Von Agnes Decker

„Es ist einfacher für mich im Sommer, wissen Sie. Sie haben nicht so viel an. Und ihr Schweiß riecht so süß. Vermischt sich mit dem Duft von Gras und Erde. Das ist wundervoll. Und sie wollen es doch auch. Sonst würden sie doch nicht so herumlaufen, mit den kurzen Röckchen, den winzigen Shorts.“

Ich hole mir eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank, setze mich an den Küchentisch. Ich will sie nicht mehr hören, diese hohe, zarte Stimme. Angewidert drücke ich auf die Mute-Funktion. Mein Laptop versinkt in eine köstliche Stille. Jetzt sehe ich nur noch das Gesicht, blaue Augen, Hornbrille, Bart, sehr hohe Stirn. Ein ganz gewöhnlicher Mann, der nett aussieht  und sogar eine gewisse Attraktivität hat. Der leise, mit einem verlegenen Lächeln spricht, in einer fast poetischen Sprache. Der Mann, der vier Mädchen vergewaltigt und getötet hat.

Ich schalte den Laptop aus und gehe in den Garten, strecke mich auf dem blau-weiß-gestreiften Liegestuhl aus, den ich neben unseren Miniteich platziert habe, und seufze.

Seit Wochen hat die erste Hitzewelle des Jahres unsere Stadt fest in ihrem Griff.  Wie eine feuchte Wolldecke legt sie sich über alles, erstickt jegliche Lebendigkeit.

Ich berühre mit Daumen und Zeigefinger meine geschlossenen Lider. Gelbe und rote Kreise tanzen vor einem flammenden Hintergrund. Mühsam öffne ich die Augen einen Spalt weit. Die Sonne lässt die Wasserfontäne des Solarspringbrunnens in allen Regenbogenfarben leuchten. Eine Libelle steht darüber. Nur das Schlagen ihrer Flügel zeigt, dass sie lebendig ist. Die Luft um sie herum vibriert, hüllt die Welt in eine knisternde Klarsichtfolie.

Ich liebe diese heißen Tage, an denen das Leben still zu stehen scheint. Diese Tage, an denen sich die Menschen wie in einem mit Gelatine gefüllten Aquarium bewegen, jede Bewegung eine unendliche Anstrengung. Und ich liebe meine heilige halbe Stunde. Mittags, hier im Garten. Nichts tun, nur sein. Dem Summen der Insekten lauschen, dem Plätschern des Springbrunnens, der unermüdlich seine Fontänen nach oben schleudert, um sie, in einzelne Wassertropfen zerstreut, wieder fallen zu lassen. In der Ferne das Aufheulen eines Motors. Ich liebe es, wenn die Gerüche in den Vordergrund meines Seins treten, wie der nach Gras und Lavendel und die scharfen Ausdünstungen meines Körpers. Die Gedanken weggezoomt, nach hinten an den äußersten Rand des Bewusstseins geschoben, immer weiter, bis da nichts mehr ist außer dem Schweiß, der über die Stirn und zwischen den Brüsten entlang rinnt, das Brennen der Sonne auf meinen Schenkeln. Möchte mich fallen lassen in diese lustvolle Leere, diese träge Willenlosigkeit, tiefer und tiefer.

Der Vortrag. Verdammt. Mit aller Kraft rappele ich mich auf und bringe mich in eine aufrechte Position. Seit Wochen liegt er schwer auf meinem Gemüt. Dabei ist jetzt ein guter Zeitpunkt für das Thema: Hitze und Aggression. Ob es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen ansteigenden Temperaturen und der Zunahme von Gewalttaten gibt, wie eine amerikanische Studie herausgefunden haben will? Kann die äußere Hitze die inneren Grenzen aufheben, sie dahin schmelzen lassen, so wie eben, als meine Gedanken sich auflösten und nur noch die Haptik übrig blieb?

Es vibriert unter meinem Oberschenkel. Ich ziehe mein Handy hervor und schaue auf das Foto, auf dem meine Tochter strahlt, als würde ihr die Welt zu Füssen liegen. Ich atme tief ein, muss schlucken vor Rührung.

