Von Justin Janning

Im Vergleich zu der elendig heißen Nachmittagssonne war der lauwarme Weißwein aus dem Tetrapack eine willkommene Abkühlung, die Ronnie sich nun mit einem Gemisch aus Notwendigkeit und Genuss die Kehle hinablaufen ließ. Die wenigen Tropfen, die sich dabei in seinen Schnurrbart verirrten, fischte er mit einer gekonnten Bewegung seiner Zunge wieder heraus. Verschwendung konnte er nicht ausstehen, und wenn man es genau nahm, konnte er sich diese auch gar nicht leisten – genau so wenig wie alles andere.

Er kam gerade aus einem der Parks der Stadt geschlurft. Seine heutige Ausbeute bei den Mülleimern fiel sehr dürftig aus: drei Dosen und eine Bierflasche, also zusammen nur dreiundachtzig Cent. Ronnie grunzte und nahm noch einen Schluck aus der Papptüte. Solange der Wein reichte, gäbe es für ihn noch Hoffnung.

 Sein Ziel war nun die alte Tankstelle am Rande des Industriegebietes. Jürgen arbeitete dort immer tagsüber. Ein netter Kerl, der auch mal ein Auge zudrückte, wenn dann und wann ein paar Cent für eine neue Packung Wein fehlten.

Die Tankstelle kam in Sichtweite. Sie flimmerte im Schein der Hitze vor Ronnies Augen. Als er sich näherte, erkannte er etwas Neues neben den Zapfsäulen. Ein Getränkeautomat war aufgestellt worden. „Sunny Delights“ hieß es in neonfarbener Schrift auf der Vorderseite.

Das waren gute Aussichten. In den Wechselgeldfächern von den Dingern ließen immer einige Unachtsame ein paar Münzen zurück. Erwartungsvoll trat Ronnie an den Automaten heran, nur um enttäuscht zu werden – es gab anscheinend kein Rückgabefach. Machten die modernen Maschinen das jetzt so?

Trotzdem entschied er sich, in das Ausgabefach zu greifen, und hier erwartete Ronnie keine Enttäuschung.

Eine kühle Glasflasche lag darin. „Holly Holler – Holunderlimonade“ stand auf dem Etikett. Zwar kein Alkohol, aber bei der Hitze war das Kaltgetränk trotzdem erwünscht. Ronnie öffnete den Kronkorken gekonnt an dem eisernen Mülleimer neben dem Tankstelleneingang und leerte das Getränk in einem Zug.

„Moin, Jürgen“, sagte er beim Betreten der Tankstelle. „Ich hab dir wieder ein bisschen was mitgebracht.“ Er wedelte mit der Plastiktüte. „Das sollte für einen deftigen Rebensaft reichen.“

„Ach Ronnie, es wäre auch toll, wenn es mal reichte um deinen Rückstand auszugleichen“, gab Jürgen mit zusammengezogen Augenbrauen zurück.

„Ich weiß ja“, meinte Ronnie während er seine Beute auf den Tresen packte, „aber so viel ist es doch nicht, oder? Zwei, drei Euronen?“

„Drei Euro und vierundfünfzig Cent, um genau zu sein. Aber du weißt ja, bei Freunden macht man eigentlich keine Schulden. Auf der Flasche hier scheint kein Pfand zu sein, ist wohl Altglas.“

„Ach nee, wie doof. Die kommt aus deinem neuen Automaten.“

„Setzt der Wein dir heute besonders zu? Ich habe keinen Automaten.“

Ronnie runzelte die Stirn. „Na, dann guck mal was da draußen steht.“ Er drehte sich herum und deutete auf die Zapfsäulen. Da stand tatsächlich kein Getränkeautomat. „Warte mal kurz“, meinte er zu Jürgen und spurtete nach draußen. Der Getränkeautomat war tatsächlich fort. Hatte die Hitze seinen Augen hinter das Licht geführt? Die Flasche mit der Holunderlimonade war doch echt gewesen.

