Von Raina Bodyk

Der Säugling, der an jenem flirrend heißen Sonntag im August das Licht der Welt erblickte, schien bestimmt, als glücklicher Mensch durchs Leben zu wandeln. Doch das Schicksal ist ein launisch Ding.

Er wuchs zu einem aufrechten, jungen Mann heran. Die hohe Stirn verriet Intelligenz, die Augen blickten klug und kühn, doch mit einem guten, warmen Ausdruck. Um den Mund lag ein Zug eiserner Energie. Kurz, ein Mensch, dem man sein Interesse nicht versagen konnte.                            

Ferdinands Anblick ließ so manches scheue Mädchenherz höher schlagen. Aber er wandelte in Unschuld unter ihnen und nicht einmal streifte ihn der Gedanke, der ihm hochmütig erschienen wäre, eines der kichernden Fräulein könnte einen Gefallen an ihm gefunden haben.                

Doch dann geschah, was geschehen musste. Eine holde Maid querte seinen keuschen Weg, erregte mit ihren sanften, braunen Augen seine Aufmerksamkeit. War es wirklich sie – die er als kleines Mägdelein im Sandkasten hatte spielen sehn? Der er manchmal etwas Süßes zusteckte, wenn sie gar wonnig ihre Sandkuchen buk und ihn einlud, diese zu verkosten?       

Ferdinand blickte in das errötende Gesicht und fasste kaum, wie wundersam seine einstige Gespielin sich gewandelt hatte. Er hatte ihrer als einer Art Aschenbrödel gedacht, weil sie stets so still und bescheiden zurückgestanden hatte. Nun war sie zur zarten Jungfrau erblüht. Es wogte der knospende Busen, die braungelockten Haare kitzelten ihren schlanken Hals. Sie musste es sein, die Eine, Erträumte.

Sie freute sich, den verehrten Kindheitsfreund wiederzusehen. Keine Ahnung kam diesem, dass Luise den ganzen Liebesreichtum ihrer vereinsamten Seele schon als ganz junges Mädchen auf ihn konzentriert hatte. Ihr Herz erbebte und pochte ängstlich in der holden Brust. Aber sie verriet sich nicht mit dem kleinsten Wimpernzucken. 

Bislang hatte Ferdinand kein Interesse an Tändeleien und Galanterien empfunden. Aber in diese reizende Dame musste er sich einfach unsterblich verlieben. Sie war so neu und doch so vertraut, so unschuldig, so rein. Ein Blick in ihre Augen erfüllte ihn mit einem wahren Glücksrausch. Derart gewaltig war das Gefühl, dass er alle Klarheit des Denkens verlor. 

Luise war ihrer verwitweten Mutter eine unentbehrliche Stütze geworden und diese stützte sich recht nachdrücklich darauf. Aber nie gönnte sie der sich aufopfernden Tochter ein Wort des Dankes. 

Die Maid liebte den Jüngling mit der ganzen Ausschließlichkeit ihres reichen, tiefen Herzens, liebte ihn still und wunschlos und mit der Gewissheit, dass er ihre Zuneigung nie erwidern würde. Ihr war ein strenger, mädchenhafter Stolz inne, der nicht zuließ, sich zu verraten. Und so wollte sie eher lächelnd resignieren, als dem Ziel ihrer keuschen Sehnsucht zu gestehen, wie sehr sie sich nach ihm verzehrte.

So erschien es ihr wie ein Wunder, als Ferdinand ihr seine Seelenqual gestand. Sie sank an seine Brust, meinte fast, sie müsse zerspringen. Sie taumelte. Er hielt sie fest. Sie murmelte leise Unverständliches  in seine breite Brust, bis er sanft ihr zartes Kinn anhob und ihr den allerersten, flügelleichten Kuss auf die bebenden, roten Lippen drückte. Sie erschauerte vor tiefinnerer Seligkeit. 

