Von Karl Kieser

Schon seit Stunden treibt der ständig zunehmende Wind das Wasser vor sich her und presst es durch die engste Stelle des Meeresarmes zwischen Ibiza und Formentera. Über tiefes Wasser rollen die Wellen heran, treffen hier auf den Sockel der Inselgruppe und türmen sich zu meterhohen Monstern auf. Reflektionen von den felsigen Ufern erzeugen auch noch gefährlich steile Kreuzseen.

Auf der Flucht vor dem heraufziehenden Sturm preschen zwei Yachten mit achterlichem Wind genau auf diese Durchfahrt zu. Sie haben es zwar eilig, in den Schutz der Insel zu kommen aber der Druck auf die Segel wird zu groß denn der Wind wird in der Engstelle wie in einer Düse beschleunigt.

Kurt und Charly, gemeinsam als befreundete Einhandsegler unterwegs, drehen ihre Schiffe in den Wind, um die Segelfläche zu verkleinern.
Für beide Skipper wird es jetzt erst richtig unangenehm. Der Bug der Yachten wird nun durch die von vorn kommenden Wellen hochgerissen und kracht dann – sobald die Welle unter dem Boot durchgelaufen ist und das Heck auch noch zusätzlich nach oben hebelt – in das Wellental. Dann schießt eine Sturzflut über das Deck, bevor das Spiel mit der nächsten Welle von vorne beginnt.
Für Kurt ist das Reffen der Segel relativ einfach. Seine LIBERTY ist mit allem Komfort für die Einhandbedienung ausgestattet. Er muss das schützende Cockpit nicht verlassen.
Charlys JURA dagegen hat noch die klassische Besegelung. Ihr Skipper muss zum Mast auf dem Kajütdach. Um das Vorsegel zu reffen, muss er sogar bis zum Bug.
Charly ist wie immer allein an Bord und ein alter Haudegen, der sich noch nie sonderlich um Sicherungsmaßnahmen geschert hat.
Kurt macht sich daher Sorgen, dass er die Arbeit auch wirklich mit Vorsicht angeht und bittet seine Gefährtin Amélie, die JURA und den Freund mit dem Fernglas im Auge zu behalten, solange er selbst mit dem Reffen der eigenen Segel beschäftigt ist. Kurt und Charly sind alte Freunde. Amélie ist erst vor Monaten dazugekommen. Alle drei verbindet eine abenteuerliche Geschichte, bei der die Mafia und ein Goldschatz eine Rolle spielen. Todesangst und gegenseitige selbstlose Hilfe haben sie zusammengeschweißt.

Plötzlich schreit Amélie erschrocken auf. Charly ist vom Kajütdach hinuntergestürzt zwischen Reling und Aufbauten.
Kurt befürchtet sofort eine Katastrophe. Es reißt ihn herum, um die mehr als 200 Meter hinter ihm stampfende JURA zu fixieren. Von seinem Freund kann er  nichts sehen. Alarmiert brüllt er zu Amélie hinüber: „Was ist los, ist er im Wasser?“

Amélie starrt weiter durchs Fernglas und schreit zurück: „Er rappelt sich gerade wieder auf. Er bewegt sich aber komisch und hält sich den Arm. Jetzt kriecht er zurück ins Cockpit.“

Die Verständigung ist schwierig und eigentlich nur möglich, indem man dem Partner die Worte direkt ins Ohr brüllt, denn der Wind reißt sie einem regelrecht aus dem Mund.
Daher hat Kurt zwar nicht alles verstanden, kann sich die Entwarnung aber zusammenreimen und blökt zurück:

„Sag mir weiter was sich tut und ruf ihn über Funk.“

Kurt atmet auf. Wenn jetzt jemand über Bord ginge, wäre das mit großer Wahrscheinlichkeit sein Todesurteil. In der aufgewühlten See ist ein Schwimmer nur mit viel Glück und nur aus unmittelbarer Nähe auszumachen. Und selbst wenn man ihn fände, wäre es ein echtes Problem, ihn bei den Wellen an Bord zu bekommen, ohne dass er von dem wild taumelnden und stampfenden Schiff erschlagen würde.

Kurt ist fertig mit seinen Arbeiten und bringt die LIBERTY wieder vor den Wind. Die zweite Yacht kommt nun schnell näher. Er will schon erneut in den Wind drehen, um in ihrer Nähe zu bleiben, als er erkennt, dass auch die JURA wieder auf den alten Kurs geht. Ihr Großsegel ist nun stark gerefft aber das Vorsegel steht noch voll.
Endlich meldet sich der Freund über Funk:
„Ganz große Kacke. Ich habe mir den rechten Arm gebrochen.“

Kurt muss sich zwingen, nicht in Panik zu geraten. Schon bei ruhigerem Wetter würde die Situation einige Probleme aufwerfen. Jetzt heult der Wind mit Sturmstärke und die See gebärdet sich, als wolle sie die Boote verschlingen. Trotzdem gelingt ihm ein bewusst ruhiger, aber eindringlicher Tonfall:
„Lass die Fock einfach fallen. Was soll‘s, wenn sie zum Teufel geht, du brauchst ohnehin eine Rollfock, die du vom Cockpit aus reffen kannst.“

Hat Charly ihn richtig verstanden? Der Handhörer für den Funk ist für ihn zwar vom Cockpit aus erreichbar, aber den hatte er mit seiner funktionierenden Linken schnell wieder eingehängt. Das Toben von Wind und Wellen ist infernalisch und der Freund hätte sich weit in den Niedergang beugen müssen, um seine Antwort über den Lautsprecher zu verstehen.

