Von Agnes Decker

Wenn die vor mir Stehenden sich nicht bewegen, kann ich zwischen ihren Köpfen durchschauen und einen Blick auf den jungen Pfarrer werfen, der das „Vater Unser“ anstimmt. Ich glaube, es würde dir gefallen, mein Freund. Du hättest gerne mitgesungen. Deine warme Stimme würde sich in die Luft schwingen und von dem Chor der anderen abheben. So, wie sich dein Leben abgehoben hat von dem der anderen.

Die Menge setzt sich in Bewegung. Alleine oder zu zweit treten sie vor, nehmen Rosen aus einem der Körbe, die man ihnen hin hält. Weisse Rosen. Die hast du geliebt. Man könne sie im Dunkeln leuchten sehen, hast du gesagt, wenn wir auf der Terrasse deines Hauses saßen und dem Plätschern des Flusses lauschten. Im Dunkeln, ein Glas Wein in der Hand. In dem Haus, das es nicht mehr gibt. Das mit dir gegangen ist.

Ich trete vor. Schritt für Schritt. Jetzt stehe ich vor diesem grauenhaften Loch. Lasse eine Rose hineinfallen. Schaue ihr nach, wie sie hinab torkelt, sich zu den anderen gesellt, die der dunklen Grube Licht geben. Greife nach der Schaufel , bücke mich und tauche sie in die Erde. Mit einem polternden Geräusch landet sie auf deinem Sarg. Eiche mit Schnitzereien. Weinreben, Gläser, Weinflaschen. Pompös. Teuer. Besonders. Ich schwanke, als ich mich nach vorne beuge, um zu verbergen, dass ich dreimal in dein Grab spucke. So, wie ich es vor vielen deiner Auftritte getan habe. Wenn ich neben dir stand und deine vor Lampenfieber feuchte Hand hielt. „Toi,toi,toi, Charly. Dein letzer Vorhang.“

Letzte Nacht habe ich wieder von dir geträumt, mein Freund. Wie in so vielen Nächten. In denen ich aufschrecke. Schweißnass. Nach dem Handy greife und erwarte, deine Stimme zu hören. Deine Stimme, die sich tief in meine Seele gebrannt hat. Die Brüchigkeit darin. Die Angst, die sich mit dem Rauschen des Wassers vermischte und den Geräuschen der aufeinander prallenden Gegenstände, die es fortriss: „Das Wasser steht bis zum halben Erdgeschoss. Die Türen lassen sich nicht mehr öffnen. Ich komme hier nicht mehr raus.“ Dann wurde es still.

 

 

Ein Jahr später stehe ich wieder hier. Schaue auf die weißen Rosen vor dem schwarzen, glänzenden Grabstein mit dem goldenen Engel neben deinem Namen, und der Inschrift darunter: „In Gedenken an die Flutopfer vom 14./15 Juli 2021“.

 

Version 3                   

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