Von Ellen Loeper-Cremer

Nichts bleibt, mein Herz. Bald sagt der Tag gut‘  Nacht.

Sternschnuppen fallen dann, silbern und sacht,

ins Irgendwo, wie Tränen ohne Trauer.

Dann wünsche Deinen Wunsch, doch gib gut acht!

Nichts bleibt, mein Herz. Und alles ist von Dauer.                    

(Erich Kästner)

 

Zwei Tage im August

 

Rosa presste sich in das trockene, halbhohe Gras. Ihr Herz raste, gleich würde es in tausend Stücke zersplittern und ihre magere Brust zersprengen. Die Augen fest geschlossen, die Arme über den Hinterkopf verschränkt, lag sie auf dem Bauch. Glitzernde Funken tanzten vor ihren Augen, kreuz und quer, als wollten sie sie mit auf die Reise nehmen, weit, weit fort. Überall hin, nur nicht hier sein.

`Bitte, lass sie vorbeifahren!‘… Aber sie war ja auch selber schuld. Die flirrende Hitze hatte sie träge gemacht und die Zeit vergessen lassen. Zu Recht sagte die Mutter immer `Kleine Vergehen bestraft der liebe Gott sofort´. Das hatte sie nun von ihrer Trödelei.

Bisher hatte sie immer Glück gehabt. Hatte weglaufen und sich rechtzeitig verstecken können, wenn sie die Soldatentrupps von weitem kommen sah. Und die Bauernfamilie, bei der sie untergekommen war, war gut zu ihr. Sie gaben ihr einen Schlafplatz, zu Essen und zu Trinken. Dafür musste sie auf dem Feld helfen, in Haus und Hof zur Hand gehen. Lange wollte sie nicht bleiben, aber sie musste erst zu Kräften kommen. Danach würde sie sich wieder auf den Weg machen, musste weiter nach Mutter und Vater, nach ihren Geschwistern suchen. Irgendwo da draußen waren sie.

`Bitte, lass sie vorbeifahren!‘

 

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Es kostet sie viel Kraft, die ganze Zeit aufrecht im Bett zu sitzen, aber Rosa will diese Augenblicke mit ihren Lieben nicht liegend erleben.

Alle sind im Laufe der vergangenen Woche noch einmal bei ihr gewesen. Sie fragt nach, lässt sich in allen Einzelheiten erzählen, wie das Studium läuft, was der Job macht, ob die Kleine schon zahnt oder wohin der nächste Urlaub gehen soll. Jedes Wort fällt tief in ihr Inneres, hallt wie ein zartes Echo in ihren Gedanken nach, jede liebevolle Geste nährt sie. Wenn sie dann abends alleine in ihrem Zimmer liegt, holt sie diese kostbaren Glücksmomente hervor, betrachtet sie immer wieder und erlaubt es sich, sich sicher und geborgen zu fühlen.

Montag würde die Behandlung beginnen, von der sich alle viel versprechen und die ihr noch ein bisschen Zeit verschaffen soll. Aber Rosa weiß, dass es nicht so sein wird. Sie will nicht mehr Zeit gewinnen.

 

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Zu spät, es war zu spät. Dieses Mal hatte der liebe Gott kein Erbarmen mit ihr. Schwere Schritte kamen näher. Hände packten sie, drehten sie um, zogen sie grob aus ihrem dürftigen Grasversteck, das nicht ausgereicht hatte, ihren dürren Körper vor den suchenden Blicken zu verbergen. Sie wurde aufs hintere Verdeck geworfen, ihr Kopf knallte auf den Wagenboden, Heu und Steine bohrten sich in ihren Rücken.

