Von Regina W. Egger

Nicht in meinen schlimmsten Träumen hätte ich mir vorstellen können, dass Charly auf diese Weise umkommen würde. Und obwohl es schon so lange her ist, es war im Sommer 1985, schmerzt es mich noch heute, wenn ich daran denke.

Charly. 

Ich war gerade einmal zwanzig, als mein älterer Bruder uns zusammenbrachte. Der wohnte damals schon in Deutschland und nahm ihn bei einem seiner seltenen Besuche zu uns mit nach Hause. Wir waren sofort ein Herz und eine Seele. Unzertrennlich. Charly, das war mein Kosename für ihn und ihm machte es nichts aus, so genannt zu werden.

Gleich im Februar unternahmen wir unsere erste große Reise zusammen. Mit dem Zug nach England, wo ich meine Freundin Becky besuchen wollte. Wir fuhren damals immer mit der Bahn, das Interrail Ticket war kostengünstig, und so ging es in den Semesterferien ab nach Brighton. Gleich nachdem der Zug den Grazer Hauptbahnhof verlassen hatte, schob ich in unserem Abteil die Sitze zusammen, sodass man bequem die Beine ausstrecken und dösen konnte. Wir kuschelten uns aneinander und er raunte „Train Station Blues“ in mein Ohr. Oh, wie selig ich war! Charly hatte alle meine Lieblingssongs drauf und „Every little thing she does is magic” war einzig und allein für mich.
Alle meine Freundinnen beneideten mich um Charly, auch Becky. Und als wir uns nahe dem Brighton Pier am Strand niederließen, einen Joint teilten, und ich anschließend in meiner himmelblauen Latzhose barfuß über den Sand tanzte, hielt ich Charly fest umschlungen. „Puff, the magic dragon“ passte dazu wie die Faust aufs Auge, und Becky schielte eifersüchtig zu uns herüber. Ich geb’s ja zu, es war nicht nett, meine Freundin so zu ärgern, aber wenn man jung ist und übermütig und noch dazu ein wenig zugedröhnt … Und geteilt hätte ich Charly nie mit ihr, bei aller Freundschaft!

Im darauffolgenden Sommer ging es nach Schweden und wieder war Charly mit von der Partie. Aber auf dem Fährschiff von Helsingborg nach Helsingör hätte ich ihn beinahe verloren. Ich hatte zu viel getrunken und war auf dem Sitz eingeschlafen. Da war er plötzlich weg. Ich dachte, mein Herz bliebe stehen, als ich es bemerkte. Aber bevor wir anlegten, war er wieder an meiner Seite, und trällerte mir „Ich düse, düse im Sauseschritt und bring die Liebe mit“ ins Ohr. Wie erleichtert ich war!

Manchmal begleitete Charly mich auch auf die Uni, abends fuhren wir zusammen mit dem Fahrrad am Stadtpark vorbei. Der Duft der Linden senkte sich betörend auf die Stadt und ich sang lauthals „Love of my life“ in die laue Frühsommernacht hinaus, natürlich musikalisch unterstützt von Charly.

Und dann im Juli 1985 kam der schicksalsträchtige Tag. 

Das Semester hatte eben geendet und ich musste aus meiner Wohnung raus. Mein jüngerer Bruder sollte mir beim Siedeln helfen. Der war immer schon ein Schussel, und letztlich war auch seine Unachtsamkeit an dem Unglück schuld.

Ich hatte damals wenige Habseligkeiten, sie fanden in ein paar Kartons und zwei großen Reisetaschen Platz. Ich packte also meine Siebensachen und mein Bruder belud seinen alten VW Käfer damit.

Charly lag noch auf dem Sofa herum und mein Bruder nahm ihn schließlich mit.

Der Wagen war rappelvoll, als wir einstiegen. Mein Bruder fuhr los und stieg plötzlich stärker aufs Gas, um noch vor dem Linienbus in die Gasse links abzubiegen. Da schepperte es auch schon.

Hinter uns bremste der Busfahrer, aber es war zu spät.

Ich tappte auf den Rücksitz. „Wo ist Charly?“, kreischte ich. Oh nein! Ich hatte so eine Ahnung, und bedeutete meinem Bruder rechts ranzufahren.

Als ich aus dem Wagen sprang, sah ich ihn sofort. Und mir war auf Anhieb klar, dass da nichts mehr zu machen war. Charly war in tausend Teile zersprungen und das Band der Kassette flatterte im Wind. 

„Du Vollidiot!“, schrie ich meinen Bruder an. „Du hast ihn auf dem Wagendach abgelegt und dort vergessen!“ Der solchermaßen Beschuldigte ließ die Schultern hängen.

Ich rannte zur Unglücksstelle, mir rannen die Tränen über die Wangen. Ein paar Splitter des Kunststoffkörpers und die Reste der Musikkassette sammelte ich ein.

„Save me“ war das letzte Lied gewesen, das mir der gute alte Charly ins Ohr gedudelt hatte. Charly. Der Himmel allein weiß, warum ich ihn so genannt habe, meinen stahlblauen Sony Walkman. Aber schließlich bedachte ich damals alle, die mir besonders am Herzen lagen, mit diesem Spitznamen, sogar meine beste Freundin Henriette.

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