Von Raina Bodyk

Ich liebe es, hier draußen auf dem Balkon zu sitzen, die hochgewachsenen Birken, die duftenden Blumen in ihren Kästen zu bewundern und dem  Summen der Bienen zu lauschen.

Wo sind wir hier? In Urlaub?“

„Nein, wir sind zuhause.“

„Und wo ist das?“

„In Langenberg.“

„Haben wir die Wohnung gemietet?“

„Ja, schon vor  vielen Jahren.“

So lange schon? Warum weiß ich das nicht?

„Und wo sind wir hier? Warum verziehst du das Gesicht? Fall ich dir zur Last? Soll ich verschwinden?“

„Tut mir leid. Nein. Aber du stellst seit fast zwei Stunden diese immer gleichen Fragen.“

„Ja? Okay, nur noch eine allerletzte Frage: Wo sind wir hier?“

 

„Ich geh jetzt einkaufen.“

„Ich komme mit.“

„Nein, das geht nicht. Du weißt doch, dass alle wegen Corona eine Maske tragen müssen. Du nimmst sie im Laden immer ab, weil du angeblich keine Luft kriegst. Das darf man nicht. Ich beeil mich und bin ganz schnell zurück.“

„Ich behalt sie auf! Ich komm mit!“

„Nein.“

Das wollen wir doch sehen. Schnell sause ich zur Garderobe, schlüpfe in Schuhe und Jacke. Fertig. Jetzt muss sie mich mitnehmen. Die Frau ist schon an der Wohnungstür. 

„Es geht nicht!“ 

Sie zieht einfach die Tür von außen zu und lässt mich da stehen wie einen Idioten. Das ist unverschämt. Warum darf ich nicht mit? Hat sie was zu verbergen? Wer ist sie überhaupt? Warum erlaubt sie sich so etwas? Arbeitet sie hier?

 

Warten, warten, warten … Wann kommt sie denn endlich wieder? Ich lasse die Tür nicht aus den Augen. Bin nicht mehr gern allein. Weiß ja nicht, wo ich bin. Und wenn sie nie wieder zurückkommt? Ich spüre die Angst hochkriechen. Wer soll mich denn hier finden?  Hab ich überhaupt einen Schlüssel? Mein Herz klopft ganz laut.

Da, endlich! Die Tür öffnet sich mit einem leisen Quietschen. Muss ich mal ölen. Ich fühle mich sofort besser. Erleichtert laufe ich ihr durch das Wohnzimmer entgegen.

„Du strahlst aber! Freust du dich so, dass ich wieder da bin?“ 

Lachend nimmt mich die Frau in die Arme und kitzelt mich ein bisschen. 

„Hilfe! Hör auf!“.

Glücklich drücke ich sie an mich.

 

„Was ist eigentlich mit meiner Mutter?“

„Sie ist vor zehn Jahren gestorben.“

„Ja? Warum weiß ich das nicht?“

„Du hast es gewusst, nur wieder vergessen.“

„Dann bin ich ja ein Waisenkind.“

„ich auch. Aber wir haben ja noch uns.  Weißt du, wer ich bin?“

„Hmm … Die Hilde?“

„Richtig. Bin ich deine Frau, deine Schwester, eine Pflegerin?“

Hilflos zucke ich die Schultern. Warum stellt sie mir so merkwürdige Fragen? Woher soll ich denn wissen, wer sie ist. Es sagt mir ja keiner was. Sie weckt mich morgens, wäscht mich, macht das Frühstück. Sie ist halt immer da. 

 

Es ist so dunkel. Das Licht ist von ganz allein ausgegangen. Wo bin ich? Die Tür hier geht nicht auf. Wo ist mein Bett? Ich wollte doch nur aufs Klo.

„Hab ich dich endlich gefunden! Ich habe die ganze Wohnung abgesucht und konnte dich nirgends entdecken. Wie bist du nur hier herunter gekommen? Zwei Etagen und jetzt stehst du vor der verschlossenen Kellertür! Komm, nimm meine Hand und dann gehen wir langsam wieder rauf.“

Gott sei Dank, sie ist gekommen. Mir ist ganz kalt. Ich möchte schlafen.

