Von Christiane Labusga

Sie sitzen auf der Bank neben dem Halteschild, das hier inmitten ländlichen Nichts die auf der Landstraße vorbeifahrenden Busse zum Stoppen zwingt. Eine ungeliebte Haltestelle, nur für die Bewohner des 800 Meter entfernt liegenden Aussiedlerhofes errichtet. Die Bank steht einfach so im Freien herum, es gibt nicht einmal ein Dach gegen Regen und kalten Wind, aber das ist auch gerade nicht nötig, denn sie sitzen hier in der prallen Augustsonne.

 

Wenn zwei sich nicht leiden können, dann nützt es auch nichts, dass das Leben sie zusammen schmiedet. Die beiden sind wie ein Ei dem anderen ähnlich, auch wenn sie Stiefbrüder sind, ähnlich vor allem in ihrem Charakter. Das macht es ja so schwierig. Denn jeder beansprucht die  Rolle des Anführers, und beide haben sie verdient.

 

„Die werden sich schon zusammenraufen“, hatten die Eltern geglaubt, aber weder hatten die Jungen sich raufen wollen, noch war es zu einem Zusammen gekommen.

 

Sie starren die Landstraße entlang, jeder in eine Richtung, als warteten sie auf etwas. Aber lange passiert nichts.

 

„Eine Fata Morgana“, sagt der eine. „Es sieht aus, als würde es über der Straße noch einmal eine Straße geben.“

 

„Hitzeflimmern“, sagt der andere.

 

Sie warten auf ein rotes Auto, so haben sie es ausgemacht. Wer als erster ein rotes Auto entdecken wird, der hat gewonnen.

 

Rote Autos sind rar in der Gegend, nicht ganz unmöglich, aber rar. Es kann also gut sein, dass keiner der beiden gewinnen wird. Dass heute einfach kein rotes Auto mehr vorbei kommt.

 

Und während beide angestrengt in ihre jeweiligen Richtungen starren, überlegen sie, jeder für sich, ob es nicht doch besser wäre, es würde kein rotes Auto kommen. Und es würde keinen Gewinner und keinen Verlierer geben. Und der Verlierer müsste den Preis nicht zahlen, den sie verabredet hatten.

 

Die Gerste neben der Landstraße knistert. Bald kann sie geerntet werden. Sie riecht ein wenig süß und ein wenig staubig, ganz trocken. So wie eben alles im Sommer riecht, süß und trocken. Wie riecht trocken? Sogar die Haut riecht im Sommer süß und trocken, auch wenn sie gerade feucht von Schweiß und salzig ist.

 

Aus der einen Richtung kommen zwei Wagen angefahren, dicht hinter einander. Beide Fahrer haben die Fenster heruntergekurbelt, Musikfetzen schallen kurz heraus, wie Ohrfeigen. Sie hören unterschiedliche Sender, die Lieder überlagern sich in diesem kurzen Moment. Als sie vorbei sind, bleibt noch der faulige Geruch des Diesels über der Fahrbahn hängen und die Natur schweigt betäubt.

 

Dann bricht das Zirpen der Grillen wieder los und das Knistern der Gerste.

 

„Wie spät?“

 

„Fast vier.“

 

„Wollen wir es sein lassen?“

 

„Nein“, sagt der andere, er will sich keine Blöße geben. „Noch eine halbe Stunde!“

 

Nichts passiert. Der eine beobachtet weiter seine Fata Morgana, lauscht der Gerste und den Grillen, zieht die wieder saubere süße Luft tief ein. Er möchte zurück zum Hof, möchte, dass die Wette beendet wird, ohne Sieger. Dass sie beide zurück zum Hof gehen. Als er kurz davor ist, es auszusprechen, sieht er es:

 

Die Fata Morgana der grauen Straße färbt sich rötlich. Das Rote flimmert, wackelt, aber es verschwindet nicht.

 

„Da kommt eins“, sagt er leise. „Ich habe gewonnen.“

 

Der andere dreht sich um, schaut auch auf die Fata Morgana. Er knickt kurz ein, richtet sich dann aber wieder auf, macht sich besonders gerade.

 

„Glückwunsch, du hast gewonnen!“

 

Die beiden Jungen stehen auf, nehmen die Rucksäcke, die sie unter der Bank verstaut hatten, der Gewinner überreicht dem Verlierer noch den Umschlag mit ihren Ersparnissen. Dann geht er mit hängendem Kopf zum Hof zurück, während der andere sich halb auf die Fahrbahn stellt und dem roten Auto mit hochgestrecktem Daumen anzeigt, dass er mitgenommen werden möchte.

 

Als das Auto anhält, dreht sich der Gewinner noch einmal um, und bevor er einsteigt, wendet sich auch der Verlierer noch einmal zum Gewinner.

 

„Lebe wohl!“, rufen sie fast unisono. Sie lachen kurz auf, beide, und denken sich, dass es so doch wirklich besser ist.

 

 

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