Von Vanessa Wedekämper

Heute ist ein ganz besonderer Tag für Charly. Er plant ihn schon seit Monaten. Seit drei Monaten, zwei Wochen und vier Tagen, um genau zu sein. Denn heute, ist er seit einem Jahr mit seiner Freundin Meike zusammen. Zu diesem Anlass möchte er sie fragen, ob sie zusammenziehen. Charly möchte mit ihr ein Picknick an einem See machen. Genau an dem See, an dem sie eines ihrer schönsten Dates gehabt haben. Dem, der so dicht mit Bäumen umwachsen ist und wo Enten auf dem Wasser planschen. Dort will er ihr einen Schlüsselanhänger schenken und ihr dann die Frage stellen. Gut, der Anhänger wurde leider noch nicht geliefert, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Und wie alle gut geplanten Tage verläuft auch dieser ganz anders als erwartet. Und damit meine ich nicht nur, dass Charly sich heute Morgen, als er schlaftrunken ins Badezimmer gelaufen ist, den Zeh am Türrahmen gestoßen hat.

 

Der schmerzende Zeh ist schon lange vergessen und Charly genießt den Morgen bei einem kleinen Frühstück. Nein, jetzt hat er sich vor Aufregung den Frühstückskaffee über die Hose gekippt. Er springt auf und unterdrückt einen Schmerzensschrei. Oh Gott, der Kaffee hat wohl noch lange keine Trinktemperatur gehabt. Ohne nachzudenken, rennt er ins Badezimmer, springt unter die Dusche, und dreht den Wasserhahn voll auf. Als das kühle Wasser auf die verbrühte Haut trifft, lässt der Schmerz langsam nach. Vorsichtig krempelt er das Hosenbein hoch, um sich die verletzte Stelle anzusehen. Es sieht schlimm aus, aber nicht so schlimm, wie der Schmerz, der ihn durchfährt, als er sich wieder aufrichten möchte. Er hat sich den Kopf am Wasserhahn gestoßen. Genau an der Stelle, an der der Hinterkopf in den Nacken übergeht. Er sackt zu Boden. Mit dem Gesicht halb am Boden, liegt er regungslos da, während die Duschbrause das Wasser in alle Richtungen verteilt. Charly steht das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Mund. Immer wieder atmet er etwas ein und fängt an zu husten. Charly, Menschen können unter Wasser nicht atmen. Er versucht sich aufzurichten, aber sein Körper gehorcht ihm nicht. Wieder überfällt ihn ein Hustenanfall, bei dem er viel Wasser schluckt. Mit letzter Kraft schafft er es sich auf den Rücken zu drehen.

Nach einigen Minuten lässt das taube Gefühl nach und er kann sich wieder bewegen. Zurück bleibt nur ein dumpfer Schmerz im Hinterkopf. Aber davon lässt Charly sich den Tag nicht verderben, schließlich ist heute ein ganz besonderer Tag. Schnell wischt er die kleine Überschwemmung weg und läuft ins Schlafzimmer, um seine tropfende Hose gegen eine trockene zu tauschen. Immerhin gibt es noch viel zu tun, bevor er sich mit Meike treffen kann.

 

Die Einkäufe fürs Picknick hat er in den letzten Tagen schon erledigt. Jetzt müssen noch die Snacks dafür zubereitet werden. Meike hat es nicht gerne, wenn er mit scharfen Messern oder heißen Gegenständen hantiert. Aber das lässt er sich heute nicht nehmen.

 

Jetzt, wo der Nachtisch im Ofen backt, widmet er sich dem Hauptgang. Hierfür hat er sich etwas Besonderes ausgedacht. Er möchte für Meike und sich Sushi zubereiten. Aber nur vegetarisches, denn er hat keine Ahnung wie man einen Fisch filetiert und das hält er für eines der Dinge, die man besser nicht aus dem Internet lernt.

Gekonnt halbiert er eine Avocado. Aber anscheinend hat er Schwierigkeiten, den Kern von der Frucht zu trennen. Was für eine Sauerei das ist. Der Kern ist aber auch verdammt glitschig.