 

Heute Nachmittag haben wir es uns richtig gemütlich gemacht. Hilde hat eine CD mit And…, An…, na, diesem Holländer, aufgelegt. Wir haben sogar einen kleinen Walzer getanzt. Viel Puste hab ich ja nicht mehr. Es hat Spaß gemacht, sie wieder und wieder zu drehen. Wie früher. Am liebsten mochte ich den Schneewalzer.
‚Den Schnee-, Schnee-, Schnee-, Schneewalzer tanzen wir:
du mit mir, ich mit dir!‘ Leise summe ich mit.

 

„Monika hat mich zu ihrem Geburtstag eingeladen. Kommst du zwei Stunden allein zurecht? Um 17.00 Uhr bin ich zurück, versprochen. Ich schreib dir auf, wann ich wieder da bin und meine Telefonnummer, dann kannst du mich jederzeit anrufen, wenn was ist. Okay?“

„Kann ich nicht mit?“

„Es sind nur Frauen eingeladen. Wir wollen mal so richtig über unsere Männer lästern!“

„Okay.“

 

„Klaus, was machst du im Krankenwagen? Was ist passiert?“

Was schreit sie so? Ich bin sie doch nur suchen gegangen. Wollte ihr entgegen gehen. Hab sogar durch die Fenster geguckt, ob sie einen Nachbarn besucht hat. Konnte sie aber nirgends entdecken. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, ob ihr was passiert ist. Bei dem vielen Verkehr und dunkel wird es auch schon langsam. Warum regt sich Hilde so auf? Ich liege in einem Auto …

„Sie sind die Ehefrau? Ihr Mann ist wohl ein paarmal hingefallen und Nachbarn haben den Krankenwagen gerufen.“

Oben in der Wohnung, die Männer haben mich nicht ins Krankenhaus gebracht, schimpft sie genervt  mit mir, weil ich die Wohnung verlassen habe. Versteh ich nicht. Ich bin doch immer spazieren gegangen. Ewig nur Vorwürfe. Vorwürfe und Gekreische … 

„Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Ich kann machen, was ich will. Du bist nicht mein Aufpasser.“

„Nein, aber ich mache mir Sorgen, dass du nicht mehr nach Hause findest.“

„Wieso sollte ich? Ich habe schon als Kind hier in Hamm gewohnt. Ich kenne hier jeden Stein.“

„Du wohnst aber jetzt in Langenberg.“

Blödsinn. Oh, mir scheint, jetzt wird sie wütend. Das kann sie haben. Nicht mit mir. Drohend hebe ich die Hand.

„Einen Schritt näher und du fängst eine! Wer bist du überhaupt? Du hast mir gar nichts zu sagen. Wenn dir was nicht passt, kannst du verschwinden. Für immer. Pack deine Koffer. Ich brauch dich nicht.“

Es befriedigt mich zu sehen, dass Angst in ihren Augen aufblitzt. Sie weicht sogar einen Schritt zurück. Ich lass mich doch von dieser Person nicht entmündigen!

 

Sie gibt mir so ein komisches, surrendes Ding in die Hand.

„Was soll ich damit?“

„Dich rasieren.“

„Wo?“

 „Im Gesicht.“ 

Sie kichert wie eine alberne Gans. Das macht mich stinksauer. Lacht sie mich aus? 

„Ich piss dir gleich in die Augen!“

Uh, jetzt heult sie wieder. Ich kann das nicht ab. Ich brauche nur was sagen und schon geht das Geflenne los. Wie mich das nervt!

„Das ist keine Hose. Das Hemd muss über den Kopf. Aber erst den Schlafanzug ausziehen.“

Was soll ich denn noch alles wissen? Mach ich nur noch alles falsch? Am liebsten würde ich mich irgendwo verkriechen. Jeder sagt mir, was ich tun soll. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind. Alles ist so durcheinander. 

