Von Angelika Zeising

Jetzt

Ich kann den Schrei nicht unterdrücken, der mir aus der Kehle fährt wie ein Blitz. Wie der Blitz, der ungebremst in meinen Brustkorb einschlägt. Das Brennen, das meine Haut durchbohrt, glüht heißer als die Flamme eines Bunsenbrenners. Bevor meine Beine unter mir nachgeben, taumele ich gegen die Tür in meinem Rücken. Gegen die Tür zum Badezimmer.

Der reißende Schmerz unter meinen Rippen raubt mir den Atem. Ich weiß sofort, was los ist. Mit dem Aufschlag meiner Knie setzt das Knistern ein. Mein linker Lungenflügel fällt in sich zusammen. Ich kann dem Atemreflex nichts entgegensetzen und spüre, wie mit jedem Japser der Druck in meinem Brustkorb steigt.

Kalter Schweiß überzieht meinen Körper. Meine Gliedmaßen zittern, als hätte man sie unter Strom gesetzt. Das Mittagessen bahnt sich einen Weg zurück auf diese Welt. Reflexartig beuge ich mich vor. Der Druck in meinem Innern bringt mein Herz zum Stolpern. Mir wird schwarz vor Augen. Ich werfe mich zurück und schnappe nach Luft. Luft, die mir verwehrt bleibt und doch in mich dringt. Luft, die meine Situation nur schlimmer macht.

Dann ein Flüstern: „Halte durch.“ Ein Flüstern, dass mich aus dem Moment reißt und in die Vergangenheit katapultiert. Die Vergangenheit, die mein Leben veränderte.

4 Monaten zuvor

Ich nippe an meinem Drink und steige vom Barhocker. Steige von dem Präsentierteller aus feinem Leder, der mich in der letzten halben Stunde, wie einen frischen Happen Unschuld, dargeboten hat. Man scheint es mir an der Nasenspitze anzusehen. Der Nasenspitze, die ich retuschiert habe, damit sie runder wirkt. Aber das Puder hilft nicht gegen die Unerfahrenheit, sich in solchen Läden zu bewegen. Und das Rouge unterstreicht meine Neugierde wohl eher, anstatt sie zu verstecken.

Nachdem ich die Bar einmal durchquert hab, ist mein Drink leer und meine Strategie durch Bewegung weniger aufzufallen gefährdet. Mein Blick überfliegt die Tanzfläche.

Das erste, was mir auffällt, sind ihre kinnlangen dunklen Haare. Sie schimmern im bunten Licht der Bar, wie feinste Seide in der Sonne. Das Schimmern umspielt ihr herzförmiges Gesicht. Ihre Wangen sind gerötet. Gerötet, wie meine, als sie umherwirbelt und unsere Blicke sich treffen. Es ist nur flüchtig, aber es reicht. Es reicht, um mir den Kopf zu verdrehen.

Damit habe ich an meinem ersten Abend nicht gerechnet. Auf eine solche Frau zu treffen. Bin ich doch hier, um mich auszuprobieren und herauszufinden, wie weit mein Interesse am eigenen Geschlecht tatsächlich reicht. Es reicht weit, wie sich herausstellt. Denn in diesem Moment zählt nur eins. Kein Präsentierteller, kein Make-Up, keine Nasenspitze. Es zählt nur diese Frau kennenzulernen.

Ich bündele meine vorbereitete Waghalsigkeit und zögere nicht lange. Lange genug habe ich gezögert auf dem Lederteller. Mit jedem Schritt, den ich ihr näher komme, werden meine Hände feuchter. Meine Nervosität droht mich zum Abdrehen zu verleiten. Aber dann. Unsere Blicke treffen sich erneut. Aus flüchtig wird gezielt. Mein Herz schlägt unkontrollierbar schnell. Es gibt kein zurück. Schritt für Schritt, bis wir voreinander stehen.

Mein Atem geht stoßweise. So stoßweise, wie der vibrierende Bass um uns herum. Sie lächelt. Ich bin mir sicher, sie ist sich ihrer Wirkung bewusst. Im Rhythmus der Musik bewegt sie sich. Bewusst und langsam. Bewegt ihren Körper langsam von mir weg. Ihre blitzenden Augen aber haften weiter an meinen. Ich komme ihrer stummen Aufforderung nach. Vergesse die Zeit. Spüre nur das Kribbeln in meiner Brust.

