Von Björn D. Neumann

Die anonyme Stimme aus dem Telefonhörer klang verzerrt. Es waren nur einzelne, zusammenhanglose Worte:

Operation Victor – Echo – November – Uniform – Sierra – Tango – Romeo – Alpha – Papa

***

Swetlana befand sich in den letzten Takten ihres Todeskampfs. Nur noch wenige Drehungen, noch einige Sprünge, dann würde sie in sich zu Boden sinken. Die Beine angewinkelt, den Kopf auf den Armen ruhend. Noch einmal stieß sie tief die Atemluft aus den brennenden Lungen. Dann verklang die Musik. Wenige Sekunden Stille und der Orkan brach los. Tosender Applaus. Nichts hielt nach dieser perfekten Vorstellung die Besucher des weiten Runds des Bolschoi-Theaters auf den Sitzen. Bis auf den Besucher der Loge, die der Bühne am nächsten war. Ihre Blicke trafen sich. Sein Blick kalt, der Applaus mechanisch. Die schmalen Lippen umspielte ein freudloses Lächeln. Schon Josef Stalin saß in dieser Loge. Saß auf einem der goldverzierten, rot gepolsterten Sessel und beobachtete die Ziele seiner Begierde. Heute war es nicht mehr Stalin. Der Machtanspruch war aber derselbe. Das alte Spiel heute noch so wie früher.

***

Die Primaballerina verließ das Theater. Sie trug ein langes, rotes Abendkleid. Das tiefe Dekolleté schmückte ein sündhaft teures Diamanten-Collier. Halsbrecherische High-Heels klackten auf dem nassen Asphalt. Noch einmal blickte sie in ihren Schminkspiegel. Die Lippen verführerisch rot, das blonde Haar streng hochgesteckt. Sie bewegte sich zu der wartenden Luxus-Limousine. Das Ziel war das höchste Gebäude der russischen Hauptstadt. Der Federation Tower, von der Bevölkerung Federazija genannt. Der öffentliche Aufzug des Wostok-Turms brachte sie bis in die 93. Etage. Von hier aus führte ein Privataufzug in das Penthouse des Gebäudes. Swetlana zog den Sicherheitsausweis aus ihrer Handtasche. Die beiden Bodyguards vor der Aufzugstür nickten stumm und gaben den Weg frei. Das Apartment war eine der teuersten Immobilien der Metropole. Für Swetlana stand sie zur freien Nutzung zur Verfügung. Einer der vielen Vorteile ihrer Liaison. Der Ausblick war atemberaubend. Es war, als würde man über der Stadt schweben. Ein kuppelartiges Glaskonstrukt umrahmte die dreigeschossige Wohnung. Meterhohe Bücherregale, freischwebende Galerien. Teilweise schienen die Grenzen der Schwerkraft aufgehoben zu sein. Doch letztendlich war es ein gläserner Käfig. War es Ironie, dass er sie liebevoll Golub – „Täubchen“ nannte?

Wladimir stand mit dem Rücken zu ihr an einer der Glasfronten. Der Blick schweifte über „seine“ Stadt. Epizentrum seines Reiches. Er blickte sich um, ohne sie anzusehen.

„Komm her.“ Seine Stimme zeugte davon, dass er es gewohnt war Befehle zu geben.

Swetlana trat hinter ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Du hast wieder alle verzaubert.“

„Das ist mein Job. Dafür wurde ich ausgebildet.“

„Ich hasse es, wenn dich alle angaffen.“

„Und doch werde ich dafür bezahlt.“

„Du musst nicht arbeiten.“

„Ah, ja. Wie lange würde es dauern, bis du mich gegen die nächste Ballerina austauschst?“

Wladimir lachte auf. „Du kennst mich zu gut.“ Mit einer einladenden Geste wies er auf das Tischchen neben sich. Eine Dose weißer Almas-Kaviar stand in einem Bett aus crushed Eis bereit. Daneben eine Flasche Wodka und zwei Gläser.

„Müssen deine Leibwächter quasi vor der Tür stehen?“

„Du weißt, dass das Protokoll es so verlangt.“

„Ich fühle mich trotzdem beobachtet.“

„Wenn du Angst hast, dass die Jungs Videos aufnehmen, kann ich dich beruhigen. Jedenfalls nicht, wenn ich hier bin.“ Wladimir machte eine Pause. „Und auch nicht, wenn du alleine bist.“

Swetlana schenkte den Wodka ein und reichte ihm ein Glas. Elegant schob sie sich zwischen ihn und das Fenster. So nah, dass sich ihre Gesichter fast berührten. Ihre Augen in seinen versunken.

„Du musst nicht eifersüchtig sein, moy malenkiy Tsar – mein kleiner Zar.“

Wladimirs Gesicht versteinerte. Mit Daumen und Zeigefinger fasste er ihr Kinn und fixierte sie mit seinem Blick. „Das würde dir auch nicht bekommen.“ Dann fasste er sie bei den Schultern, drehte sie abrupt mit den Rücken zu sich. So gewaltsam diese Aktion war, um so zärtlicher machte er sich nun an ihrem Reißverschluss zu schaffen. Langsam, Zentimeter für Zentimeter öffnete er das Kleid. Sein Atem in ihrem Nacken ließ die kleinen Härchen aufrichten. Das Kleid fiel zu Boden. Swetlana drehte sich zu ihm um. Mit einer Hand löste sie das hochgesteckte Haar, das sanft über ihre nackten Schultern glitt. Mit flüssigen Bewegungen öffnete sie ihren Spitzen-BH, der sich zu ihrem Kleid gesellte und von einem Nichts von Höschen gefolgt wurde. So stand sie jetzt vor einem der mächtigsten Männern der Welt. Lediglich mit halterlosen Strümpfen und sündhaft hohen roten Pumps und Diamanten bekleidet.