Die LIBERTY ist nun auf der gleichen Höhe wie die JURA, kaum 50 Meter trennen die beiden Schiffe. Im Hinblick auf eine mögliche Unterstützung könnten es aber ebenso gut 50 Kilometer sein. Gebannt starren sie hinüber. Charlys rechter Arm hängt kraftlos herunter, als wenn er nicht zu ihm gehört. Wegen der heftigen Bewegungen des Bootes kommt er nur sehr langsam voran. Die alte Regel: „eine Hand für den Mann, eine Hand für das Schiff“ gilt für ihn nicht mehr.

Von der LIBERTY aus können sie sehen, dass das Vorsegel zwar einige Zentimeter absackt, aber es fällt nicht herunter. Jetzt wird auf der JURA auch die Fockschot gelöst. Sofort wird das Vorsegel nach vorne geweht und knattert wild flatternd im Sturm. Aber es fällt immer noch nicht. Irgendetwas hängt fest und müsste gelöst werden.
Das ist zwar ärgerlich, aber so geht keine Gefahr mehr davon aus. Es wird sich schlimmstenfalls in Fetzen auflösen.
Während sie auf der LIBERTY noch frustriert auf das widerspenstige Vorsegel starren, bemerken sie plötzlich, dass Charly das Cockpit verlassen hat und sich auf den Weg zum Bug macht. Er will doch wohl nicht das wild um sich schlagende Vorsegel mit der Hand herunterziehen?
Um Gottes Willen, nur das nicht!
Auf den Knien kriecht er über das bockende Deck nach vorn, nur mit seiner linken Hand am Relingsdraht gesichert. Entgeistert schreit Kurt ihm zu, sofort umzukehren.
Bei dem Sturm und dem höllischen Lärm, der durch die wütend knatternde Fock auch noch lauter geworden ist, ist es aussichtslos bis zu ihm durchzudringen. Schließlich drückt Kurt auf die Hupe, aber selbst das starke Signalhorn der LIBERTY kann den Krach kaum übertönen.
Charly blickt zwar kurz auf und schaut zu ihnen herüber, scheint auch die wild winkenden Gestalten auf der LIBERTY wahrzunehmen, macht aber unverdrossen weiter.
Selbst für einen jungen, gesunden Mann wäre das ein sehr riskantes Unterfangen. Für einen Siebzigjährigen, ohne Schwimmweste und ohne Sicherheitsgurt, noch dazu mit einem gebrochenen Arm ist es der reine Wahnsinn.
Immer wieder taucht die JURA ihren Bug in die See wenn ihr Heck von den sich auftürmenden Wellen ruckartig angehoben wird und sie zu einem Surf ansetzt. Hilflos muss die Crew der LIBERTY zusehen, wie der Segelkamerad sich Meter für Meter nach vorn kämpft und schließlich unbeschadet am Bug ankommt. Sie schöpfen schon wieder eine leise Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut gehen könnte.

Gerade als er sich aufrichtet, um mit seiner linken Hand das Vorsegel zu ergreifen, geschehen zwei Dinge gleichzeitig:
Eine der Kreuzseen kracht mit Wucht von der Seite gegen den Bug und schlägt ihn  aus der Spur, während eine besonders steile Welle schlagartig das Heck anhebt. Der ungesicherte Mann wird nach vorn geworfen, seine Hand verfehlt das Vorstag und er fällt mit der linken Körperseite voran in den Durchstieg des Bugkorbes.
Amélie schreit entsetzt auf und Kurt vergisst zu atmen.
Mit dem gesamten Oberkörper, bis zur Taille, hängt Charly auf der Seite liegend über den Bug seines Schiffes hinaus. Mit einem gesunden rechten Arm hätte er immer noch hinter sich greifen und sich am Bugkorb festkrallen können. Aber so …
Den hilflosen Kameraden auf der LIBERTY brennt sich dieses Bild tief ins Gedächtnis, obwohl es nur für einen Augenblick anhält. Denn die JURA bohrt ihren Bug tief in die See. Als der wieder auftaucht und das Wasser abschüttelt, ist Charly weg.

Fassungslos starren seine Freunde von der LIBERTY hinüber.

Kurt brüllt seine Verbitterung über diese Katastrophe in den Wind und beginnt automatisch die aufgewühlte See nach einem Schwimmer abzusuchen. Die führerlose JURA jagt unbeeindruckt weiter vor dem Wind in den beginnenden Abend, präzise auf Kurs gehalten von der automatischen Steuerung.
Die weinende Amélie bekommt die Aufgabe, das Gebiet des Unglücks abzusuchen. Kurt startet erneut den Motor, wendet die LIBERTY und beginnt hastig, die schon stark gerefften Segel zu bergen. Amélie ist außer sich. Immer wieder schreit sie ihn an: „Tu doch was! Wir müssen ihm helfen.“

Kurt weiß, dass sie ihn bei den Wellen nur durch einen unwahrscheinlichen Zufall finden können. Immer vorausgesetzt, dass Charly sich überhaupt ohne Schwimmweste, mit einem gebrochenen Arm, an der Oberfläche halten kann. Wenn sie ihn nicht in den nächsten Minuten entdecken, ist die Lage aussichtslos.

Sie suchen verbissen bis in die Dunkelheit hinein. Beide wissen schon lange, wie vergeblich das ist.
Der Freund und langjährige Segelkamerad bleibt verschwunden.

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