Rosa wusste, was nun mit ihr passieren würde. Oft genug war sie davor gewarnt worden, hatte es von sicheren Verstecken aus schon mit anhören müssen. Hingesehen hatte sie nie, hatte sich mit den Händen die Ohren zugehalten, die Lippen zusammengekniffen, damit auch ja kein Laut nach außen drang. Die Augen hatte sie immer so fest zusammengepresst, bis sie schmerzten. Aber das war egal. Sie hatte die Blitze und Funken gezählt, die zeigten ihr einen Weg in der Dunkelheit, dem konnte sie folgen. Nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen. Nur das Wummern und Pochen in ihrem Inneren hören. Bis draußen wieder alles ruhig war. Bis sie wieder weg waren und sie vorsichtig, ganz vorsichtig die Augen geöffnet und sich zurück in die Welt getraut hatte.

Zu spät… `Nu davai!` Rosa presste ihre Augen fest aufeinander. `Bitte lieber Gott, lass mich am Leben. Ich will nur am Leben bleiben. Bitte, lieber Gott!‘

Und die Blitze begannen ihren Tanz.

 

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Die Kinder werden sich sicher wundern, wenn sie ihr Haus leerräumen. Mit dem Revolver in ihrem Nachtschränkchen werden sie nicht rechnen. Rosa muss lächeln, als sie an die kleine Plastikwaffe denkt. Nie wäre sie dazu fähig gewesen, auch dem kleinsten Lebewesen nur ein Haar zu krümmen. Und als Krankenschwester ist es ihr immer ein tiefes Bedürfnis gewesen, Menschen zur Seite zu stehen. Aber mit dem Tod ihres Mannes ist die Angst langsam wieder in ihr hochgekrochen und hält ihr Herz fest umklammert. Dieses Karnevalsspielzeug gibt ihr wenigstens die Illusion, einer Situation nicht wieder völlig hilflos ausgeliefert zu sein.

Seit Rosa alleine im Haus lebt, ist Mimi ihr Frühwarnsystem geworden. Wenn sie nachts schweißgebadet hochschreckt, geht ihr Blick sofort auf die andere Seite des Ehebettes, die ihre Katze nun für sich beansprucht. Aber Mimi rührt sich nicht. Behaglich eingerollt schlummert sie friedlich weiter und jagt mit zuckenden Pfoten durch ihren Katzentraum. Gott sei Dank! Da sind keine schweren Schritte, die die Treppe hochpoltern, keine lauten Stimmen, die die Stille zerreißen! Alles ist ruhig im Haus. Trotzdem hämmert ihr Herz noch lange nach.

 

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Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Sternenhimmel. So unendlich, so tief. Irgendwo, nicht weit weg, gluckste ein Bach, Bäume rauschten in der Ferne. Eine Nachtigall sang ihr Lied. Alles war so ruhig, so friedlich. Die Sommernachtluft wehte sanft über ihr wundes Gesicht, umfing seidig weich ihren geschundenen Körper.

Rosa sah nur diesen wundersamen Nachthimmel mit den glitzernden Sternschnuppen über sich. Wie von selbst kamen ihr die Zeilen eines Gedichts in den Sinn… Nichts bleibt, mein Herz. Bald sagt der Tag gut‘ Nacht. Sternschnuppen fallen dann, silbern und sacht, ins Irgendwo, wie Tränen ohne Trauer. Dann wünsche Deinen Wunsch, doch gib gut acht! Nichts bleibt, mein Herz. Und alles ist von Dauer…

Brüchig stolperten die Worte aus ihr heraus, immer und immer wieder, brachten sie zurück ins Leben. Irgendwann gelang es ihr, sich aufzurichten. Ihre Augen blickten groß um sich, flüssigschwarze Reflexe brachen sich in ihren Pupillen. Keine Träne hatte sie vergossen. Sie war immer nur den Blitzen gefolgt. Die hatten sie davongetragen, hatten ihr einen Weg gezeigt, der keine Tränen erlaubte.

Sie lief los, langsam erst, dann immer schneller. Schließlich so schnell, wie noch nie in ihrem Leben. So schnell, dass ihre dicken, schwarzen Zöpfe hart gegen ihre knochigen Schulterblätter schlugen. Aber da war kein Schmerz. Keine Angst, keine Wut. Gar nichts. Angetrieben durch den wilden Galopp ihres Herzens flog sie durch die Nacht.