 

Doch grausam griff das Schicksal ein, eifersüchtig bemüht, dieses so vollkommene Glück zu zerstören. Es  nahte in Gestalt der Mutter seiner Angebeteten. Eine edle Dame, aufgewachsen auf einem stolzen Rittergut, im Krieg grausam verarmt. Sie hatte für Luise nur eines im Sinn: Sie sollte einen standesgemäßen Herrn, möglichst aus dem Adel, ehelichen und ihre Mutter damit zurückbringen in die Kreise, für die sie überzeugt war, bestimmt zu sein. Sie sah Luise schon vor sich, treusorgend die Hand an der Wiege, sie selbst die Dienstboten beaufsichtigend.

Der um einige Jahre älterer Ehemann – solches erschien der Mutter angenehm, weil dieser die unaussprechlichen Dummheiten der Jugend hinter sich haben würde – sollte sie behüten und leiten, immer ihr ein Vorbild an Tugend und Würde sein. Ihre brave Luise würde ihre Pflichten erfüllen und ihm den gebührenden Respekt entgegenbringen, wie es sich geziemte. 

Dieser Plan ließ die Verbindung mit dem sie anhimmelnden Jüngling als äußerst unerwünscht erscheinen. Luise merkte nicht, wie die Frau Mama, wann immer sie den verachteten Bewerber erblickte, den ohnehin sehr geraden Rücken noch mehr versteifte, die edel gezupften Augenbrauen abschätzig hob und ihn mit einem angewiderten Blick musterte.

Wohl aber erkannte es der aufmerksame Ferdinand. Mit düsterem Gesicht, die Stirn umwölkt, haderte er mit seinem Schicksal. Verzweifelt, die Augen tränenumflort, fragte er sich: „Soll es, darf es wirklich nicht sein? Soll nicht Herz zu Herz sich finden?“ 

 

Das Paar traf sich auf ‚seiner‘ Bank, die schon so oft dessen heiterem Geplänkel gelauscht hatte. Heute erzählte die edle Jungfer ihrem Freund begeistert, dass ihre gute Mutter sie auf eine Reise ins sonnige Italien mitnehmen wolle. Vor Freude strahlend  malte sie die Reise in den wundervollsten Farben.      

Ferdinand wurde schier erdrückt vor Leid. Konnte er so grausam sein, dieses Strahlen zu ersticken? Ihr sagen, dass jene ihre Verbindung zerstören wollte?

Er schwieg, nur seine tieftraurigen Augen sprachen von Sehnsucht, Leid und Abschied. Doch ach, die Geliebte, eingesponnen in ihre heiteren Träume, bemerkte es nicht. Sah nicht den Dolch, der sich in seiner Brust um und um drehte.                       

Ein Geschlagener, ging er heim, sein Entschluss war gefasst. Seine entzückende Luise sollte nicht daran zerbrechen, sich zwischen der verehrten, aber unbarmherzigen Mutter und dem Geliebten entscheiden zu müssen. Eher wollte er verzichten.

 

Ohne ein Wort des Abschieds zog Ferdinand in die Ferne, glaubend, es sei das Beste. Wie es so oft in der stolzen, Gefühle verbergenden Männerwelt geschieht, kam es auch ihm nicht in den Sinn, dass die geliebte Frau vielleicht anders entschieden hätte, hätte man sie gefragt. Die so zarte Weiblichkeit musste gehegt und gepflegt werden. Das war der Männer Pflicht und Ehre.                          

Es zog ihn nach Afrika. Es sollte der dunkelste, unerforschteste und gefährlichste Fleck der Erde sein. Es dauerte viele, kummervolle Jahre, bis er wieder an Deutschland denken konnte, ohne in jeder Minute seines Daseins sie vor sich zu sehen.