„Hallo Kathi. Wo bist du?“, rufe ich und ärgere mich zugleich über mich selbst. Das wird sie sicher wieder als Kontrolle auffassen und du “Helikoptermama“ sagen.

„Du Helikoptermama“, sagt sie tatsächlich, und „Anka, nicht Kathi. Mensch Mama.“ Ihre helle Stimme dringt vertraut in mein Ohr.

Anka. So will sie seit kurzem genannt werden. Anka klingt so, so erwachsen, dass es mir ein bisschen wehtut.

„Mama, hörst du? Wir fahren gleich zum See, Sunny und ich und ihre Familie. Ich darf auch hier übernachten. Sie wollen später noch grillen. Und du hast ja sicher genug zu tun. Du hast doch nichts dagegen?“ Meine Tochter redet schnell, sprudelt den Text heraus, den sie sicher gut überlegt hat, damit ich ja sage.

„Ja, ok.“, sage ich dann auch. Ist mir ja selber mehr als recht, so kann ich mich meinem Vortrag widmen. „Ruf mich heute Abend noch einmal an. Viel Spaß und pass gut auf dich auf. Hab dich lieb.“

„Klar. Ich dich auch.“ Im Hintergrund höre ich schrilles Mädchengekicher. Dann ist es still.

Als ich aufstehe, lösen sich meine nackten Beine mit einem Schmatzen von der Kunststoffoberfläche des Liegestuhls. Die Terrassenplatten sind aufgeheizt und brennen unter den Füssen.

 

Im Flur klingelt das Telefon. Natürlich hört es genau in dem Moment auf, in dem ich es erreiche. Ich wähle die Taste zur Wahl des versäumten Anrufes und höre dem Tuten des Freizeichens zu.

„Steiner“, meldet sich eine junge weibliche Stimme.

„Anna Bremer“, antworte ich. „Sie hatten angerufen.“

„Ich bin die Mutter von Sunny. Sie hat ihr Handy vergessen. Ich hab es nicht gern, wenn sie ohne unterwegs ist. Geben Sie mir Sunny doch mal bitte.“

„Sunny?  Ich dachte… Ich habe grade noch mit Ann-Kathrin gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass sie mit Ihnen zum See ist, also mit Sunny und ihrer Familie und Sie sind doch ihre Mutter.“ Ich höre mein unbeholfenes Stammeln und spüre eine Kälte, die über meine Schädelplatte in den Nacken zieht.

„Wieso? Ich dachte, die Mädchen sind bei Ihnen im Garten. Und übernachten dort im Zelt.“

„Bei mir? Nein, hier sind sie nicht. Lieber Gott. Hoffentlich ist ihnen nichts… Wo können sie denn bloß sein?“ Ich spreche schnell, meine Stimme überschlägt sich fast, hört sich jetzt an wie die meiner Tochter.

„Wissen Sie was, Frau Bremer, ich komme zu Ihnen, dann können wir gemeinsam überlegen, wenn es Ihnen recht ist. Was meinen Sie?“

Ich überlege einen Moment. Weiß nicht, ob ich die fremde Frau hier haben möchte, muss ja auch arbeiten. Dann sage ich: „Ja bitte, das ist eine gute Idee“ und gebe ihr die Adresse.

 

Plötzlich macht er mir Angst dieser Sommer. Ann-Kathrin. Sie trägt doch auch so gerne Miniröcke. Und schminkt sich neuerdings. Sieht älter damit aus. Dabei ist sie erst vierzehn. Ich zittere und fühle mich zugleich wie erstarrt. Irgendetwas steckt in meiner Kehle. Ich will, dass es weg geht. Räuspere mich, trinke einen Schluck Wasser. Die Kälte tut gut. Mein kleines Mädchen. Bitte, bitte, lieber Gott, lass es nicht zu, dass ihr jemand weh tut. Niemand hat das Recht, sie anzufassen, sie sich zu nehmen, egal was sie anhat, selbst, wenn sie nackt wäre. Frei soll sie sein, meine Tochter, die Welt erobern, das tun, ausprobieren, was ihr gefällt, selbstbestimmt soll sie sein, ein freier Geist. Wehe dem, der ihr wehtut. Der aufsteigende Zorn löst meine Erstarrung und den Klumpen im Hals.

