Von Ina Rieder
Es war immer noch brütend heiß, obwohl sich die Sonne langsam verabschiedete. Jara fuhr sich durch die blonde Mähne und nahm den letzten Schluck Bier aus der Dose.
Vielleicht ist die erste Idee nicht immer die beste.
Der Gedanke kam wie eine sanfte Welle, die das Ufer umspült und sich wieder zurückzieht. Das schlechte Gewissen peitschte dazwischen. Für Jara gab es nichts mehr zu fischen in diesem ausgedünnten Ozean ihrer jüngsten Vergangenheit. Sie saß breitbeinig und mit verschränkten Armen in einem Zugabteil. Die nackte Haut an Beinen und Armen klebte auf dem dunkelblauen Kunstlederüberzug des Sitzes. Es roch nach Schweiß und billigem Aftershave. „In Kürze erreichen wir Prag Hauptbahnhof. Endstation. Bitte alle …“
Jara schnappte sich den Rucksack von der Gepäckablage, reihte sich in den Strom der anderen Fahrgäste und ließ sich zur Waggontüre treiben. Der Zug fuhr in den imposanten Kopfbahnhof ein. Heimatliche Gefühle, die die langjährige Sehnsucht befriedigten, mischten sich zur Melancholie des Aufbruchs von heute Morgen.
Als Jara kurze Zeit später die historische, im Halbkreis konzipierte Halle, über den Bahngleisen erreichte, sammelten sich Tränen in ihren Augenwinkeln. Hier hatte sie schon als Kind mit offenem Mund gestanden. Jara bewunderte die Ornamente, der im Jugendstil ausgestalteten Kuppel.
„Hey Schwester, hast du etwas Geld für eine Straßenheldin?“
Jara zuckte zusammen und schaute in das verkniffene, aschgraue Gesicht einer ausgezehrten Frau, deren Ausdünstungen ihr die Luft zum Atmen nahmen. Sie kramte in ihren Hosentaschen und zog fünfzig Cent hervor, die sie der „Straßenheldin“ in die Hand drückte. Ihr Blick glitt dabei auf einen ungewöhnlichen Kettenanhänger, der von einem abgewetzten Lederband baumelte. Ein polierter Achat-Stein in einer Silberfassung. Noch während Jara darüber nachdachte, warum ihr dieser so bekannt vorkam, drehte sich die Frau um und ging zum Ausgang.
In Jaras Kopf vibrierte es auf höchster Stufe. Sie kramte im Sumpf ihrer Erinnerungen nach dem passenden Teilchen. Als sie es gefunden hatte, durchströmte sie ein eigenartiges Gefühl: eine Mischung aus Freude und Entsetzen. „Das gibt es doch nicht. Charly?“ Jara blickte sich nach der Frau um, die sie für ihre Freundin aus Teenagertagen hielt. Sie sah gerade noch ihren schwarzen Schopf hinter einem der Torbögen verschwinden.
„Charly!“, rief sie ihr nach, doch ihr Ruf ging in dem Stimmengewirr der Bahnhofshalle unter.
Jara eilte hinterher, zwängte sich im Zick-Zack durch einen Menschenstrom. Schließlich erreichte sie den Ausgang. Die Nacht hatte sich längst über die Stadt gelegt. Lichter erstrahlten und erhellten die Straßen und Bürgersteige. Aromatische Düfte von Curry, Zimt und Fett der umliegenden Restaurants weckten Jaras Hunger und Neugierde. Sie blieb stehen. Ihr Blick schweifte nach links und rechts. Dann entdeckte sie die „Straßenheldin“ wieder, die mit gesenkten Schultern Richtung Wenzelsplatz schlurfte. Jara folgte ihr mit schnellen Schritten und hatte sie bald eingeholt.
„Charly? Ich bin es, Jara!“
„Charly ist schon lange tot. Ich werde jetzt Dolly genannt!“
Jara blickte in die dunklen Augen ihrer Jugendfreundin. Sie wirkten abgestumpft und hoffnungslos. Ein stiller Schmerz breitete sich in Jaras Innerem aus und kniff qualvoll in ihr Herz. „Komm, lass uns eine Kleinigkeit essen. Ich lad dich ein“, schlug sie vor.
