s mit ihrer Beziehung: ‚Der Feigling traut sich bloß nicht, mir dies wenigstens ins Gesicht zu sagen.‘

Ihr wird schon wieder heiß.

Am besten ruft sie jetzt ihre beste Freundin an, wie immer, wenn sie etwas bedrückt.

Sie muss am Telefon lange warten, ehe es fast schmerzhaft in der Leitung knackt, sich ihre Freundin jedoch nicht meldet. „Susanne?“

Ein weiteres Knacken: Die Leitung ist tot.

Hiba ahnt: Ihre Freundin ist der Trennungsgrund ihres Ex-Freundes! Deshalb haben sie sich schon tagelang nicht getroffen.

Ihre inneren Flüche sind nicht zitierfähig; den Inhalt ihrer finalen Botschaft als Doppel-Mail können wir uns erstens denken und zweitens schenken. 

 

Wie in Trance reißt sie die Balkontür auf; auch von draußen dringt nur heiße Luft, die ihr fast den Atem nimmt. Erschöpft sinkt sie auf dem Sofa zusammen.

‚Ich hab‘s: Am Wochenende fahr‘ ich in den Schwarzwald!‘

In einer kleinen Pension hat sie schon als Kind mit ihren Eltern ihre Schulferien verbracht.

Zwar ist der Wirt inzwischen verstorben; dessen Witwe führt den kleinen Betrieb als eine Art Herberge weiter, wohl auch um ihre schmale Rente aufzubessern.

In den Wäldern wird sie wandern, stundenlang, wie damals. Ob man in dem See mit Blick auf ein tannengesäumtes Bergmassiv noch baden kann? Bei dem Wetter wäre das eine Wohltat.

Und ob sie die gefährliche Klippe noch findet, von der abzustürzen sie sich schon als Kind gefürchtet hat? Sie wird sie suchen. Diesmal wäre ein kleiner leichtfertiger Schritt eine einfache Lösung all ihrer Probleme…

‚Vor allem will ich einsam sein, nur für mich!‘

Mal sehen, wie lange dieser eiserne Schwur hält.

 

Ehe sie sich am Bahnhof ihr Zugticket besorgt – „Einfache Fahrt, 2. Klasse… Nein, nur hin, nicht zurück!“ –, hinterlässt sie ihrem Chef und ihren drei verbliebenen Freundinnen eine finale, wenn auch kryptische Botschaft.

Sodann reserviert sie telefonisch ein Einzelzimmer in der Pension. Die Wirtin erinnert sich an sie, duzt sie, als sei die Zeit stehengeblieben: „Schön, dass du kommst, Hiba.“

 

Ihr Zimmer mit Blick auf die Berge ist klein, spartanisch eingerichtet, aber sonnendurchflutet, zwar der seit Tagen anhaltenden Hitze wegen ein paar Grad zu warm, doch gemütlich genug für einen allerletzten Aufenthalt.

Bett, Tisch, zwei Stühle, weder Telefon noch Fernsehapparat, dafür an der Wand ein schlichtes, verwittertes Holzkreuz und auf dem Nachttisch ein Buch in schwarzem Ledereinband. Sie beschließt, abends darin zu lesen.

Am späten Nachmittag ist noch Zeit für eine kleine Tour.

Sie läuft los, querfeldein, findet den Felsvorsprung von einst – und ist enttäuscht. Was ihr damals als Kind gewaltig und gefährlich erschienen ist, erweist sich jetzt auch aus der Nähe als harmlose Rutschbahn, auf der sich keiner zu Tode stürzen könnte: ‚Mir wird schon ‘was anderes einfallen…‘

 

Plötzlich bemerkt sie, dass sie sich verlaufen hat, erreicht schließlich atemlos eine Lichtung, die ihr den Blick auf einen Rübenacker eröffnet, der angesichts der aufgeworfenen Scholle offenbar gerade erst gepflügt worden ist.

Erneut umnebelt die Spätnachmittagshitze ihre Sinne. Im Hitzeflimmern ist ihr, als steige vor ihr das Holzkreuz von vorhin auf, riesengroß, aber nicht unheimlich, eher versöhnlich, beruhigend. Natürlich weiß sie, wie solch eine Fata Morgana aus Spiegelungen an übereinander geschichteten Luftschichten mit unterschiedlicher Brechung entsteht, schüttelt amüsiert den Kopf, läuft tapfer weiter und erahnt tatsächlich keine 200 m entfernt die Umrisse eines landwirtschaftlichen Betriebs: ein reetgedecktes Wohnhaus, je eine Weide mit Kühen und Pferden, mehrere Ställe.

‚Ein beträchtliches Anwesen!‘

Hiba ist froh, zurück zu einer wenn ihr auch wenig vertrauten Zivilisation gefunden zu haben.

‚Vor dort kann ich ein Taxi rufen. Bei der Hitze kann ich keinen Kilometer mehr weiterlaufen!‘

 

Im wohltuend kühlen Schweinestall werfen nur ein paar Funzeln ein fahles Licht.

Hiba hat Mühe, den hochgewachsenen Mann in grauer Arbeitsweste und olivgrünen Gummistiefeln zu erkennen, der den Stall gerade offenbar mit einer Forke ausmistet.

