Von Miklos Muhi

Die Sicht auf das Tor war schon von Weitem beeindruckend, trotz Hitzeflimmern. Als Justin das Ganze aus der Nähe betrachten konnte, verschlug es ihm den Atem. Das riesige Tor war vergoldet und mit Edelsteinen besetzt. Die zwei Wachen, die mit je einem scharf aussehenden Krummschwert ausgerüstet waren, versetzten seinem Staunen zuerst einen Dämpfer.

 

Als er sich mithilfe seiner kümmerlichen Sprachkenntnisse vorstellte, erlebte er eine angenehme Überraschung. Beide Wachen verbeugten sich und hießen ihn in einem akzentfreien Englisch willkommen.

»Der Scheich erwartet Dich schon«, sagten sie im Unisono. »Bitte trete ein.«

Sie öffneten das Tor mit eingeübten Bewegungen.

 

Der Hof sowie das ganze Innere der Gebäude stand in einem krassen Gegensatz zur schmucklosen und von Sandstürmen glatt geschliffenen Außenmauer.

 

Die Strapazen der letzten Tage und der unerträgliche Durst gewannen sofort die Überhand. Er stürzte in den nächsten, vom üppigen Grün umgebenen, kleinen See und trank gierig. Erst als er nicht mehr trinken konnte, hob er seinen Kopf.

 

Am Ufer stand ein hochgewachsener Mann mit dunkler Hautfarbe und asiatisch aussehenden Augen. Er war in einem blendend weißen Dischdasch gekleidet und schaute interessiert zu.

 

Justin fühlte, wie sein Magen zu Stein wurde. Er sammelte sich und versuchte erst gar nicht mit seinen minimalen Arabischkenntnissen anzugeben.

»Bitte verzeih mir Scheich und sei gnädig mit einem von Unkenntnis und Durst gebeutelten Fremden.«

Ein warmes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus.

»Willkommen in der Oase Tasch ma Tasch. Mach Dir keine Sorgen, Justin. Ich weiß, wie es ist, wenn man Durst hat. Du hast nur das getan, was jeder andere getan hätte. Komm, beehre bitte mein bescheidenes Haus mit Deinem Besuch. Ich lasse Dir frische Kleider schicken. Der Diener versteht Deine Sprache.«

»Tasch ma Tasch«, murmelte Justin, »endlich bin ich angekommen!«

 

Das Dischdasch, das er bekam, fühlte sich kühl an. Der makellose weiße Stoff reflektierte Hitze und Licht gleichermaßen. Er folgte dem Diener ins Haus. Drinnen war es angenehm kühl. Kostbare Teppiche lagen überall herum. Er wurde ins Esszimmer geführt. Einen Tisch gab es zwar nicht, aber auf dem Teppich in der Mitte des Zimmers wurden allerlei Köstlichkeiten aufgetischt. Das meiste kannte Justin nicht, aber alles schmeckte ihm.

 

Nach dem opulenten Mal brach der Scheich die Stille.

»Justin, ich bestehe darauf, dass Du einige Tage hierbleibst. Das Mittagsgebet fängt gleich an, aber danach komme ich zu Dir zurück. Ich stelle Dir einige Sklavinnen zur Verfügung. Nachts kann es hier sehr kalt werden.«

 

*

 

Hassan fuhr immer weiter in die Wüste hinein. Trotz der Tatsache, dass er mit dem Herrscherhaus des Emirats verwandt war, musste er für seine Karriere hart arbeiten. Viele andere haben nach fünf Jahren und nachdem sie gemerkt haben, dass es nicht immer heroisch und abenteuerlich zuging, die Armee verlassen. Hassan diente jedoch weiter. Aus seiner anfänglichen Begeisterung wurde eine stille Leidenschaft.

 

Selbst seine Versetzung in eine Kaserne, die buchstäblich mitten in der Wüste lag, konnte ihn nicht entmutigen. Er konnte sogar an so einem Ort Erhabenes und Schönes entdecken. Ruhe und Stille der Nacht waren überwältigend. Den legendären Sternenhimmel, der schon vor Hunderten von Jahren als Wegweiser für die Karawanenführer diente, konnte man nur aus der dunklen Wüste sehen.

 

Ruhe hatten er und seine Untergebenen auch tagsüber. Der Rhythmus jedes Tages wurde durch die Gebetszeiten und die tägliche Routine vorgegeben. Umso größer war die Aufregung, als der Bote ihm den Befehl aushändigte.

 

Der Tag war jung und schon extrem heiß. Er hatte genug Vorräte an Wasser und Nahrung für zwei Personen und drei Tage.

 

Die ganze Sache war heikel. Weder die alten Legenden noch der schriftliche Befehl lieferten genaue Koordinaten oder sonstige brauchbare Hinweise. Über die sagenhafte Oase Tasch ma Tasch wurde viel erzählt, genauso wie über die unvorstellbar reiche Sippe der Alghanem, die seit Generationen über die Oase herrschte.

 

Durch das Flimmern entdeckte Hassan zuerst einen kleinen schwarzen Punkt, der nicht ins Bild der Wüste passen wollte. Als er näher kam, fand er den ersten Schuh und nach kurzer Suche auch den zweiten.

 

Nach den Schuhen tauchten ein Rucksack und weitere Kleidungsstücke auf. Das verhieß nichts Gutes. Jeder wusste, dass man bei der Hitze sich an- und nicht ausziehen sollte. Der leichte weiße Stoff hielt einen kühl und schützte auch vor den erbarmungslosen Strahlen der Sonne.

 

Hassan fuhr langsamer. Bald bemerkte er den liegenden und fast nackten Mann. Sofort hielt er seinen Jeep an, nahm eine Wasserflasche und eine reflektierende Decke aus dem Kofferraum und rannte zum sonnenverbrannten Unglücklichen, der noch atmete.

»Hallo! Können Sie mich hören? Hier trinken Sie!«, sagte er, öffnete die Flasche und hielt sie an die Lippen des Mannes. Er trank zuerst mit kleinen, dann aber mit immer gierigeren Schlucken.

»Bitte verzeih mir Scheich …« murmelte er. Den Rest konnte Hassan nicht verstehen.

»Ich werde Sie jetzt in Sicherheit bringen lassen«, sagte Hassan. Er deckte den Mann mit der Decke mit der silbrigen Seite nach außen zu und griff nach seinem Funkgerät.

»Hier spricht Oberst Hassan bin Mustafa al-Quasami. Ich habe ihn gefunden … Ja, er lebt noch, aber es geht ihm nicht gut … Ich übermittele gleich die Koordinaten … Ja, ich warte hier«, sagte er und legte auf.

»Tasch ma Tasch«, murmelte der Fremde.

»Justin? Justin Delaware?«, fragte Hassan.

»Ja, Scheich.«

 

Nur ein Amerikaner konnte so arrogant dumm sein, die alten Märchen ernstzunehmen und sich in der heißesten Jahreszeit allein und schlecht ausgerüstet auf die Suche zu begeben. Zum Glück hatte Justins Familie ausgezeichnete Beziehungen im amerikanischen Auswärtige Amt, sonst wäre er im Flimmern der unmenschlichen Hitze, umgeben von Halluzinationen über Oasen, Paläste und Scheichs elend verdurstet.

 

 

Version 2