Wladimir packte sie beim Oberarm und zog sie zum Bett, das ebenfalls einen wundervollen Ausblick auf Moskau bot. Swetlana legte sich lasziv rücklings auf die Laken und beobachtete Wladimir, der sich hektisch seiner Kleidung entledigte. Der aufgedunsene Körper war mittlerweile von Alter und Krankheit gezeichnet. Entweder sind seine Aufnahmen mit freiem Oberkörper gut gephotoshopt, oder sein Körper zerfällt doch schneller als gedacht, überlegte Swetlana und befahl sich, ihn zumindest ansatzweise sexuell attraktiv zu finden. Nur mit Boxershorts bekleidet, legte er sich neben sie. Er küsste ihren Hals und wanderte Stück für Stück tiefer, liebkoste ihre kleinen, festen Brüste mit der Zunge. Swetlana stöhnte auf und drückte ihren Rücken durch, was ihn bestärkte, weiterzumachen. Er arbeitete sich schnell weiter vor. Sie spürte seinen Atem schon auf ihrem Venushügel. Und dann ging alles ganz schnell. Mit einer geschmeidigen Bewegung umschloss sie seinen Hals in einer Beinschere und drückte zu. Verzweifelt versuchte Wladimir sich zu befreien und wäre er noch in der Form des ehemaligen Karatekämpfers gewesen, wäre es ihm mit Sicherheit auch gelungen. Doch so kämpfte er vergeblich gegen den nahenden Tod. Als Wladimirs Blick erlosch und er seinen letzten Atemzug tat, schrie Swetlana ihre Erregung heraus und ihr Körper bebte.

Jetzt musste alles schnell gehen. Im Kleiderschrank stand der vorbereitete Koffer. Sie zog den Overall, Rucksack mit Fallschirm, Einsatzstiefel, Schutzbrille und Helm an. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen kontrollierte sie, ob die Stoffflächen des Wingsuits ordnungsgemäß saßen. Ein letztes Mal warf sie Wladimir einen Blick zu und hauchte ihm einen Handkuss zu.

„Das war das erste Mal, dass du mich zum Kommen gebracht hast.“

Mit schnellen Schritten rannte sie in die oberste Etage des Penthouses. Hier war die einzige Möglichkeit, unbemerkt zu entkommen. Sie öffnete die Serviceklappe, die sie aufs Dach bringen würde. Mit einem Klimmzug zog sie sich auf das gläserne Konstrukt und wäre fast von einer Böe erfasst worden. In gebückter Haltung ging sie zur Dachkante, richtete sich auf, breitete die Arme aus wie Flügel und sprang.

Noch nie in ihrem Leben fühlte sie sich so frei. Ihre Berechnungen ergaben, dass sie bei einer Fallhöhe von 374 Metern und einem Gleitflug von ca. 1:2,5, den nahegelegenen Krasnya Presnya Park problemlos erreichen würde. Mit einer gekonnten Rolle landete sie auf einer der Rasenflächen. Schnell verwandelte sie den Wingsuit in einen normalen Overall und raffte den Fallschirm zusammen, den sie in einem naheliegenden Gebüsch versteckte. Am Eingang des Parks stand ein Motorrad bereit. Mit quietschenden Reifen bog sie auf die Hauptstraße.

Über die Freisprechanlage ihres Helmes meldete sich eine Männerstimme.

„Lage?“

„Charlie ist eliminiert, Mr. Secretary!“

„Schlagen Sie sich zur finnischen Grenze durch. Ein SEAL-Team wird Sie dort einsammeln. Und … guter Job!“

***

Der Secretary of State betrat das Oval Office. Der Präsident der Vereinigten Staaten war in einer Akte versunken.

„Mr. President?“

„Sprechen Sie, Mr. Secretary!“

„Die Operation ‚Venustrap‘ ist angelaufen. Charlie wurde aus dem Spiel genommen.“

„Sehr gut. Weiter so! Kümmern wir uns jetzt um Delta.“

***

Sumi hatte es eilig, sie war schon spät dran. Heute hatte sie einen wichtigen Auftritt vor hohen Partei-Funktionären im Pyongyang People’s Theatre. Vor dem wichtigsten Partei-Funktionär. Sie war Mitglied der Moranbong Band. Einer Girl-Band, die vom obersten Führer der Volksrepublik Nordkorea ins Leben gerufen wurde. Er selbst hatte sie aus der „Armee der tausend Schönheiten“ dafür ausgewählt. Und heute Abend hatte sie ihn zu unterhalten. Als sie schon fast zur Tür hinaus war, klingelte das Telefon. Eine mechanische Männerstimme sagte nur die Worte:

Operation Victor – Echo – November – Uniform – Sierra – Tango – Romeo – Alpha – Papa

Das war das Todesurteil für Delta.

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