Von Marianne Apfelstedt

Für Karin war es ungewohnt, allein auf dieser Bank zu sitzen, auch nach all den Monaten. Franzis Hundebett hatte sie gewaschen und in den Schrank im Flur geräumt. Vergangenes Jahr war Franzi nach der verabreichten Spritze in Karins Armen eingeschlafen und hatte unter dem Kirschbaum für immer ein Ruheplätzchen gefunden. Um sich abzulenken, ließ sie ihren Blick über den Garten wandern. Purpurne Blüten der wilden Malve streckten sich der Mittagssonne entgegen. Die Schafgarbe neigte unter der unbarmherzigen Glut ihre Köpfchen und erinnerte Karin daran, bei der Runde am Abend auch diesen Teil des Gartens zu gießen. Den Sonnenblumen war das Wetter gerade recht, sie strahlten mit der Sonne um die Wette. Unter ihrem Sonnenhut staute sich die Hitze, wie der Dampf nach einem Aufguss in der Sauna, ihre Wangen glühten. Ihr Haarzopf feucht von den Tropfen, die vom Haaransatz in den Nacken perlten. Sie legte die Beine auf einen Hocker und fächelte sich mit dem Hut Luft zu, ließ den Blick träge umherschweifen. Eine Hummel schwirrte nahrungssuchend um die Bartblume, unermüdlich flog sie weiter. Brummelflug. Nächster Halt Glockenblume, an den Hinterbeinen klebten wie Pudding die Pollen. Sie wendete den Blick zum offenen Gartentor, zur Straße. Menschenleer. Der Asphalt flimmerte in der Mittagshitze, nur die Musik der Vögel und Insekten drang an ihr Ohr. Das Flirren der Luft nahm ihre Augen gefangen. Karin meinte, Bahngleise hinter einer Blumenwiese zu erkennen. Fata Morgana.

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„Hey, warte mal! Ich habe einen Kieselstein im Schuh.“

„Soll ich dein Handtuch halten?“, fragte Petra. Ich drückte der Freundin mein Bündel entgegen und setzte mich auf den Boden. Mit zwei Händen öffnete ich das Riemchen der Sandale und warf den Kiesel in die Wiese.

„Ich stecke dein Zeugs mit in meine Tasche, dann kannst du mir tragen helfen. Hoffentlich finden wir einen Platz mit freiem Blick auf den Wasserfall.“ Wir trugen jede einen Griff der Badetasche und im Gleichschritt ging es weiter den Feldweg entlang.

„Kommen die Jungs wieder zum Baden?“, fragte ich Petra.

„In der Pause habe ich gehört, wie Armin und Ralf ausgemacht haben sich heute am Wasserfall zu treffen.“ Wir liefen den Trampelpfad weiter, der mitten durch die Wiese, gesäumt mit Wiesenstorchschnabel und Margariten, führte. Der Pfad endete ohne jeden Übergang an den Bahngleisen. Über den Schienen flimmerte die Luft in der Mittagshitze, gaukelte kühles Wasser vor.

„Gut, dass hier so selten ein Zug fährt. Kannst du den Fluss schon hören, Karin?“

„Nein, die Grillen sind zu laut. Mann, heute ist es heiß. Sieh mal, wie die Luft über den Gleisen flimmert.“ Am Fluss angekommen, sahen wir weitere Klassenkameraden, die auf ihren Handtüchern saßen und Karten spielten. Wir breiteten unsere Decke aus. Petra entledigte sich des Ringelshirts und der kurzen Hose und drehte sich im Pinken Zweiteiler einmal im Kreis.

„Wie findest du meinen neuen Bikini? Habe ich am Samstag mit Patentante Iris eingekauft.“

„Neon-Pink sieht toll aus zu deiner braunen Haut. Vielleicht bekomme ich zum Geburtstag auch einen Bikini.“ Umständlich schälte ich mich aus der kurzen Hose, das Top ließ ich über dem Badeanzug an, den ich jetzt kindisch fand. Letztes Jahr hatte ich mich so gefreut, weil blau doch meine Lieblingsfarbe ist.

