Von Miklos Muhi

Charlie war der vielleicht beste Experte für IT-Sicherheit, der je gelebt hatte. Er beherrschte auch mehrere Sprachen. Die Arbeitgeber aus dem In- und Ausland rissen sich förmlich um ihn.

 

Er lebte allein und hatte keine Freunde. Eine genetische Krankheit in seiner Familie, die bei Charlie noch keinerlei Anstalten machte, auszubrechen, sorgte dafür, dass nur sein Onkel Waldemar das Rentenalter erlebte.

 

Waldemar war ein ausgesprochen schwieriger Zeitgenosse. Charlie mochte ihn trotzdem und besuchte ihn regelmäßig, bis der Onkel unerwartet verstorben war.

 

Als Alleinerbe musste er sich um die Hinterlassenschaft kümmern. Er sichtete alle hinterlassenen Dokumente und bestellte eine Sperrmüllabfuhr. Nach der längst fälligen Renovierung gab er die Wohnung dem Vermieter zurück.

 

Das Unglück ereilte Charlie zehn Tage nach der Wohnungsübergabe. Seine verkohlte Leiche wurde in einem abgebrannten Haus in einer heruntergekommenen Gegend aufgefunden. Man hatte ihn anhand seines Zahnschemas identifiziert. Er war wohl in etwas hineingeraten: In seiner Wohnung fand man keine Wertgegenstände und alle seine Konten waren leer geräumt.

 

Aktuelle und ehemalige Kollegen kamen für seine schlichte Beerdigung auf. Was von seinem Körper übrig geblieben war, wurde eingeäschert und anonym in einem Bestattungswald beigesetzt.

 

*

 

»Señor Gomez, Ihr Taxi ist da. Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte der Geschäftsführer des Reisebüros.

»Danke, ich habe alles, was ich brauche«, antwortete Antonio Gomez.

»Wenn Sie wieder nach München kommen und kurzfristig ein Ticket brauchen, stehen wir selbstverständlich zu Ihrer Verfügung.«

»Ich weiß nicht, ob und wann ich zurückkomme. Das würde ich gerne. Ich habe in München studiert. Jetzt muss ich aber wirklich los. Auf Wiedersehen!«

»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug. Auf Wiedersehen!«

Antonio verließ das Reisebüro und stieg ins wartende Taxi.

 

»Guten Tag«, grüßte der Fahrer. »Wo möchten Sie denn hin?«

»Guten Tag. Zum Flughafen bitte.«

»Wie Sie wünschen mein Herr«, antwortete der Fahrer.

 

*

 

Charlie vermutete, dass Onkel Waldemar sich das Leben genommen hatte. Er fand Hinweise darauf, dass er auf einen Betrüger hereingefallen war. Die aufgefundenen Verträge für Geldanlagen waren eigentlich kompliziert formulierte Schuldscheine. Onkel Waldemar bezahlte die fälligen Summen pünktlich, bis seine beachtlichen Ersparnisse aufgebraucht waren und wartete auf die versprochene Traumrendite.

 

Er war kein Jurist und kannte sich auch nicht mit Geldanlagen aus, aber dämlich war er deswegen noch lange nicht. Er hatte Fragen gestellt, denn der letzte Brief, der ihn erreicht hatte, kam von der Anwaltskanzlei der Firma Kranich Holding. Darin wurde er belehrt, dass er seinen Teil noch nicht erfüllt hätte und man drohte ihm mit einem Prozess wegen Verleumdung und mit einem Inkassoverfahren.

 

Wahrscheinlich übernahm der berüchtigte Stolz des alten und weder körperlich, noch geistlich ganz gesunden Onkel Waldemars an dieser Stelle die Führung. Einer Betrügerbande ausgeliefert und ohne Mittel sich zu wehren, beschloss er womöglich, dass das Ganze nunmehr sinnlos geworden war. Er hinterließ Charlie einen beachtlichen Schuldenberg.

 

*

 

Auf dem Weg zum Flughafen holte Antonio ein Laptop aus seiner Tasche und ging mithilfe seines Handys online. Er traf einige Vorsichtsmaßnahmen, um zu verhindern, dass man ihn anhand seines Datenverkehrs identifizieren konnte.

 

Zuerst sperrte er Handy und Festnetzanschluss von Otto Kranich, dem Inhaber der Firma Kranich Holding. Bald war auch das Sicherheitssystem seines Hauses außer Betrieb. Für die Bewohner und für den Sicherheitsdienst, der das Haus bewachte, sah jedoch alles in Ordnung aus.

 

Ein kurzer Blick auf die Kontenbewegungen der Kranich Holding mithilfe der schlecht gesicherten Online-Banking-Anwendung verriet, dass der siebenstellige Saldo nicht nur aus den Einzahlungen betrogener Kunden stammte, sondern hauptsächlich aus Summen, die ganz schweren Jungs gehörten und gewaschen werden sollten. Namen und Kontaktdaten waren in einem unverschlüsselten Dokument abgespeichert.

 

Antonio besuchte eine Seite im Darknet, auf der man SMS von beliebigen Handynummern schicken konnte, ohne dass man im Besitz des Gerätes oder der SIM-Karte war. Er gab Ottos private Handynummer ein und schickte eine SMS einem gewissen Herren Giacomo Antonio Ganzitti, einem Geschäftsmann aus Palermo, der ganz oben auf der Kontaktliste stand. In der Kurzmitteilung thematisierte er die vermutete sexuelle Vorliebe der Mutter des genannten Herren für Tiere, vor allem für Hengste.

 

Dann überwies er alles, was die betrogenen Kunden eingezahlt haben, auf ihre Konten zurück. Die immer noch ganz schöne Stange Geld, die danach auf den Konten des Oliver Kranich und der Firma Kranich Holding übrig blieb, überwies er auf sein anonymes Konto auf den Kaimaninseln. Fast sofort landeten drei Viertel davon auf sein online eröffnetes Privatkonto in Kolumbien.

 

*

 

Wegen erblich bedingter Zahnprobleme musste Charlie oft zum Zahnarzt, zu einem gewissen Dr. Fries. Der Doktor war nicht mehr der jüngste und kannte sich nicht so gut mit dem ganzen EDV- und Internet-Zeug aus.

 

Unter seinen Patienten war auch ein gewisser Dr. Bernhard Floßmann, eine tragische Figur und ein ehemaliger Freund von Dr. Fries. Für irgendwelche falschen Ideale hatte Floßmann seine Approbation, seinen Job und letztendlich sein Leben weggeworfen. Er wurde obdachlos, trank viel, nahm Straßendrogen und schnüffelte Lösungsmittel, trotz gravierender Herzprobleme. Oft übernachtete er in verlassenen Häusern in schlechten Gegenden.

 

Kurz nach dem Brand, dem Charlie zum Opfer fiel, wurde ein gewisser Señor Antonio Gomez beim Konsulat der Republik Kolumbien vorstellig, um den Verlust seines Personalausweises und Reisepasses anzuzeigen. Der Mitarbeiter des Konsulats überprüfte natürlich seine Angaben und fand alles in einem etwas altmodischen EDV-System einer entlegenen Provinzstadt. So stellte er den geforderten Pass aus.

 

Antonio kaufte sich ein Ticket für den nächsten Flieger nach Bogotá. Eine feste Arbeit hatte er zwar noch nicht, aber als einer der besten Fachmänner für IT-Sicherheit war er zuversichtlich, eine gute Stelle finden zu können, zum Beispiel in Medellín, in der Hauptstadt des ewigen Frühlings.

 

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