Ohne Worte bewegen wir uns, beobachteten uns, kommen uns näher und entfernen uns wieder. Der Rhythmus dirigiert unser Spiel, bis er langsamer wird und der DJ eine Ballade über die Boxen schickt. Für mich ist der Tanz schlagartig beendet. Für sie jedoch nicht.

Sie greift nach meiner Hand. Der Hand, die sich nach ihr sehnt, sich aber nie wagen würde, sie einfach zu berühren. Sie wird gezogen zu ihrer Hüfte und landet auf ihrem Gürtel. So wie ihre nackten Arme sogleich auf meinen freien Schultern landen. Mein Herz setzt einen Moment aus. Doch sie setzt unseren Tanz fort.

„Du bist neu hier. Nicht wahr?“, unterbricht sie unser Wiegen. Ihre Nähe lähmt mein Denkvermögen.

„Ist das so offensichtlich?“, erwidere ich gedankenlos. Scham steigt mir in die Wangen, aber ihr Lächeln wird breiter.

„Ja jetzt schon“, entgegnet sie amüsiert. „Du bist mutig.“

„Ach ja?“

„Allerdings. Die Wenigsten trauen sich am ersten Abend raus aufs offene Meer. Selbst, wenn sie sich ihrer Sache sicher sind.“

„Tja mit dem offenen Meer kenne ich mich eben aus“, gebe ich vorlaut an. Wieder grinst sie.

„Das klingt interessant, erzähl mir mehr.“

Ehe ich mich versehe, sitzen wir gemeinsam an der Bar. An der Bar auf den Ledertellern und reden. Reden über sie. Über mich. Über uns.

Sie liebt das Free Climbing, ich das Hochseesegeln. Sie kämpft um eine Stelle als Staatsanwältin, ich um den Abschluss meiner Facharztausbildung. Wir lieben gutes Essen und stürzen uns gerne in Abenteuer. Wir verbringen den Rest des Abends zusammen. Und die Nacht. Und den Morgen danach.

Jetzt

Ein leises Poltern in meinem Rücken lässt mich zusammenzucken. Der Schmerz in mir flammt erneut auf. Sorge schnürt mir die Kehle zu. Ich blinzle. Er ist noch da. Starrt mich an. Starrt durch mich hindurch. Auf die Tür hinter mir. Die Tür zum Badezimmer. Mein Herz rast gegen den Druck in mir an. Ich drohe das Bewusstsein zu verlieren. Drohe sie zu verlieren.

4 Stunden zuvor

Der heutige Abend gehört nur uns. Die Truppe ist heut früh von ihrer Tour in Süditalien zurückgekehrt und ich habe meinen Segeltörn nach Island um zwei Tage verschoben. Mehr konnte ich nicht rausholen bei der Crew. Sie haben mich verflucht, schließlich ist der Törn bereits seit einem halben Jahr geplant, verflucht.

Ein letztes Mal prüfe ich im Spiegel mein Outfit. Das gewickelte Sommerkleid schmeichelt meinen Kurven. Die blonden Haare trage ich offen, so offen, wie sie es mag. Auch wenn die langen Wellen mich bei der Hitze fast umbringen. Ich bin auf dem Weg zur Garderobe, als es klingelt. Ohne in meine Sandalen zu steigen, haste ich zur Tür und reiße sie auf.

Sie strahlt mich an. Zögert nicht, kommt mir entgegen und wirft die Tür hinter sich zu. Noch ehe sie ins Schloss fällt, spüre ich ihre vertrauten Lippen auf meinen. Ich kann nicht anders als meine Hände in ihren seidigen Haaren zu versenken und sie noch näher an mich zu ziehen.

Wir taumeln ins Wohnzimmer. Vergessen die Zeit. Spüren nur das Kribbeln in der Brust. Ringen nach Luft, nach Liebe und uns. Der Abend wird kühler und wir ruhiger. Die Dunkelheit umhüllt uns. Umhüllt den Moment, bis wir stillstehen.

Dann ein Flüstern: „Ich liebe dich“ haucht sie in mein Ohr. Ich schmiege mich an sie, hauche ein Seufzen und dämmere weg, ehe ich antworten kann.