Als er langsam grübelnd wieder hereinkam, sah ein kreidebleicher Jürgen ihn an. „Ich weiß nicht recht, was mit dir los ist, aber das hier solltest du dir mal ansehen.“ Er hielt Ronnie das „Holly Holler“ hin. Das Etikett war leicht abgelöst. „Ich dachte, ich überprüfe das einfach mal, auf gut Glück.“

Ronnie nahm die Flasche und las das Etikett. Er hatte sich vorher nicht die Mühe gemacht alles zu lesen. Der Aufdruck informierte über irgendein Gewinnspiel und unter jedem Flaschenetikett verberge sich ein Gewinnlos. Zitternd blätterte Ronnie das Papier um und las was sich darunter verbarg:

„Herzlichen Glückwunsch! Hauptgewinn: 25.000€“

„Ich schätze“, meinte Jürgen, „du kannst mir dann mal deine Schulden zurückzahlen.“

 

Am Vormittag desselben Tages streiften Eugen und Melvin durch die Innenstadt. Die Abiturprüfungen lagen hinter und der Semesterbeginn vor ihnen. Das bedeutete einen verdienten Sommer des ausgiebigen Nichtstuns.

„Hast du deine Bewerbungen mittlerweile alle raus? Du weißt schon, dass du das bis Mitte des Monats schaffen musst?“

„Ich gucke noch. Ich habe halt keine Ahnung, was genau ich überhaupt machen soll.“ Eugen seufzte. Die Frage nach seiner Zukunftsgestaltung hatte er in den letzten Monaten zu oft gehört, insbesondere von der Stimme in seinem Kopf.

„Bewirb dich doch einfach hier bei der Uni für BWL, wie ich, das passt schon. Oder irgendwas auf Lehramt.“ Melvin schien bei diesen Planungsfragen weit voraus zu sein.

„Ich will das einfach nicht überstürzen. Vermutlich werde ich mich wegen der Fristen echt erst mal für irgendwas anmelden. Lass uns mal da lang gehen, ich glaube, da kann man sich was zu trinken holen.“

Melvin sah die Straße entlang, in die Richtung, in die Eugen deutete. „Bist du sicher? Ich sehe da nur irgendein Flimmern. Es ist einfach viel zu heiß.“

„Stimmt, aber ich glaube, ich erkenne da einen Getränkeautomaten.“ Eugen sollte recht behalten. Als sie die Straße herabliefen, wurde der rechteckige Kasten mit der leuchtenden Aufschrift „Sunny Delights“ immer deutlicher.

„Komisches Ding“, meinte Melvin. „Den hab ich hier noch nie gesehen und diese Getränkemarken sagen mir alle überhaupt nichts.“

„Mir ehrlich gesagt auch nicht. Ich probier mal was davon. Guck mal, die „Beach Girl Mate“ klingt doch gut. Für einen Euro bestimmt nicht verkehrt.“ Eugen kramte in seiner Geldbörse herum. „Mist, ich habe genau achtzig Cent dabei.“

„Ich würde dir ja was geben, aber ich glaube das muss ich gar nicht.“ Melvin deutete auf die kleine Digitalanzeige des Automaten. „Zwanzig Cent sind wohl schon drin.“

Eugen guckte auf die rot leuchtenden Ziffern. „Dann ist heute wohl mein Glückstag“, meinte er, als er seine sämtlichen Münzen in den Automaten warf und sich sein Getränk bestellte.

Melvin trat an den Automaten und suchte sich seinerseits ein Getränk aus. „Jedenfalls wäre es cool, wenn wir in derselben Stadt studieren, wir könnten auch zusammen ne Wohnung suchen – Eugen?“

Eugen starrte in Gedanken auf seine Flasche. „Ja, ich war nur etwas abgelenkt. Guck dir mal das Etikett an, woran erinnert dich das?“

Das Bildchen zeigte die Silhouette eines Strandes mit Leuchtturm. Davor waren die Umrisse eines Mädchens und eines Seehundes zu sehen, die sich einen Strandball zuspielten. „Woran soll mich das erinnern?“, fragte Melvin.