Zwei johlende Jungs radelten von der anderen Seite des Flusses heran. Armin und Ralf ließen ihre Fahrräder ins Gras fallen, die Klamotten flogen hinterher.

„Wer zuerst bei den Felsen ist!“, rief Armin und sprang von der Uferböschung aus ins Wasser. Ich bewunderte seinen Schwimmstil, mit kräftigen Zügen schwamm er gegen die Strömung zu den Steinen des kleinen Wasserfalls. Die Jungs zogen ihre Show ab, balancierten auf den Felsen und sprangen mit ulkigen Verrenkungen ins kühle Nass. Wir Mädels hatten Tränen vor Lachen in den Augen.

„Hey kommt doch mit, wir schwimmen zur Kiesinsel runter“, rief uns Ralf zu. Ich folgte Petra die Böschung hinunter. Sie sprang beherzt hinein, ich rutschte mit den Beinen ins kühle Wasser. Zögerlich immer tiefer, Kälte umspülte meinen Bauchnabel. „Los Karin, mach mal!“, forderte Petra.

„Mir ist es zu kalt, ich bleib da.“ Mich traf ein Wasserschwall von hinten und jemand packte mein Bein. Prustend fiel ich ins Wasser, tauchte unter und japste wie ein Hund. Ralf wieherte vor Lachen. Petra tunkte ihn und kraulte davon, bevor er sich revanchierte. Armin schwamm langsam neben mir her.

„Letzte Woche nach dem Regen war die Strömung stärker, da konnten wir uns reinlegen und runter treiben lassen. Das hätte euch Mädels gefallen.“

„Ich hatte keine Zeit.“

„Musstest du babysitten, weil du nicht beim Baden warst?“

„Nö, war noch zu kalt für mich.“ Dass ich Besuch von Tante Rosa hatte, wollte ich ihm nicht sagen.

„Nach der Kurve kommt die Insel, da wird die Strömung stärker. Bleib am Rand, sonst muss ich dich retten“, witzelte Armin, bevor er zur Kiesinsel voraus schwamm. Ich bummelte, bis sich mein tomatenrotes Gesicht wieder normal anfühlte und sammelte flache Kiesel, als ich an der Insel eintrudelte.

„Wessen Stein hüpft öfter?“, rief ich und warf gleich den Ersten über das Wasser.

„Ich bin der König der hüpfenden Steine, mich schlägt keiner“, brüllte Ralf. Die Jungs gewannen, weil Petra so tollpatschig wie ein Welpe war. Auf dem Rückweg zu unserer Decke lief Armin neben ihr, die jeden Satz von ihm mit lautem Lachen begleitete. Ralf erzählte mir von seiner 80er, die er regelmäßig polierte. Er hatte sie zum Geburtstag von seinen Eltern bekommen. Ich nickte gelegentlich und versuchte die Unterhaltung vor mir nicht zu verpassen.

An der Picknickdecke angekommen, ließen wir uns Obst und Kekse schmecken. Dann legten wir uns alle auf die Decke zum Dösen. Ich war eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als eine sonnenwarme Hand meinen Nacken streichelte. Sicherheitshalber hielt ich die Augen fest geschlossen, dabei hätte ich am liebsten geschnurrt wie eine Katze. Die Jungs verabschiedeten sich kurz darauf. Armin zwinkerte mir zu, bevor er sich aufs Fahrrad schwang.

Einige Tage später machte ich mich allein auf den Weg zum Baden, weil Petra mal wieder mit ihrer Patentante beim Einkaufen war. Am Fluss sah ich keine Klassenkameraden. Vertieft in mein Buch vergaß ich die Zeit.

„Hi Karin, ganz allein heute? Willst du schwimmen?“, rief Armin vom Wasser zu mir hoch.

