Von Herbert Glaser

»Wahnsinn, diese Hitze! Trotzdem könnte man meinen, die Straßen stehen unter Wasser.«

»Ja Erich, das ist die optische Täuschung, so ähnlich wie eine Fata Morgana in der Wüste. Durch die hohen Temperaturen streben die Luftmoleküle weiter auseinander, brauchen mehr Raum, die Dichte direkt über dem Asphalt nimmt ab und die Luft flirrt. Der Himmel spiegelt sich an dieser nach unten hin dünner werdenden Schicht. Wenn man also in die Ferne sieht, erkennt man nicht die Straße, sondern Lichtstrahlen, die von oben kommen und kontinuierlich zum Betrachter hin gebrochen werden.«

»Ist ja schon gut, Franz. Lass nicht den Klugscheißer raushängen. Du bist kein Student mehr.«

»Du hast ja recht, ab jetzt wird gefeiert.«

»Auf deinen Abschluss in Physik!«

»Prost, das Bier haben wir uns wirklich verdient, gerade bei dieser Hitze.«

»Was meinst du, sollen wir mal ein Abi-Klassentreffen organisieren. Es würde mich interessieren, was die Anderen heute so machen.«

»Gute Idee! Sag mal, kannst du dich an Sabine aus der Parallelklasse erinnern?«

»War das nicht die Kleine mit den Sommersprossen und dem Pferdeschwanz?“

»Stimmt, ihr Klassenzimmer war unserem genau gegenüber.«

»Die war echt süß. Hattest du nicht was mit ihr?«

»Sie war meine erste richtige Freundin. Wir waren fast ein halbes Jahr zusammen. Nach dem Abi ist sie dann weggezogen und wir haben uns aus den Augen verloren.«

»Wieso kommst du da jetzt drauf?«

»Ich habe sie vor vier Wochen zufällig in Stuttgart getroffen.«

»Und wie geht es ihr, ist sie immer noch so schüchtern?«

»Also schüchtern ist sie eigentlich gar nicht mehr.«

»Wie meinst du das?«

»Ich bin abends spazieren gegangen. Vom Österreichischen Platz Richtung Charlottenplatz. Und plötzlich war ich mitten im Rotlichtviertel von Stuttgart.«

»Schau an – rein zufällig natürlich. Und dann?«

»Da stand sie auf einmal. Hab‘ sie gar nicht erkannt, weil sie so aufgebrezelt war. Sie kam zu mir und hat mich sofort umarmt. Wie schön es ist, mich zu treffen, wir es mir geht und so weiter. Es hat ihr anscheinend nichts ausgemacht, dass ich sie so sehe.«

»Moment mal, soll das heißen, sie ist eine …«

»Ich konnte es erst auch nicht glauben, aber sie ist total offen damit umgegangen und es war ihr absolut nicht peinlich.«

»Ich glaub’s ja nicht.«

»Und weißt du was?«

»Was?«

»Sie hat mich gefragt, ob ich Lust habe.«

»Nicht dein Ernst!«

»Und ob! Und zwar umsonst – der alten Zeiten willen.«

»Und … ?«

»Na ja, ich bin solo, hatte damals eine schöne Zeit mit ihr – also warum nicht.«

»Die schüchterne Sabine aus der Parallelklasse – unglaublich.«

»Sie nennt sich übrigens Jasmin. Aber natürlich nur, wenn sie arbeitet.«

»Und wie war’s?«

»Ganz schön heftig.«

»Wie meinst du das?«

»Sie hat alle Register gezogen. Mich an allen möglichen Stellen gekratzt und gebissen … das volle Programm. Ehrlich gesagt war es mir zu viel.«

»Zuviel? Wovon reden wir hier eigentlich, Mann. Du triffst eine alte Freundin wieder, die rattenscharf ist und es dir so richtig besorgt. Und dir ist das zu heiß? Das ist aber Meckern auf höchstem Niveau.«

»Ich sage ja nicht, dass der Sex schlecht war.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Ich musste dauernd an die Sabine denken, in die ich mich damals verknallt hatte. Es war für uns beide das erste Mal. Wir waren unerfahren, unsicher und furchtbar verliebt. Es war total romantisch. Mit diesem Mädchen hat Jasmin nichts mehr zu tun.«

»Verstehe. Wie ging es weiter?«

»Wir haben uns zum Abschied umarmt und uns gegenseitig alles Gute gewünscht. Sie wollte den Kontakt sogar wieder aufnehmen, aber ich bin nicht darauf eingegangen. Ich will Sabine so in Erinnerung behalten, wie sie damals war.«

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