*

„Liebster, warum verließest du mich ohne ein Wort? War alles Lug und Trug?“

„Mein Ferdinand, war ich nur ein Spiel für dich? Wehe mir, denn ich erwarte dein Kind. Die Schande überleb ich nicht. Antworte doch!“

„Wo bist du? Achtest du meiner so gering? Meine Mutter sagt so böse Dinge. Ich sei eine Dirne, habe Schande über sie und die Familie gebracht. Ich bin schier verzweifelt.“

„Mutter will mich zwingen, unseren Nachbarn zu heiraten. Der ist kürzlich Witwer geworden und hat vier Sprösslinge, die versorgt sein wollen. Du erinnerst dich sicher an den Hagestolz mit seinem Kaiser-Wilhelm-Bart. Nimmer werde ich pflichtschuldigst das Bett mit ihm teilen. Eher sterbe ich. Melde dich! Bitte!“

*

Ferdinand blieb ein Fremder in der neuen Heimat, fühlte sich einsam, leer. Nach vielen Jahren, in denen die dunklen Wolken über dem politischen Himmel Südafrikas immer schwärzer wurden, fühlte er tief in seinem Innern, es war Zeit zu gehen. 

Zurück in Deutschland, überwältigten ihn seine tiefen Gefühle für Luise neu. Seine Sehnsüchte spielten ihm manchen Streich. Wie oft vermeinte er, das Ziel seiner heimlichen Wünsche auf einer Wiese oder in einem blühenden Garten zu sehen, wie sie sich anmutig über eine süß duftende Rosenknospe beugte. Doch sie war es nie. 

Er wagte nicht zu fragen. Er hatte Angst vor den eigenen, überwältigenden Gefühlen. Noch einmal, dessen war er sich sicher, würde er eine solche Enttäuschung nicht überstehen. Ob sie ihn vergessen hatte? War sie gar gebunden? Dieser Gedanke schmerzte ihn in jeder Faser seines Körpers.

 

Dann eines Tages lief sie ihm unversehens über den Weg. Er eilte auf sie zu, öffnete weit seine starken Arme, drückte sie an sein Herz. Es gab kein Zaudern und Zögern, kein Zweifel trübte mehr seine Seele. 

Doch nein! Die Liebste – sie wich zurück, drückte abwehrend die Fäuste gegen seine Brust. Die Angst, sie zu verlieren, ehe er sie zurückgewonnen hatte, umklammerte ihn mit eisernen Zwingen.

„Luise, erkennst du mich nicht? Ich bin’s, dein Ferdinand!“

Mein Ferdinand?! Was ficht dich an? So unendlich lange habe ich voller Sehnsucht gewartet, dir so viele Briefe geschrieben. Fast hätte ich vor Kummer und Leid mein irdisches Dasein beendet. Du hast einfach geschwiegen, nie geantwortet. Du hättest ruhig zugesehen, wie meine Mutter mich an einen anderen Mann verschachert. Ich weiß nicht, woher mir die Kraft zuteil geworden ist, mich zu widersetzen. Dann wurde unser Kind tot geboren. Mir war unendlich elend, war so furchtbar traurig. Niemand, der mich hielt und tröstete. Ich war so allein! Warum? Was habe ich Böses getan?“

„Mein Herz, was redest du? Welche Briefe? Ich habe nie einen einzigen bekommen. Wohl habe ich dir von meiner Liebe und dem Grund meiner Flucht geschrieben. Wagte nur nicht, die Post abzuschicken. Ich wollte dein Leben nicht noch schwerer machen, du weißt doch, wie sehr …“

„Meine Mutter!!“ Die grausame Erkenntnis erschüttert Luise. Natürlich! Hatte sie es sich doch nie vorstellen können, dass ihr Ferdinand so unmenschlich sein könnte. Wie konnte eine Mutter ihr eigenes Fleisch und Blut so verraten und täuschen?

Sie blickte in seine wahrhaften Augen.
Sollte es doch noch ein Glück für sie geben? Eine zaghafte Sehnsucht erwachte in ihr. Nur war so viel Schmerzliches geschehen. Sie senkte die immer noch so bezaubernden Wimpern und flüsterte schüchtern: „Du warst so lange fort. Wir müssen uns neu kennenlernen. Wir haben uns verändert. Jung und hübsch bin ich auch nicht mehr.“ 

Da lachte er übermütig, flüsterte in ihr perfekt geformtes, kleines Ohr, nachdem er eine freche Locke zur Seite geschoben hatte: „Sei nicht dumm, meine Süße. Für mich wirst du immer die Schönste sein.“ 

 

9986 Z.