Ich muss sie hören, wissen, dass es ihr gut geht. Mit fahrigen Händen wähle ich die Nummer. Nach einigen Ruftönen erklingt ihre Stimme. „Tja, Pech gehabt, Anka ist nicht zu sprechen, nach dem Pieps kannst du mir eine Nachricht aufsprechen. Wenn ich mag, rufe ich zurück.“

Ich spüre wieder diese Angst, ganz tief im Bauch. Muss an diesen Mann denken und sein süffisantes Lächeln. „Sie wollen es doch auch…“  Das Klingeln an der Haustür reißt mich aus meinen dunklen Gedanken. Eine junge, braungebrannte Frau in schwarzen Shorts und weißem Tanktop steht davor, die langen, braunen Locken lässig am Hinterkopf hochgesteckt.

„Britta und gerne du, wenn….? “ Sie streckt mir ihre Hand entgegen.

„Ich bin Anna, kommen Sie, komm doch bitte herein.“ Ich versuche vergeblich, die Tränen zu unterdrücken.

„He, Anna,  denen wird schon nichts passiert sein. Es ist doch nicht das erste Mal, dass sie ihr eigenes Ding machen.“ Britta legt die Hand auf meine Schulter. Ich fühle ihre klebrige Wärme und schüttele sie mit einer abrupten Bewegung ab.

Nicht das erste Mal? Was weiß ich denn sonst noch alles nicht von meiner Tochter, die sich jetzt Anka nennt?

„Wahrscheinlich sind sie bei dem Rave am See. Sunny hat letzte Woche davon gesprochen und, dass ihre ganze Klasse hingeht. Gerade fiel es mir ein. Komm, lass uns hinfahren.“ Britta schaut mich auffordernd an.

 

Im Auto sind es gefühlte 60 Grad.  Britta öffnet alle Fenster und fährt los. Schweigend sitzen wir nebeneinander, jede in ihre eigenen Gedanken versunken, schauen auf die fast leere Straße. Die Jalousien an den Häusern sind geschlossen und nur wenige Menschen unterwegs.

„Sie haben so wenig an, es ist einfacher für mich im Sommer“, flüstert die Stimme in meinem Kopf, wiederholt immer wieder das gleiche, hämmert es hinein. „Sie wollen es doch auch, wissen Sie.“

Auf dem überfüllten Parkplatz zwängt Britta in Millimeterarbeit den Fiesta zwischen ein Motorrad und einen Mercedes. Die Türen öffnen sich gerade noch so weit, dass wir uns herauswinden können. Vom See her klingt Musik herüber. „Bum, bum, bum“, hämmert die Bassdrum und lässt meinen Körper vibrieren.

Die Bühne ist direkt am See aufgebaut, davor Unmengen junger Leute, tanzend, feiernd. Ich wische mir den Schweiß aus dem Gesicht und folge Britta, die einen Plan zu haben scheint. Wir quetschen uns durch die Feiernden, es riecht nach Schweiß, Alkohol und Haschisch. Ob sie wohl auch Drogen…? Anka? Oder,  wenn jemand den Mädchen….. Man hört doch öfter, dass sie ihnen etwas ins Getränk mischen.

„Komm, Anna, wir sind gleich vorne. Da waren sie beim letzten Mal auch.“ Britta schiebt sich energisch durch die dichter gewordene Menschenmenge, nimmt meinen Arm und zieht mich hinter sich her.

„Da“, brüllt sie mir ins Ohr. „Da sind sie.“

Ich schaue in die Richtung, in die Britta zeigt. Da ist sie, meine kleine Tochter. Ihre blonden langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der im Takt der Musik auf- und ab hüpft.

„Möchtest du auch ein Bier?“ Britta zwinkert mir zu. „Lassen wir sie doch noch ein bisschen feiern, was meinst du?“

Ich nicke. Dann drehe ich mich noch einmal um und schaue meiner Tochter zu, wie sie in ihr Leben tanzt.

 

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