Sie räuspert sich; erst jetzt hält er inne, schaut sie fragend an.

„Guten Tag! Sie sind hier der Bauer?“

Das ist zwar eine ziemlich alberne Verlegenheitsfrage; aber sie bewirkt immerhin, dass der Angesprochene … nichts sagt.

„Ich möchte Sie nur darum bitten, von hier ein Taxi rufen zu dürfen. Ich habe mich verlaufen und finde von allein nicht zurück…“

Als der Bauer weiterhin verständnislos dreinschaut, ergänzt sie rasch, ein wenig unsicher: „… in meine Herberge.“

Noch immer keine Antwort. Stille. Man hört nur das Schmatzen und leise Quieken der Schweine.

Inzwischen haben sich Hibas Augen an die Dunkelheit gewöhnt; sie schnappt sich eine an die Wand gelehnte Forke und beginnt ihrerseits, den Mist zusammenzukehren.

Von fern schlägt eine Kirchturmuhr. Vier-, fünf-, sechsmal.

„Kaffeepause!“

‚Der bisher so schweigsame Bauer kann ja doch reden.‘

Jedenfalls stellt sie auf dessen klare Weisung hin dankbar ihre Gabel ab; so eine kleine Wanderung im Hochsommer verursacht Hunger und vor allem Durst.

„Haben Sie auch was Kaltgetränke?“

Nochmaliges Nicken.

 

Der Flur führt in eine behagliche Wohnküche; auch hier hängt ein Holzkreuz an der Wand.

Der Bauer holt eine Kupferkanne mit Kaffee, einen Steinkrug mit Milch, Butter und zwei Marmeladengläser aus dem Kühlschrank, sodann je zwei Messer, Holzbretter und Tassen. Wortlos gießt er erst ihr, dann sich Kaffee und Milch ein, schneidet von einem riesigen Brotlaib zwei Scheiben herunter, bedeutet Hiba blick- und wortlos, sich zu bedienen. 

Sie trinkt erstmal die Tasse mit kalter, frischer Milch halb leer, seufzt zufrieden, reckt sich, lächelt.

Ihr Gastgeber setzt sich, langsam, schwerfällig, faltet seine großen, schwieligen Hände und spricht stumm ein Gebet.

 

Sie essen und trinken schweigend.

In die Stille hinein fragt sie unvermittelt: „Sie leben allein?“

Der Bauer nickt und senkt den Kopf.

„Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht…“

Doch er winkt ab, rafft sich tatsächlich zu einer Erklärung auf: „Ich hatte eine Familie. Frau und drei Kinder… Es war ein tragischer Unfall, vor sieben Jahren, auch mitten im Sommer, an einem ähnlich heißen Tag. Meine Frau war nicht schuld…“

Die Erinnerung schmerzt; der Witwer kämpft sichtlich mit den Tränen. Unwillkürlich greift Hiba nach seiner Hand. Er zieht sie nicht zurück.

So sitzen sie nun, händchenhaltend. Nur das Ticken der Wanduhr ist zu hören.

„Zu meinem Land gehört ein Hochsitz. Wollen wir einen Ausblick wagen, ehe ich Sie heimfahre?“

Die sanft vorgetragene Frage überrascht Hiba; aber sie spürt auch, dass sie eine doppelte Botschaft enthält: Solange noch jemand mit ihr aus luftiger Höhe nach vorne schauen mag und sie sich insgeheim über diese unerwartete Frage freut, hat ihr Leben noch einen Sinn: „Warum eigentlich nicht?“

 

An der Seite ihres Begleiters genießt Hiba die Wälder, den sanft plätschernden Bäche, die Hügel und Täler.

„Wie heißen Sie eigentlich?“

Ihre Frage kommt spät, ist wohl auch jetzt erst wichtig.

„Daniel, und du?“ – „Hiba.“

Ohne zu überlegen, unwillkürlich hat er sie geduzt; aber es macht ihr nichts aus, sie findet es sogar ganz natürlich.

Schließlich, als es allmählich zu dämmern beginnt, steigen sie behutsam die Leiter hinab, wobei er sie behutsam stützt, und gehen Hand in Hand zurück zu seinem Grundstück.

 

Ob sie auch weiterhin gemeinsam durchs Leben gehen?

Ich kann dies nicht wissen, aber ich glaube es.

Am späten Abend dieses ereignisreichen Tages habe ich, selbst für ein paar Tage Gast in der Herberge, Hiba im Aufenthaltsraum getroffen, wo sie bei einem Glas Rotwein die dort ausliegende Zeitung las.

Aufgeregt hat sie mir ihre Geschichte erzählt und ich ahne: Sie wird die künftigen Klippen des Lebens meistern, ganz ohne die fixe Idee, diese hinunterspringen zu wollen.

‚Etwas Besseres als den Tod findest du allemal‘: Dies ist Hibas finale Botschaft an uns – mögen wir auch lange umherirren, unsere Ziel, die wir nicht erkennen, verfehlen und ebenso wenig jemals erreichen wie einst der für seine Sangeskunst berühmte Esel die Freie Hansestadt Bremen

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