Geschafft! Jetzt schneidet er die Teile, die er dabei nicht total zermatscht hat, in kleine Streifen. Kaum hat er angefangen, die Gurke in zwei Hälften zu teilen, klingelt es an der Tür. Ist das der Paketbote mit dem Anhänger für Meike, auf den er schon seit Tagen wartet? Hastig, ohne das Messer aus der Hand zu legen, rennt er Richtung Wohnungstür. Nicht, dass der Besucher auf die Idee kommt, er sei nicht da. Doch dabei übersieht er eine kleine Pfütze, ein Überbleibsel von seinem Missgeschick heute Morgen. Er rutscht aus. Das Messer fliegt weit nach oben, während er unsanft mit dem Kopf auf dem Boden aufschlägt. Er sieht, wie das Messer wieder von der Schwerkraft gepackt, nach unten gerissen wird. Die Spitze genau auf ihn gerichtet. Er stößt einen stummen Schrei aus. Dann landet das Messer, mit einem lauten Geräusch, als würde eine Axt ein Stück Holz spalten.

 

Nachdem Charly sich vom ersten Schock erholt hat, steht er auf. Das Messer steckt direkt neben seinem Kopf, fast zwei Zentimeter tief im Fußboden. Er schluckt. Das war knapp. Dann fällt ihm wieder ein, warum er es so eilig gehabt hat.

Enttäuscht stellt er fest, dass der Paketbote schon weg ist. Doch aus dem Briefkasten ragt ein Zettel, auf dem steht: Das Paket wurde am vereinbarten Ablageort hinterlegt. Natürlich! Warum hat er nicht gleich daran gedacht? Der Paketbote legt seine Sachen oft in die Papiertonne, wenn er nicht da ist. Und tatsächlich. Auch diesmal liegt das kleine Paket auf einem Stapel alter Zeitungen. Voller Neugierde reißt er die Verpackung auf und enthüllt einen großen, altmodischen Schlüssel, der mit vielen Schnörkeln verziert ist. Auf dem Halm ist Meike & Charly eingraviert. Sie wird diesen Schlüsselanhänger lieben … vorausgesetzt, sie liebt die Vorstellung, mit ihm zusammenzuziehen.

 

Endlich ist alles erledigt. Jetzt müssen die Sachen nur noch ins Auto verfrachtet werden. Und das schnell, denn viel Zeit bleibt ihm nicht, wenn er Meike pünktlich abholen will. Er stopft sich die Picknickdecke unter den Arm, holt das Essen und Meikes Geschenk und macht sich auf den Weg. An der Tür stoppt er kurz, nimmt seinen Schlüssel vom Schlüsselbrett und wirft sich vorsichtshalber eine Jacke über den Arm. Er balanciert die Tupperdosen und Meikes Geschenk auf einem Arm und schließt die Tür ab. Wer jetzt glaubt, dass Charly das liebevoll gekochte Essen herunterfallen lässt, liegt falsch. Er steckt sogar seinen Schlüssel nach dem Abschließen in die Hosentasche, um das Essen besser mit beiden Händen tragen zu können.

 

