Von Maria Lehner
Eigentlich sind wir auf der Suche nach dem Unspektakulären auf den Friedhof in Stadlau gelangt. Es wurde gesagt, dass die Gräber dort mitunter aussehen wie Miniaturschrebergärten. Genau! Und da: die Grabinschrift! Kurios, aber andererseits typisch dafür, wie man in dieser Stadt mit dem Tod umgeht. Die Stadt immerhin, in der die städtischen Büchereien eine Stofftasche drucken ließen auf der steht „Ich lese, bis ich verwese“. Das war die Antwort auf die städtische Bestattung gewesen, die schwarze Turnsackerln produzieren hatte lassen, auf denen zu lesen war „Ich turne bis zur Urne“. Typisch. Aber für viele doch befremdlich.
Wir bleiben stehen und lesen, was in den Grabstein eingraviert ist. Wir wundern uns: „Nicht alles ist ein Engel, was fliegt./ Nicht jedem ist es recht, dass er da liegt./ Erinnerung an Charly“. Das ist keineswegs nobelpreisverdächtig, aber zumindest „sehr bemüht“. Sicher steckt dahinter eine Geschichte. Und wenn man Glück hat, wird sie einem erzählt. Auch wenn man fremd ist. Da kommt nämlich gerade eine Frau auf das Grab zu.
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Sie hat ihr Kübelchen ausgeleert und die erste Ladung ausgezupftes Unkraut zum Komposthaufen gebracht. Sie stellt sich vor. Kaliwoda heißt sie. Sie deutet mit dem kleinen Schaufelchen zur Inschrift:
„Gell, das ist ein schöner Spruch: Ja, der Charly liegt da. Lanzarote-Charly habens ihn immer genannt. Weil er, seit er in Pension gewesen ist, zehn Monate im Jahr dort in der Zweitwohnung war. Seiner Frau hats dort nicht so gfallen. Zu viele Rentner. Und außerdem das Ungeziefer.“
Sie zerteilt gedankenlos eine Nacktschnecke mit ihrem scharfen Gartenwerkzeug und wirft die Stücke beiseite.
„Wie das so ist: Seine Liesl hat sich hier in Wien ganz wohl gefühlt. Im Stadtpark oder in der Konditorei, beim Seniorentreff. Sie hat ja viele Verehrer ghabt. Sie hat sich nichts aus der ewigen Sonne und fadem Sandstrand gemacht. “
Die Kaliwoda lockert die Wurzeln eines tief eingewachsenen Unkrautbüschels.
„Und der Charly hat sich dort eine Iraya angelacht. Eine junge Frau aus Lanzarote. Sie hat für ihn geputzt. Tag und Nacht, wenn Sie wissen, was ich meine. Irgendwann ist sie praktischerweise bei ihm eingezogen. Hat den Charly recht verwöhnt mit Turrón, Palmares und dem anderen süßen spanischen Zeug, das er so gern gegessen hat. Und rauchen hat er dürfen. Immer und überall. Sogar – das hat die Liesl ja nie wollen – am Klo. Dabei ist es passiert.“
Sie zieht aus der Vase einen vertrockneten Blumenstrauß und legt ihn beiseite. Was kann am Klo beim Rauchen schon passieren? Herzinfarkt wahrscheinlich. Aber sie redet schon weiter:
„Nicht, dass Sie glauben, dass er dort gestorben ist. Es hat eigentlich angefangen mit dem Obstsalat, den er auf der Terrasse hat stehenlassen. Als die Iraya vom Einkaufen zurückgekommen war, hat der Teller, wie wir in Wien sagen, nur so gewurlt. Die Küchenschaben, wissen sie, Cucarachas.“
Es schüttelt sie vor Ekel. Sie kratzt einen Kerzenrest aus der Laterne.
„Die Iraya schüttet also den Inhalt des Tellers ins Klo und spült. Wissen Sie, wie widerstandsfähig die Viecher sind? Man sagt, sie überstehen sogar einen Atomkrieg. Na, jedenfalls, eine schwimmt und flattert noch im Wasser. Da wird die Iraya hysterisch. Sie schüttet das Insektenpulver drüber, gleich die halbe Dose voll und macht den Klodeckel zu. Kurze Zeit später setzt sich der Charly aufs Klo (ich habs schon erzählt: dabei raucht er gerne) und wirft die noch glosende Zigarette ins Klo.“
Jetzt macht sie eine Kunstpause.
„Also: das alles explodiert. Es gibt eine Stichflamme. Der Charly hat Brandwunden am Hintern und einen Schock.“
Wir wenden uns diskret ab. Wahrscheinlich sieht man unsere Schultern beim Lachen zucken.
„Die Iraya holt einen Krankenwagen, sie fährt mit. Auf der Fahrt wird sie gefragt, wie das Unglück passiert ist. Sie erzählt es freimütig. Der Fahrer muss lachen, kneift dabei die Augen zu und lenkt das Auto gegen einen Baum. Dem Fahrer, dem Beifahrer und der Iraya passiert nichts, aber der Charly stirbt. Würdelos, mit nacktem Hintern. Das hat er sich nicht verdient.“
***
Sie geht, um Wasser mit einer Gießkanne zu holen. Endlich platzen wir heraus vor Lachen. Nur kurz. Sie kommt schon wieder zurück.
„Jetzt war die Liesl schon traurig: Im Sarg ist er zurückgekommen. Zum Begräbnis war dann die Iraya da. Die Liesl und sie haben sich sofort angefreundet. Alles hat ihr die Iraya erzählt und die Liesl hat es uns erzählt. Nach ein paar Tagen, nachdem sie das Begräbnis gemeinsam in jedem Detail organisiert gehabt haben, sind sie sogar Arm in Arm hinter dem Sarg gegangen. Kurz bevor die Musikkapelle am Grab angelangt ist, wurde auf ein Zeichen von der Iraya und der Liesl „La Cucaracha“ in Moll und im Marschrhythmus gespielt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie komisch das klingt.“
Sie versucht, es nachzumachen, prustet aber vor Lachen und lässt es sein.
„Also: Wir waren schon erstaunt über die beiden. Keine Sprachprobleme. Keine Eifersucht. Die Liesl ist sogar mit nach Lanzarote gefahren. Dann haben sie noch mit uns gemeinsam den schönen Grabspruch gedichtet. Seither ist die Liesl auch immer da unten. Die zwei wohnen zusammen und sind jetzt Unternehmerinnen. Und wir, die Freundinnen, pflegen halt das Grab.
***
Aha! Sie gießt die Pflänzchen auf dem Grab vom Lanzarote-Charly. Als wir uns verabschieden wollen, öffnet sie ihre Handtasche und kramt eine Visitkarte hervor, die sie uns hinhält. Auf den ersten Blick sehe ich ein Logo, das aussieht, wie zwei geflügelte Wesen. Sie sagt, wobei sie einzelne Wörter etwas mühsam von der Karte abliest:
„Wenn Sie einmal nach Lanzarote kommen, fahren sie in diesen Ort: Ca-le-ta de Fa-ma-ra. Gehen Sie dort in die Bar „El Si-ba-rita“. Das ist die Bar von der Liesl und der Iraya. Zu später Stunde tanzen die beiden im Küchenschaben-Kostüm für die Gäste und klappen dabei die Flügel auf und zu. Es gibt sogar ein kurzes Video davon im Internet, heißt es.“
Die Kaliwoda gibt uns die Karte, wir bedanken uns und gehen. Michael wiederholt gedankenverloren: „Nicht alles ist ein Engel, was fliegt.“
Version 2 (6023 Z)