Von Ingo Pietsch

Kommissar Gerhard Otto verließ mit einer vollen Papiertüte den Outlet-Store „Bruchbude“ der Schokoladenfabrik Ludwig Weinrich im Herzen der Alststadt von Herford.

Otto und sein Kollege Jean Zinklär hatten sich auf dem Weg nach Bielefeld hierher verfahren, als die Stadt ganz plötzlich vom Navi verschwunden war und sie das Gerät von der A2 runtergelotst hatte.

Rein zufällig waren sie in der Fußgängerzone gelandet und Otto hatte diesen Laden für sich entdeckt.

Sein Mund war so schokoladenverschmiert, dass man seinen Schnurrbart als solchen nicht mehr erkennen konnte.

„Zinklär, Sie sollten auch mal ein Stück probieren!“, schmatzte der Kommissar und hielt ihm eine halb geschmolzene Tafel hin.

„Äh, Danke“, meinte Zinklär und hob abwehrend die Hände.

„Dann eben nicht. Sie verpassen da was“, nuschelte Otto und stopfte den Rest noch hinterher. Dann betrachtete er seine schmierigen Finger und überlegte, wo er sie sich abwischen könnte.

Zinklär machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als Otto sich umsah.

Der säuberte seine Patscher aber an seiner eigenen Cord-Hose.

„Wollten wir nicht eigentlich nach dem Weg fragen?“, erkundigte sich Zinklär, der wie immer Lederkleidung und Handschuhe trug, bei seinem Vorgesetzten.

„Ach ja, da war ja was gewesen“, meinte Otto, der sein Gesicht in seinem Hemdsärmel verewigte.

Die beiden hatten so mit dem Navigationssystem gekämpft, dass sie gar nicht mehr auf die Ortsschilder geachtet hatten.

 

Ein paar Minuten später saßen die beiden wieder in ihrem Dienstwagen und auf mysteriöse Weise war Bielefeld wieder auf der Karte aufgetaucht.

„Merkwürdig“, sagte Otto, der umständlich mit einem uralten Stofftaschentuch die Schokoladenreste zu beseitigen versuchte.

Sie hatten den weiten Weg von Hamburg auf sich genommen, da sie in einem alten Fall recherchierten und Akten einsehen mussten, die noch nicht digitalisiert worden waren.

Leider hatten die Kollegen aus Bielefeld momentan nicht die Kapazitäten, um dies für sie zu erledigen.

„Ui, was ist denn hier los?“, wollte Otto zwei Straßen weiter wissen.

Zinklär lenkte den Wagen an den Straßenrand.

Auf dem Gelände der Ludwig Weinrich Schokoladenfabrik standen zwei Streifenwagen, mehrere Zivilfahrzeuge mit Blaulicht, ein Rettungswagen und ein Notarzt.

Sie hatten gerade angehalten, als Otto sich mit seinen 140 Kilo aus dem Auto zwängte, das dabei unentwegt wackelte.
Seine Neugier hatte ihn gepackt und Zinklär rollte nur mit den Augen.

Ein Polizist kam auf das Duo zu und bedeutete ihnen das Gelände zu verlassen.

Otto zückte seinen Dienstausweis.

Der Beamte beäugte ihn: „Ist nicht ganz ihr Zuständigkeitsgebiet.“

Ein weiterer Polizist kam dazu. „Was kann ich für Sie tun? Äh“, er las ebenfalls Ottos Namen, „Kommissar Otto?“

„Kriminalkommissar. Und Sie sind Kommissar?“, Otto ließ nicht locker.

„Sommer.“

„Kommissar Sommer, können Sie uns sagen, was passiert ist?“

Sommer musterte Zinklär in seiner Lederkleidung von oben bis unten, ließ sich aber nicht auf irgendwelche Machtspielchen ein:

„Unfall mit Todesfolge.

Charles Greenberg, Charly gerufen, ehemaliger Soldat der britischen Armee, ist bei Reinigungsarbeiten in einen Schokoladenkessel gefallen und an den Resten erstickt.“

Otto blickte sich um: Die Kollegen hatten ein rot-weißes Flatterband gespannt.

Die, wahrscheinlich, gesamte Belegschaft stand auf dem Hof und fragte sich, wie und wann es weiterging. Einige rauchten, andere tranken aus Thermosbechern.

Der Rettungsdienst brachte den Verstorbenen eingepackt in einen Leichensack auf der Trage zum Wagen.

„Darf ich einmal?“, fragte Otto.

Sommer zuckte mit den Achseln: „Bitte.“

Otto zog den Reissverschluss auf: Charly war einmal komplett in Schokolade gehüllt.

Der Kriminalkommissar sah zu Zinklär auf, der aber den Kopf schüttelte und mit einer Hand auf die andere zeigte. Er verfügte über die übersinnliche Fähigkeit Personen und Gegenstände zu berühren und dann vor seinem geistigen Auge sehen zu können, was zuletzt mit ihnen geschehen war. Die Lederkleidung trug er gegen versehentlichen Kontakt.

„Gibt es sonst noch etwas, was wir wissen sollten?“, wollte Otto wissen.

„Wir haben diese Schokoladentafel in quadratischer Form in Herrn Greenbergs Hand gefunden.“ Sommer hielt den eingetüteten Beweis hoch, den die Spurensicherung sicherlich nicht ohne weiteres rausrücken würde.

Otto rieb seinen Schnurrbart: „Was wollte denn Charly mit einer Tafel Schokolade beim Reinigen eines Kessels?“

„Das fragen wir uns auch. Und auch noch von der Konkurrenz. Budde mein Name, ich bin der Geschäftsführer und zu meiner Linken Niederbockstruck, Finanzabteilung. Natürlich ist Herrn Greenbergs Tod ein tragischer Verlust und wir möchten unseren Angestellten für heute freigeben. Aber können wir morgen den Betrieb wieder aufnehmen?“

Otto betrachtete Niederbockstruck von der Seite. Der hielt ein Tablet in der Hand und blickte immer wieder darauf, als würde gleich irgendetwas Wichtiges passieren.

