Von Lauretta Hickman

„Ich Idiot! Wieso habe ich mich überreden lassen? Nie wieder!“

Charly hielt sich mit patschnassen, weißen Händen an der Wand links von sich fest und starrte dem graumelierten, schicken Moderator vor sich hilflos auf den Rücken. Sekündlich nahm die Taktung seines Herzschlags zu, der ihm schier den Rippenkasten sprengte. Atmen fast unmöglich. Er konnte auch nicht mehr wahrnehmen, ob ihm heiß oder kalt war. Der Fluchtinstinkt hämmerte so laut in ihm, dass er Todesangst bekam.

 

„Ist das nicht ein Witz?“, dachte Charly. „Ich bin hier wegen meines Todes und sterbe dann hier? Vorher?“

Er lachte kurz auf, was eher wie ein Röcheln klang.

 

Der Moderator drehte sich daraufhin um und sagte, ihm jovial den bebenden Arm in der abgewetzten Lederjacke tätschelnd: „Keine Sorge, das ist nur das Lampenfieber. Haben die ganz Großen auch. Manche so schlimm, die muss man vor jeder Premiere von der Toilette holen. Das hört auf, sobald du draußen stehst und die Leute siehst. Ruhig und tief atmen.“

 

Leute siehst. Exakt das Falsche. Charly ächzte. Ihm drohten die Knie wegzubrechen.

Just in dem Moment, als er beschloss, umzukehren, dem Team zu sagen, dass er das nicht könne, dafür nicht gemacht sei und gehe, überkam ihn auf einmal eine tiefe Ruhe, zusammen mit dieser…  stillen, friedlichen, behütend-liebevollen… Anwesenheit, die er seither bei sich, um sich herum und manchmal auch in sich fühlen konnte. Wieder war er in diese unsichtbare Watte gepackt, eine Art ewiges, gütiges, alles umspannendes Jetzt, das diesen Moment, den Moderator vor sich, ja, das gesamte Ereignis hier, an einen entfernten Rand seiner Aufmerksamkeit schob. Diese friedliche, ewige Wattestille in ihm war plötzlich viel „lauter“ als das Außen.

Sein Körper beruhigte sich merklich.

 

„Wo ist dein Vertrauen, Charly? Glaubst du, das ist Zufall, dass du hier stehst? Du warst einverstanden, Inspiration zu sein. Hast es dir sogar gewünscht. Nun geh und genieße.“

 

Da war sie, die Stimme. Nie urteilend, stets zutiefst liebevoll, nah, freundlich und doch mit unleugbarer Autorität. Es war auch nicht so, dass er das konkret „hörte“ als Stimme. Es war wie eine Art Denken, aber viel klarer und mit einer anderen „Farbe“, als seine üblichen inneren Dialoge. Die, so fiel ihm gerade auf, ohnehin weniger wurden.

 

„Aber meine Geschichte werden die meisten Menschen eher schräg und spooky finden. Und mich ablehnen. Wieder. Bei allen bisherigen Beiträgen ging es um was ganz was Anderes.“

 

„Das ist nur deine Angst. Es gibt diese Menschen, die du beschreibst, ja. Es gibt aber auch Menschen hier, für die es im wahrsten Sinne überlebensnotwendig ist, deine Geschichte heute zu hören und die nur deshalb hier sind – ohne es zu wissen. Also: was willst du jetzt wichtiger sein lassen, Charly – deine Liebe zu diesen Menschen oder deine  – alte – Angst? Vergiss nicht – du wolltest wachsen.“

 

Dagegen hatte Charly kein Argument. Brauchte er auch nicht. Nicht mehr. Die Panik hatte sich verflüchtigt. Geblieben war eine gespannte Aufgeregtheit, die sich… tatsächlich – sogar mit einer zarten Vorfreude mischte.