Mein Schlaf ist oberflächlich. Oberflächlich, wie das Klicken und Schaben, dass mich weckt. In meinem Rücken zieht es. Sie ist nicht da. Nicht da, wo sie sein sollte. Auch als ich mich umdrehe. Ich taste ins Halbdunkel der städtischen Nacht. Taste ins Leere. Höre ein Geräusch und richte mich auf. Ihr Shirt liegt neben mir. Ich ziehe es über und rieche daran. Rieche sie und erinnere mich. Ich liebe dich hat sie gehaucht.

Ich stehe auf und tapse Richtung Badezimmer. Unter der Tür kann ich einen zarten Lichtschein erahnen. Sie hat nur die unnütze Spiegellampe eingeschaltet. Das reicht, wenn man mal schnell muss.

Auf halbem Weg spüre ich plötzlich einen Schauer im Nacken. Diesen Schauer, der einen heimsucht, wenn man ungewollt Zeuge eines schweren Unfalls wird. Ich sehe mich um, sehe nur Schemen der Einrichtung. Erkenne die unscharfen Konturen der riesigen Zimmerpflanzen. Höre Schritte. Schwere Schritte. Nicht meine Schritte. Sondern seine.

Er taucht hinter einer der Pflanzen auf. Ein zwei Meter großer Schatten mit Schultern wie Hulk. Mein Blick schnellt zur Badezimmertür. Der Tür zu ihr. Dann zu ihm. Ihm, der mich noch nicht entdeckt hat. Ich habe nur eine Chance. Jetzt oder nie. Wenn ich es schaffe, schaffen wir es beide.

Schneller als ich denken kann, bewegen sich meine Beine. Schneller als ich erwartet hab, entdeckt er mich.

„Stehen bleiben“, faucht er. Der tiefe Bass seiner Stimme fährt mir durch Mark und Bein. Ich stoppe. Nur zwei Schritte. Dann hätte ich es geschafft. Ich starre ihn an. Er starrt zurück. Starrt zurück mit drei Augen.

Die Mündung der Waffe wippt im Takt seiner Worte. „Sei still, dann passiert Dir nichts.“

Mein logisches Denken setzt aus. Stattdessen schreit mein Herz. Beschütze sie, egal was es kostet. Die Hände oben mache ich einen Schritt in Richtung Tür. Der Tür zum Badezimmer. Der Tür zu ihr. Der Schatten knurrt. „Lass das.“

Ich schüttele den Kopf. „Was soll ich lassen? Hat der Herr Einbrecher mit der Waffe etwa Angst, dass ich mich einschließe und die Polizei rufe?“ Ich spreche so laut ich kann. So laut ich kann, ohne zu schreien.

„Halt die Klappe“, kläfft er.

Aber ich kann nicht. „Wie stellst Du Dir das vor? Ich bin halbnackt und mein Handy liegt auf der Garderobe.“

Sein Blick schnellt zum Flur. Ich mache einen weiteren Schritt zur Tür. Einen weiteren Schritt zu ihr. Einen einzigen Schritt zu viel. Der Knall hallt in meinen Ohren wieder. Auch als der Schrei mir aus der Kehle fährt. Unkontrolliert wie ein Blitz.

Jetzt

Ich kämpfe gegen die Ohnmacht an. Atme flach und schnell. Versuche, aufrecht zu bleiben. Aufrecht vor der Tür. Der Tür zu ihr. Plötzlich durchzuckt ein Leuchten das Halbdunkel der städtischen Nacht. Gefolgt von einem lauten Heulen. Wie paarungswillige Wölfe, die den Mond anheulen, kündigen die Sirenen ihr Verlangen nach Gerechtigkeit an. Der Schatten zögert. Doch dann schießt er erneut und türmt.

Die Kugel dringt in mich ein. Dringt in mich ein ohne neuen Schmerz. Schmerz, der mich bereits betäubt. Oder ist es die Liebe, die mich betäubt? Oder die Gewissheit, dass sie verschont geblieben ist? Ich finde es nicht mehr heraus. Das Einzige, was ich spüre, ist ein Kribbeln in meiner Brust.

„Ich liebe dich“, hauche ich mit letzter Kraft und verliere für immer das Bewusstsein.

V2