„Na klar. Klasse, dass du da bist.“

„Wer als erster bei den Steinen ist!“

Das Hinaufklettern auf die glitschigen Felsen hatte ich mir einfacher vorgestellt, doch mit Armins Hilfe schaffte ich es. Er zeigte mir die Stellen, die gut für einen Sprung geeignet waren. Mir wurde kalt, weil die Sonne sich hinter den Wolken versteckte. Wir setzten uns auf die Decke, verputzten den mitgebrachten Schokoladenkuchen und wickelten uns ins Badetuch. Eng aneinander gekuschelt wurde mir bald wärmer. Armin verriet mir seinen Wunsch, nach unserem Abschluss aufs Gymnasium zu wechseln und das Abitur nachzuholen, ich erzählte ihm vom geplanten Praktikum in einer Logopädie Praxis. Der Nachmittag zerrann wie Eis in der Sonne. Zum Abschied küssten wir uns. Schokokuss.

Am nächsten Tag verdarb der Wetterumschwung jeden Gedanken an Sommer. Der Herbst war da. Ich zählte die Tage bis zum Ferienende und probierte meinen kompletten Kleiderschrank durch. Am ersten Schultag stand ich schon am Schulhaus, als der Hausmeister aufsperrte. Im Klassenzimmer setzte ich mich in die hinterste Reihe und hoffte auf einen neuen Sitznachbarn. Die Tische füllten sich, Petra huschte als eine der Letzten neben mich. Den Platz habe ich doch nicht für dich freigehalten.

„So, dann sind wir vollzählig. Kerstin Müller hat in die 9b gewechselt und Armin Gräfler ist umgezogen und kann unsere Schule nicht mehr mit seiner Anwesenheit beehren. Auf ein Neues. Schön, dass ich euch wieder unterrichten darf“, begrüßte uns Frau Böhm.

**

Blinzelnd reibt sich Karin die Augen. Der Blick auf die Straße ist versperrt, ein silberner Corsa steht in der Einfahrt, aus dem ihr Neffe Paul steigt.

„Hallo Tante Karin, wir machen einen Ausflug. Ich habe eine Überraschung für dich.“

„Habe ich was verpasst? Du wolltest erst am Sonntag zum Kaffee vorbeikommen. Heute habe ich keinen Kuchen gebacken.“

„Das können wir ein anderes Mal nachholen. Ich habe dir doch von diesem Mann mit den Retriever-Welpen erzählt. Ein Hundemädchen wurde nicht abgeholt und sucht ein neues zu Hause. Ich weiß ja, wie sehr du Franzi vermisst. Kannst du dich noch daran erinnern, wie ihr mich von der Grundschule abgeholt habt? Da durfte ich Franzi auf dem Heimweg an der Leine halten. Ich war der Kleinste in der Klasse, aber mit dem größten Hund.“ Karin muss lachen.

„Na klar, die größeren Jungs haben danach nie mehr deinen Schulranzen versteckt. Sie glaubten, du würdest sonst den großen schwarzen Hund auf sie hetzen.“ Beide lachen herzlich in Erinnerung an die brave Franzi, die ansonsten immer ohne Leine bei Fuß ging, das hatte Paul den Rowdys in seiner Klasse nicht erzählt.

„Schau mal, ich habe ein Foto vom Welpen auf dem Handy. Ich habe für heute einen Besuchstermin ausgemacht und ich dachte, wenn du die niedliche Hundedame siehst, kommst du mit.“

Karin nimmt das Smartphone von Paul entgegen. Ihr Blick fällt auf einen Golden Retriever Welpen, der den Kopf vertrauensvoll auf den Arm seines Menschen legt und schläfrig in die Welt sieht. Eine Hand krault den Nacken des Hundes. Schmunzelnd sehen grüne Menschenaugen in die Kamera. Strahlend von Krähenfüßen umrahmt, ein Gesicht, das ihr bekannt vorkommt. Lippen umschlossen vom fein gestutzten Silberbart. Diese Augen! Karin zoomt das Foto heran, bis die lächelnden grünen Augen das Display ausfüllen. Sie sieht sie, jugendlich ohne Falten, mit sonnengebräuner Haut. Damals haben sie auch gelächelt. Ihr Herz beschleunigt in den 5. Gang, das sind Armins Augen.

 

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