„Ich brauch zuerst einen Schluck“, erwiderte Dolly und begann eine Mülltonne zu durchsuchen.
Jara zog eine Dose Bier aus ihrem Rucksack. „Hier Charly … eh Dolly. Ist zwar warm wie Badewasser, aber in der Not…“
Dolly nahm die Dose entgegen, öffnete sie und nahm einen kräftigen Zug. „Ich bin nicht hungrig, muss weiter.“
„Ich habe ein Zimmer, gleich um die Ecke. Du könntest duschen, wir quatschen über alte Zeiten …“ Dolly zitterte stark. „Es gibt dort sicher auch eine Minibar“, ergänzte Jara.
„Okay. Klingt gut. Kann ich bei dir pennen?“
Jara nickte.
„Ich muss aber zuerst noch was holen. Hast du Kohle?“
Jara hielt kurz inne. Sie hörte eine Stimme aus der Tiefe ihrer Seele. Diese flüsterte ihr zu, dass sie sich abwenden und besser eine andere Richtung einschlagen sollte. „Hier! Und bring auch was zum Rauchen mit. Wir treffen uns vor dem Hotel Neustadt“, sagte sie stattdessen und drückte Dolly einen grünen Schein in die Hand. Und schon hatte die Vergangenheit sie schneller als ein Seufzen eingeholt.
***
Eine halbe Stunde später lag Dolly frisch geduscht und vollkommen zugedröhnt auf dem flauschigen Bett des Hotelzimmers. Jara stand mit einem Joint in der Hand auf dem Balkon, inhalierte und spürte, wie sich langsam, aber stetig ihre Muskulatur lockerte. Ihre innere Leere wich einem trügerischen, wohligen Gefühl, das sie wie Watte umwickelte und wärmte. Anschließend ließ sich Jara neben Dolly auf das Bett plumpsen. Sie lag gelöst auf dem Rücken und ihre Augenlider klappten zu.
„Hab mich lang nicht mehr so gut gefühlt“, sagte Dolly plötzlich. Sie knüpfte den Knoten des Handtuches, das sie wie ein Kleid um ihren Körper gewickelt hatte, auf. Darunter kam ein ausgemergelter, mit dunklen Flecken überzogener Körper, zum Vorschein. Dolly richtete sich auf. Ihre birnenförmigen Brüste federten im Takt ihrer Bewegungen. Sie bildeten einen schönen Kontrast zu den dünnen Rippen, die sich seitlich auf Brusthöhe deutlich abzeichneten. Dann setzte sie sich, flink wie eine Katze, rittlings auf Jaras Schoß.
Jara zuckte zusammen und ihre Augen öffneten sich blitzartig. „Hey! Geh runter von mir! Du hast da was falsch verstanden. Ich möchte nichts von dir“, sagte sie und schob Dolly von sich. „Zieh dir was an. In meinem Rucksack findest du frische Klamotten.“
„Echt nicht?“ Dollys Gesichtszüge entspannten sich. „Das hat auch schon lange keiner mehr zu mir gesagt. Kommt mir vor wie mit siebzehn, als du selbstlos deine Zigaretten mit mir geteilt hast.“ Dolly schlüpfte in Leggings und Shirt.