Unten angekommen ist es wesentlich schwieriger als erwartet, den Schlüssel mit zwei Fingern aus der Hosentasche zu fischen. Doch auch jetzt lässt er das Essen nicht fallen. Den Schlüssel allerdings schon. Mit einem lauten Klirren landet der im Gully. Charly unterdrückt ein leises Stöhnen. Nein. Er lässt sich diesen Tag nicht verderben. Also stellt er das Essen auf dem Gehsteig ab und kniet sich neben den Gully. Nur einige Zentimeter und das Gitter trennen ihn vom Schlüssel. Er rüttelt ein paarmal daran, doch es bewegt sich nicht. Vorsichtig steckt er seine Hand durch die Gitterstäbe und tatsächlich. Es fehlt nur noch ein kleines Stück. Na los Charly, das schaffst du. Er drückt seine Finger weiter hindurch, bis seine Fingerspitzen den Schlüssel berühren. In dem Moment fällt sein Blick auf die Auffahrt des Nachbarn, von der rückwärts ein Auto herunterfährt. Direkt auf Charly zu, der den Schlüssel schon fast hat. Er braucht nur noch einen kleinen Augenblick. Aber das Auto kommt immer näher! Kann sein Nachbar ihn vom Auto aus überhaupt sehen? Charly will aufstehen, seine Hand rausziehen. Aber es klappt nicht. Er steckt fest! Das Auto hat schon den Bürgersteig erreicht. Er zerrt an seiner Hand. Sie brennt, aber er bemerkt den Schmerz kaum und zieht weiter. Doch sie bewegt sich nicht. Im Gegensatz zum Auto, das ihn fast erreicht hat. Mit der freien Hand wedelt er in der Luft, will den Nachbarn auf sich aufmerksam machen. Doch das Auto rollt weiter. Panisch zerrt er an der Hand, schreit und fuchtelt verzweifelt mit der anderen. WUMMS. Endlich gibt die Hand nach und Charlie fällt stöhnend nach hinten. Der Nachbar hat anscheinend von all dem nichts mitbekommen. Und Charly muss einsehen, dass er so nicht an den Schlüssel kommt.

 

Lange muss Charly nicht grübeln. Die Lösung ist naheliegender als erwartet. Hinten im Gemeinschaftsschuppen liegt eine Rolle Panzertape, die er vor ein paar Wochen gekauft hat. Und da der Schuppen nie abgeschlossen ist, weil er zwar oft von allen zum Werkeln benutzt wird, sich dort aber nur wertlose Gegenstände wie Streusalz, Besen und Eimer darin befinden, kommt er dort auch ohne Schlüssel dran.

 

Charly wickelt ein langes Stück vom Panzertape ab und lässt das Ende in den Gully sinken. Mit einem Ast drückt er es am Schlüssel fest und kann so das Band samt Schlüssel herausziehen. Er ärgert sich ein wenig, dass es ihm nicht früher eingefallen ist. Nein. Heute will er sich nicht ärgern. Also packt er die Sachen ins Auto, versorgt in der Wohnung noch schnell seine aufgeschürfte Hand und fährt beschwingt los.

 

Mit einem Lächeln auf den Lippen sitzt er im Auto. Er fährt die Landstraße hinunter und träumt von seiner Zukunft mit Meike. Das Auto, das trotz Stoppschild, ungebremst über die Kreuzung fährt, sieht er nicht.

 

Heute ist ein besonderer Tag für Charly. Heute ist der Tag, an dem er seinen letzten Atemzug gemacht hat. Er ist bei einem Verkehrsunfall gestorben. Wie viele dieser Unfälle wären vermeidbar gewesen.

 

Aber davon lässt Charly sich den Tag nicht verderben. Denn so schrecklich es auch ist, dass er seine Zukunft nicht mit dem Menschen verbringen kann, den er über alles liebt, ist heute dennoch ein besonderer Tag. Es ist der Tag, an dem er fünf Leuten ein neues Leben schenkt. Denn, auch wenn er seinen letzten Atemzug gemacht hat, kann die alleinerziehende Mutter eines Teenagers mit seiner Lunge endlich wieder durchatmen.

Seine Nieren haben zwei Frauen bekommen. Eine noch junge Frau, die mehr als ihr halbes Leben im Krankenhaus verbringen musste. Und eine ältere Dame, die immer ausgesprochen schlechte Laune hat.

Durch seine Leber rettet er einen jungen Mann, der als Jugendlicher starke Alkoholprobleme gehabt hat. Der aber seit der Geburt seines Sohnes vor drei Jahren keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr angerührt hat und es auch nie wieder tun wird.

Sein Herz bekommt ein Mann Mitte dreißig. Dieses Herz wird schon in fünf Jahren aufhören zu schlagen, kurz bevor der Mann mit einer großen Sporttasche, einer Skimaske und einer Pistole eine Bank betreten kann.

 

V2

 

 

*https://www.adac.de/news/bilanz-verkehrstote/