Sommer schaltete sich dazu: „Da bisher nichts auf eine Gewalteinwirkung von Außen hinweist, dürfte es kein Problem sein.“

„Ich bin vorhin in ihrer „Bruchbude“ gewesen und muss sagen, dass mir Ihre Schokolade sehr mundet.“

„Oh, das sehe ich“, meinte Budde. „Wir sind auch Stolz auf unsere Produkte und legen sehr viel Wert auf Qualität.“

„Zinklär hab ich da etwa noch was?“, Otto hatte sich zu seinem Kollegen herum gedreht.

Der wiederum beobachtete Niederbockstruck, der nervös auf seinem Tablet herumtippte.

„Nur dezente Spuren. Haben die Herren zufällig Visitenkarten dabei?“

Otto war erstaunt. Normalerweise hielt sich Zinklär im Hintergrund.

„Hier, bitte.“ Budde überreichte ihm seine.

Zinklär nahm sie mit einer Hand entgegen, der er den Handschuh ausgezogen hatte. Er durfte ohne Verdacht seine Fähigkeiten nicht einsetzen, hatte aber so eine Ahnung.

Und er hatte nicht die Gelegenheit Otto zu informieren.

Beiläufig berührte er Buddes Hand.

Und nahm dann die Karte von Niederbockstruck an, dem die Schweißperlen auf der Stirn standen.

„Die Herren!“, Budde verabschiedete sich und Niederbockstruck folgte ihm.

„Und Kriminalkommissar Otto, Fall gelöst?“, fragte Sommer.

„Was haben Sie rausgefunden, Zinklär? Und tun Sie nicht so, als hätte ich das nicht bemerkt.“

Der flüsterte Otto etwas ins Ohr.

Otto gab an Sommer weiter, was Zinklär „gesehen“ hatte.

 

Am nächsten Tag stand im Westfalenblatt: Traditionsunternehmen vor feindlicher Übernahme gerettet.

Wie sich herausstellte, hatte Niederbockstruck große Unternehmensanteile an die Konkurrenz verkauft, zu dem er gar nicht berechtigt gewesen war, es aber dennoch getan hatte. Sicherlich hätte die Weinrich Schokoladenfabrik vor Gericht gewonnen. Aber das hätte sich aber über Jahre hinweg ziehen können und wäre ein großer finanzieller Verlust geworden.

An dem Tag, an dem Charly starb, wäre das letzte Paket zur Mehrheitsübernahme herausgegangen.

 

Mit einer ganzen Kofferraumladung Schokolade im Gepäck, gestiftet von Budde, hatte das Duo schließlich Bielefeld doch noch gefunden …

 

Epilog:

Niederbockstruck machte einen Rundgang durch die Fabrikationshalle.

In seinem weißen Hygieneoverall, der nur sein Gesicht freiließ, war er kaum zu erkennen.

Ein Verlangen machte sich in seinem Magen breit. Ein Verlangen, das er unbedingt stillen musste. Jetzt sofort.

Niederbockstruck sah sich um, dass ihn auch ja niemand beobachtete.

Dann schlich er zwischen den Schokoladentanks hindurch, in eine Ecke, die nicht kameraüberwacht war.

Es war gerade Schichtwechsel und die Halle so gut wie ohne Personal.

Niederbockstruck quetschte sich hinter ein Metallgestell und zog eine quadratische Schokoladenpackung aus seiner Tasche.

Erst als ein Stück der Sorte, die die Weinrich-Schokoladen-Fabrik nicht produzierte, seine Zunge berührte, atmete er tief durch. Das war genau das, was er gebraucht hatte.

Plötzlich näherten sich Schritte.

Niederbockstruck zuckte zusammen und drückte sich noch weiter in die Ecke, um nicht gesehen zu werden.

Jemand mit derselben Hygienekleidung, Gummistiefeln und Abzieher ging an ihm vorbei und wollte die Leiter zum Tank hochsteigen.

Dann hielt er inne: „Jetzt habe ich doch glatt das Ventil vergessen“, sagte Charly mit englischem Akzent.

Er drehte sich um und entdeckte Niederbockstruck, der immer noch die Schokolade in der Hand hielt.

„Oh, Herr Niederbockstruck, Sie Leckermäulchen, das ist aber keine von unseren! Naja, egal, können Sie vielleicht das Ventil aufdrehen?“

Niederbockstruck nickte und steckte die Tafel in seinen Overall.

Charly kletterte wieder hinauf und stieg in den viertelvollen Tank.

Niederbockstruck bekam Panik. Was wenn Charly irgendetwas wegen der Schokolade ausplauderte?

Eilig folgte er Charly, ohne die flüssige Schokolade abgelassen zu haben.

„Sind Sie schon fertig? Es wird nicht weniger!“ Charly schaute hoch.

Zu spät.

Niederbockstruck drückte sein Gesicht in die braune Flüssigkeit.

Charly schlug um sich und riss dabei die Taschen an Niederbockstrucks Overall herunter. Irgendwie bekam er die quadratische Schokoladentafel in die Hand, ehe er bewegungslos und komplett in Schokolade eingehüllt liegen blieb.

Als Niederbockstruck selbst klar wurde, dass er die letzte Grenze zur Skrupellosigkeit überschritten hatte, floh er so schnell konnte vom Tatort und entledigte sich aller Beweise, die auf ihn zurückzuführen waren.

Bis auf die verlorene Tafel …

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