 

In diesem Moment beendete die Rednerin vor ihm ihren Beitrag, und ging, begleitet von tosendem Applaus, von der Bühne. Rotwangig, voller Freude und Energie stürmte sie an Charly vorbei und sagte: „Ach, das war so toll!“

 

Draußen auf der Bühne der Stadthalle dirigierte der adrette Moderator bereits die Menge, im Stil von „Na, haben wir euch zu viel versprochen?“, zusammen mit weiteren Hinweisen für die Veranstaltung, Follow-ups, Nennen von  Sponsoren, noch einmal den Zweck und sagte dann: „Und nun kündige ich euch einen Mann an, der eine ungewöhnliche, wenn nicht gar unglaubliche Geschichte zu erzählen hat. Wir fanden, dass er damit ausgezeichnet in die Reihe unserer „besonderen alltäglichen Menschen in Bielefeld “ passt. Heißen Sie Charly Reck ganz herzlich mit einem Applaus willkommen!“

 

Und sah zu ihm und nickte.

Charly marschierte los auf die hellerleuchtete Bühne. Zunächst konnte er, jählings geblendet von den Scheinwerfern, wenig erkennen. Auf dem Hintergrund der ihm riesig erscheinenden Bühne das Banner: „HeldInnen unserer Stadt – das Außergewöhnliche im Alltag“ mit den ganzen Sponsorenlogos. Klicken und Blitzlichter: Presse.

Und auf einmal sah Charly die Menschen: Junge und Alte, alle Schichten und Klassen, Hautfarben, Kleidungsstile und dachte: „Vor einem Jahr hätte ich auch da unten stehen können. Was hätte ich wohl von mir gedacht? Puh. Ich war ein ganz anderer Mensch.“

 

Man hatte ihm vorher abgeraten, seine Geschichte auswendig zu lernen. Er sei ja kein professioneller Schauspieler und die Leute hätten es lieber authentisch. Also hatte er sich zumindest so etwas wie eine Reihenfolge, eine Art roten Faden, zurecht gelegt.

Er beschloss, auch das fallen zu lassen und schlicht zu vertrauen.

Sein weiter ruhiger Watte-Innenraum weckte in ihm das Bedürfnis, zunächst Verbindung zu den Menschen aufzunehmen. Dann atmete Charly noch einmal tief ein und aus und mit dem Ausatmen den letzten Rest von Stress und Zweifel.

 

„Guten Abend! Mein Name ist Charly Reck. Und ich bin vor einem Jahr gestorben.“

 

Auf diese Einleitung hin wurde es merklich ruhiger im Publikum.

 

„Wenn ich wirklich ehrlich bin, war dieser Moment unausweichlich. Ich habe auf ihn hingesteuert. Glaube ich heute. Ich weiß noch, ich hatte das klare Gefühl, mit dem Bike eindeutig zu schnell, viel zu riskant in den Kreisverkehr zu fahren. Und als der Laster mich erfasste, mich direkt halb unter sich begrub und mitnahm, war mein erster Gedanke: „Ich wusste es!“ Mein zweiter Gedanke war: „Hier komme ich nicht heil raus.“ Ich hörte eine Reihe von ganz feinen Knick-Knacks in meinem Hals und rechts in meinen Rippen. Danach ein Knirschen. Und dann war ich weg.“

 

Es war jetzt fast ganz still im Publikum.

 

„Zu dem Zeitpunkt war ich achtundvierzig, hatte drei Karrieren und einen kurzen Knastaufenthalt hinter mir. Zweimal geschieden. Zwei von meinen insgesamt fünf Kindern haben den Kontakt abgebrochen. Hatte viel ausprobiert, was ich besser gelassen hätte und ich war in keinem guten Zustand. Ich war wohl so in einer Art Depression. Das Leben, mein Leben, Leben überhaupt… war…“, Charly musste schlucken. „… bedeutungslos. Sinnlos. Auch wenn mir das damals nicht ganz so klar war.“

 

Er sammelte sich kurz. Dann floss es:

 

„Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich an zwei Orten gleichzeitig war – in  meinem Körper, der festgezurrt und abgepolstert in einer Notaufnahme lag. Ich sah die Lichter über mir und Menschen, die aufgeregt Worte wechselten. Ich wusste, dass mein Körper extreme Schmerzen hatte. Ich konnte sie aber nicht fühlen. Gleichzeitig war ich außerhalb und sah mich, die Sanis, Schwestern, Pfleger und Ärzte leicht von oben.