 

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Die Kinder sind gegangen, es ist immer noch drückend im Zimmer. Silbrig schimmernd legt sich die Nacht langsam über den verglühenden Tag. Rosa schließt die Augen und lässt sich in eine grenzenlose Müdigkeit fallen. Einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. Sie weiß, dass heute der Tag gekommen ist.

Ihr Herz flattert schmetterlingsgleich, Worte und Bilder durchströmen sie in einer Endlosschleife.

Der Sommer meinte es nicht immer gut mit ihr. Dabei liebt Rosa diese Jahreszeit so sehr, kann es kaum erwarten, zu buddeln und zu pflanzen. Knirschende Kniegelenke und Schulterknacken werden eisern ignoriert, der Garten muss versorgt werden. Gerade jetzt blüht er wieder in den schönsten Farben. Ihren ersten Kaffee genießt sie am liebsten draußen auf dem kleinen Bänkchen, umrahmt von üppigen Hortensien, Stockrosen und Königskerzen und mit dem taufrischen Duft von Minze und Kamille in der Nase. Sie schließt die Augen, atmet die belebende Morgenluft ein und genießt ein paar Augenblicke tiefer Zufriedenheit.

Sie ist gerade im Garten, ein herrlicher Sommertag kündigt sich an, als vor einem Jahr das Telefon klingelt. … Ihr ältester Sohn – Herzinfarkt … Viele Tode hat sie erlebt, dieser ist der bitterste. So viele Kämpfe hat sie durchgestanden, jetzt ist ihre Kraftquelle endgültig versiegt. ‚Ich hab‘ einfach keinen Mumm mehr in den Knochen. Ich will, dass du mich holst.‘

Fast ist sie erleichtert, als der Arzt ihr wenige Monate später die Diagnose mitteilt. Den Kindern sagt sie zunächst nichts. Sie trifft in aller Ruhe ihre Vorbereitungen und regelt alles Nötige. 

 

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„Marjellchen, da bist du ja endlich, dachten schon, wir sehn‘ dich nich mehr wieder. Und wie siehst‘ nur aus!?“ Rosa war in die Stube getreten und schaute die Bauersfrau stumm an. Die wusste mit einem Blick auf das Mädchen sofort Bescheid, schob sie in die Waschküche und versorgte die schlimmsten Wunden. Wortlos ließ Rosa alles über sich ergehen. Sie protestierte auch nicht, als die Frau eine großes Messer nahm und ihr die schweren Zöpfe bis zum Haaransatz abschnitt. „Hätten wer mal besser frühjer jemacht. Aber nu is auch nuscht mehr dran zu ändern. Musst halt besser aufpassen das nächste Mal.“

Das mit den Zöpfen hatte nicht immer was genützt. Erst als Rosa ganz kahl wurde, nicht mehr weiterwuchs und mager war wie ein Reisigzweig, war sie sicher gewesen. Trotzdem blieb sie immer auf der Hut. Wie ein junger Wolf hatte sie immer besser gelernt, Gefahren rechtzeitig zu sehen, zu hören, zu riechen, ja sogar zu schmecken. Sie wurde Meisterin darin, Tod und Teufel so manches Schnippchen zu schlagen oder sich, falls nötig, mit beiden zu arrangieren. Und der liebe Gott half ihr oft dabei.

 

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Es ist ganz still. Rosa blickt durch das große Fenster. Die tiefe Unendlichkeit des Augusthimmels füllt ihre braunen Augen aus, über die sich langsam ein matter Schleier legt. Sterne funkeln herab und wollen sich in ihren Pupillen spiegeln. Rosa schließt die Augen. …Sternschnuppen fallen dann, silbern und sacht…

Und da sind sie wieder, alle Drei: der liebe Gott, der Tod und der Teufel, ihre verlässlichsten Begleiter. Sie spürt, die Macht des Teufels ist endlich vorbei, seine Zeit endet heute. Keine Ängste mehr, keine Gefahren, keine Kämpfe, keine Schmerzen.

Für die beiden andern ist sie bereit. Erleichterung flutet ihr Herz.

 

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