„War schön damals. In der Zwischenzeit hat sich ein Haufen Mist angesammelt, was? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, wolltest du studieren und ein Jahr ins Ausland gehen. Was ist passiert, Charly?“
„Dolly, Mann! Charly gibt`s nicht mehr. Kapiert!“ Dollys Augen funkelten wie ein loderndes Feuer. „Was ist passiert? Was ist passiert? Zwei Kinder von zwei kranken Typen sind passiert. Ich habe das nicht mehr gepackt. Das mit den Kleinen und der Verantwortung. Die Männer, beide ein Griff ins Klo. Ich habe mir ab und zu was geholt. Du weißt schon, zum Abschalten. Ich dachte, ich hätte das unter Kontrolle. Hatte ich aber nicht. Einmal da …“
Dolly schluckte und begann zu schniefen. Jara rückte zu ihrer Jugendfreundin und legte den Arm um sie. „Ist schon gut. Du musst nicht darüber sprechen.“ Für eine Weile war nur Dollys Schluchzen zu hören. Dann sagte Jara „Ich habe in all den Jahren keine Drogen angerührt. Nicht einmal ein Glas Wein. Meine Freundin, ihre sechsjährige Tochter und ich, wir lebten fünf Jahre glücklich zusammen. Bis letzte Woche ihr Ex plötzlich auftauchte und alles durcheinanderwirbelte. Dieser aufgeblasene Gockel. Ich weiß nicht, was sie an dem findet. Wir haben uns heute Morgen so richtig gezofft. Ich bin einfach verschwunden und hab den nächsten Zug nach Prag genommen.“
„Und ich war die Erste, die dir über den Weg gelaufen ist? Du hast wohl eine Pechsträhne, was? Du solltest wieder zurückfahren, Jara. Vielleicht renkt sich alles wieder ein. Ich bringe nur Unglück.“
„Rede nicht so einen Quatsch, Dolly! Ich weiß, was ich tue. Ein kleiner Joint wird mich schon nicht umbringen.“
„Nein, aber das hier, vielleicht.“ Dolly nahm einen kleinen Klumpen, der auf einem Streifen Alufolie lag, vom Nachttisch und rollte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. „Jedes Steinchen ein Scheinchen.“ Ein dumpfes Lachen drang aus Dollys Kehle. „Ich brauch wieder was. Ich bin aber nicht so großzügig wie du. Ich gebe nichts ab.“ Die „Straßenheldin“ griff nach Pfeife und Feuerzeug. Dann ging sie auf den Balkon und pfiff sich eine Ladung Crack* rein.
Jara folgte ihrer Freundin, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf einen der Plastikstühle. „Was macht dir so zu schaffen, Dolly?“
„Es passierte in einer Nacht wie dieser“, begann Dolly und blickte in den Sternenhimmel, „Bin mit den Kindern zum Teufelssee rausgefahren. Die Kleine war noch kein Jahr und die große zweieinhalb. Ich habe ein paar Leute dort getroffen. Wir tranken Bier, irgendjemand hatte ein bisschen Gras und Crack dabei. Meine Kinder haben auf einer Decke unter einem Baum geschlafen. Ich war gestresst und hab mich weggedröhnt…“ Dolly setzte sich neben Jara. Sie wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. „Am nächsten Tag bin ich frühmorgens aufgewacht, weil die Kleine weinte. Dann bemerkte ich, dass meine Große weg war. Dieses Gefühl …“ Dollys Stimme brach. Sie schluchzte, Tränen liefen über ihre Wangen. „Sie ist ertrunken, Mann! Irgendwann in der Nacht, im See, weil ich eine beschissene Mutter mit einem verdammten Drogenproblem bin!“
Eine bedrückende Stille legte sich über die beiden Frauen. Jaras Augen wurden nass. Sie zitterte wie Laub im Wind. „Das tut mir leid“, sagte sie leise.
„Charly ist an jenem Morgen auch gestorben. Seitdem bin ich Dolly, die Straßenheldin, die sich um die Leute, die auf Platte* leben, kümmert. Ich habe schon dem ein oder anderem das Leben gerettet. Die meisten Leute schauen einfach weg. Ihnen ist es egal, ob wir auf der Straße krepieren oder nicht!“
Die beiden überblickten die Dächer der Stadt. „Ich möchte diese ganze Scheiße nicht mehr“, sagte Dolly. „Ich will weg von dem Zeug.“
„Irgendwo da drin steckt sicher noch die alte Charly von früher“, sagte Jara und atmete den blauen Crackdunst ein.
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*Crack = ist eine Droge, die aus Kokainsalz und Natriumhydrogencarbonat hergestellt wird. Sie wird in kleinen Pfeifen geraucht und wirkt sehr schnell. Crack gilt neben Methamphetamin als die Droge mit dem höchsten psychischen Abhängigkeitspotenzial.
auf Platte sein = eine umgangssprachliche Bezeichnung dafür, wenn man außerhalb einer Wohnung übernachtet (z.B. unter einer Brücke, im Park etc.)