Ich habe ihnen etwas zugerufen, aber sie haben mich nicht gehört. Auch hier – keine Schmerzen.

Komisch wurde es, als mein Körper in den OP geschoben wurde. Als die Türen vor mir zugingen, konnte ich durch die geschlossenen Türen gehen. Das war eigentlich der erste Moment, in dem ich dachte, irgendwas stimmt nicht. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass jemand rief: „Wir verlieren ihn!“.

 

Es war mir völlig egal.

 

Ich war wie in Watte gepackt; aufgehoben; alle Sorgen, alle Nöte, alles, was Charlys Leben ausgemacht hat– weg. Und plötzlich war ich in einer Landschaft. Die Schönste, die ich je gesehen habe. Alles leuchtete und funkelte und konnte die Farben wechseln. Und es war so schön, so friedlich. Und frei. „Willkommen Zuhause!“, hörte ich. Es war nicht direkt ein Ton oder eine Stimme. Eher eine… Anwesenheit, die mir das übermittelte, wie Denken, nur viel… intensiver.“

 

Charly musste erneut kurz pausieren.

 

„Ich wollte hier nie wieder weg. Diese Liebe, dieser Frieden, diese Freiheit – danach hatte ich mein  Leben lang gesucht. Ohne es zu wissen. Aber mir wurde gesagt, dass es noch nicht an der Zeit ist. Dass ich hier noch was zu tun habe. Dass ich etwas versprochen habe. Dann wurde mir mein Leben gezeigt, oder Ausschnitte davon. Wo ich anderen weh getan habe. Aus Dummheit, aus Unreife. Aber auch viele Momente, in denen ich anderen geholfen habe, oft, ohne es zu wissen. Ich gewann den Eindruck, doch ein etwas besserer Mensch zu sein, als ich zu dem Zeitpunkt meines Lebens dachte.“

 

Charly glaubte, hie und da eine Bewegung im Publikum wahrzunehmen, als ob sich jemand eine Träne aus den Augenwinkeln wischen würde. Er war nicht sicher.

 

„Ich habe danach noch einiges an, wie soll ich das nennen – Unterricht? Briefing? – bekommen. Aber immer sehr liebevoll. So wie man sich eigentlich Eltern und Familie wünscht, nur hunderttausend Mal intensiver. Dann musste ich zurück. Das war ein Schock, zunächst. Erstens, in meinem kaputten Körper aufzuwachen. Was für mich ein wochenlanger Aufenthalt im Paradies war, waren hier so dreißig Minuten, in denen ich klinisch tot war. Sie haben mich gut zusammengeflickt. Schlimmer war das Heimweh. Das war dann der zweite Schock – wie platt und oberflächlich alles ist. Wie weit weg wir hier sind von dem, wie es sein könnte.

 

Aber ich habe ja eine zweite Chance bekommen. Und… ich kann selbst etwas von dem sein, was ich erfahren habe, das habe ich verstanden. Ich kann etwas besser machen, heil machen. Auch von dem, was in meinem eigenen Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Die Verbindung ist geblieben, ich kann sie herstellen, wenn auch nicht so intensiv. Aber – ich bin immer begleitet. Und viel ruhiger, friedlicher. Mein größter Erfolg bisher ist, dass meine beiden Töchter wieder mit mir sprechen. Darauf bin ich stolz. Und dafür bin ich dankbar.

 

Also: Das war der Tag, als Charly Reck starb. Und ein Leben bekommen hat.“

 

Stille.

 

Als ihm die erste standing ovation seiner beider Leben zuteil wurde, hätte Charly selbst nicht verblüffter sein können.

 

V2 | 9710 Z.