„So sah das doch an der Nordsee aus, dieser eine Ort da, wo wir vor einem Jahr auf Kursfahrt waren. Da gab es doch auch diese Seehundstation.“

„Äh, okay, wenn du meinst. Ach Mist, jetzt hast du mich abgelenkt. Ich habe mich verdrückt.“

„Melvin, was hältst du davon, wenn ich eine Zeit lang da arbeite? Und wenn es nur für den Sommer ist. Die meinten doch, dass die auf der Seehundstation immer Leute suchen. Dann mach ich wenigstens vorerst was Sinnvolles.“

„Du willst an die Nordsee ziehen und da arbeiten? Als Seehunderetter? Weil du ein Bildchen auf ner Flasche gesehen hast? Bis vor zwei Minuten hattest du noch gar keine Ahnung, was du machen willst.“

„Ich weiß auch nicht, es ist wie eine spontane Eingebung.“ Eugen nahm einen Schluck seiner „Beach Girl Mate“. „Schmeckt sogar gut. Was hast du denn da?“

„Das hab ich jetzt aus Versehen gekauft. „Holly Holler“, nein danke. Ich zieh mir noch mal was Neues. Also du kannst dich ja mal bei den Seehundeleuten informieren. Ich fänds zwar cooler, wenn du bleiben würdest, aber wenn dir das guttut, dann freut es mich.“

„Danke, das wäre ja auch nicht für immer. Ich kann ja später immer noch hier ne Ausbildung machen. Und die nächsten Sommertage haben wir auf jeden Fall.“

Melvin legte das unerwünschte Holundergetränk in das Ausgabefach des Getränkeautomaten zurück und stieß mit seiner neu erworbenen Mate mit Eugen an. „Dann sorgen wir besser dafür, dass die nächsten Tage gut werden.“

 

Am Abend zuvor lief die Rentnerin Birgit mit ihrem Terrier Henry durch den Park. Sie hatte den Spaziergang mit ihrem vierbeinigen Freund absichtlich auf die späten Tagesstunden gelegt, um der Sommerhitze zu entgehen. Dieser Plan hatte mäßig funktioniert. Die Hitze war zwar abgeklungen, aber noch immer deutlich spürbar.

Henry hechelte auf Hochtouren. Birgit wünschte, sie hätte besser vorausgedacht und eine Flasche Wasser mitgenommen. „Wir sind bald zu Hause, ein kleines Stück noch.“

Die beiden durchquerten den Park und kamen an einem Obdachlosen vorbei, der mit einer Schachtel Weißwein im Arm auf einer Holzbank eingenickt war. Ein weiterer Grund, warum Birgit diesen Park in Zukunft als Ausflugsziel meiden wollte. Da gab es schönere Orte, in kürzerer Entfernung von ihrer Wohnung.

Da fiel ihr etwas ins Auge. Zunächst dachte sie, sie hätte sich verguckt, doch das Flackern und Flimmern am Ende der Allee entpuppte sich nicht als Fata Morgana, sondern als eine Maschine zum Erwerb von Kaltgetränken. Das kam wie gerufen, sicher gab es da auch ein Wasser für Henry.

Als sie vor dem Kasten stand, stellte sie verärgert fest, dass alles auf Englisch beschrieben war. Was hatte man denn unter „Sunny Delights“ zu verstehen? Immer wieder ging Birgit die Liste durch, bis ihre Augen am „Sundew Water“ hängen blieben. „Water“, das bedeutete Wasser, soweit war sie sich sicher.

Henry setzte sich geduldig neben den Automaten, während die ältere Dame eine Münze in die Maschine fallen ließ. „Ach, das kostet nur achtzig Cent und nicht einen Euro?“ Sie suchte nach einem Knopf um ihr Wechselgeld zurückzubekommen, fand aber keinen. „Alles Geldmacherei!“, murmelte sie zu sich.

Sie betrachtete die Flasche mit der klaren Flüssigkeit und nahm probehalber einen Schluck. Es handelte sich um normales Wasser. „Hier Henry, nimm.“

Gierig schlabberte der kleine Hund das kühle Nass aus dem Flaschenhals und wedelte dabei mit dem Schwanz. Als die Flasche leer war, sah er zufrieden zu seinem Frauchen hinauf. Der restliche Weg Heim wäre nun gemütlich zu bewerkstelligen und das waren die verschwendeten zwanzig Cent allemal wert gewesen.

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