 

Die Frau hat den Fernseher angemacht. Fragt noch blöd, was ich gucken möchte. Woher soll ich das wissen?
Na ja, hat was mit Tieren angemacht. Das mag ich. Dann fragt mich diese Schwachsinnige doch mitten in der Sendung, ob ich ein zweites Brötchen essen möchte. Bitte?! Ausgerechnet jetzt kommt sie mit so einer blöden Frage und stört. Dabei hat sie selbst das Gerät angeschaltet. Ich werfe den Teller nach ihr. Hah, getroffen! Jetzt jammert sie gleich wieder!

„Ich wollte dich doch nicht stören. Habe doch extra während der Werbung gefragt.“

 

„Wo ist das, das …? Ich muss mal.“

„Zum Klo? Komm, ich bring dich hin. So, hier ist das Badezimmer.“

„Und wo soll ich …?“

„Da ist doch die Toilette.“

„In das Loch da unten?“

 

„Wo sind denn die anderen Leute?“

„Welche anderen?“

„Na die, die auch hier im Hotel wohnen.“

„Hier wohnen nur wir.“

„Das kann ja gar nicht sein, ich hab sie doch beim Frühstück gesehen!“

„Aber hier ist niemand außer uns.“ 

Will die mich für verrückt erklären? Ich hab doch Augen im Kopf. Da waren eben noch mehrere Leute, Kinder waren auch dabei. Ich bin doch nicht blöd. Wütend schüttele ich sie.

Warum sind der Tee und das Essen so heiß? Das ist einfach unverschämt, wer soll das denn essen und trinken? Eine Zumutung ist das! Hier komme ich nicht mehr hin. Gleich schmeiße ich alles aus dem Fenster. Ich haue ab!

 

„Hilde, was ist mit mir? In meinem Kopf ist alles so komisch. Manchmal denke ich, ich weiß überhaupt nichts mehr.“

Verzweifelt schlage ich mit den Fäusten an meine Stirn. Dahinter ist alles durcheinander. Ich versteh nicht, was mir die Leute erzählen, kann mich an nichts erinnern. Alles leer. 

„Du bist krank, Klaus, aber uns geht es doch trotzdem gut, oder? Nachher  nehmen wir den Rollstuhl und gehen spazieren. Draußen scheint die Sonne schon ganz warm.“ 

Unwillkürlich kommen mir die Tränen. Ich sitze hier und mehr weiß ich nicht. Hab ich keinen mehr? Keine Familie? Wenigstens die Frau ist immer da. Wenn sie weggeht, habe ich immer solche Angst, dass sie nicht zurückkommt. Wenn ihr was passiert, was wird dann aus mir? Werde ich einsam hier sterben? Keiner weiß doch, dass ich hier wohne.
Jetzt streichelt sie mich. Sie kennt mich besser als ich mich selbst, behauptet sie immer. Ich glaube, sie spürt meine Verzweiflung. 

 

„Mein Vater ist im Krieg geblieben. Die Schweine haben ihn einfach abgeknallt. Einen Vater von vier Kindern!“

„Ja, und du hast sein Talent zum Gärtnern geerbt. Sieh nur, wie schön der Balkon aussieht.“

„Halt! Schnell, hinlegen. Ich höre die Flieger kommen!“

„Klaus, das ist doch nur ein Flugzeug.“

„Kopf runter! Gleich kommen die Bomben.“

Blut, überall Blut. Der Himmel ist feuerrot. Brandbomben. Wir sitzen im Keller, die Alten beten, die Kinder schreien. Frauen weinen. So viele Männer sind schon gestorben. Hört das denn nie auf? Nacht für Nacht. So laut, so schrecklich laut …

„Komm hoch, mein Schatz. Du bist zuhause und sicher. Ich bin bei dir.“

Sie versteht nicht. Sie kennt den Krieg nicht. Sie hat Glück gehabt. Aber wenn sie sich nicht gleich wieder hinlegt, ist alles vorbei.
Sie gehorcht nicht, ich rapple mich hoch, werfe sie um und lasse mich selbst auch fallen. Sie fängt an, mit mir zu kämpfen, schlägt um sich, um sich aus meiner Umklammerung zu befreien. Warum wehrt sie sich so? Ich gebe nicht auf, ich muss sie schützen.

**

Klaus Wiegand kniet schluchzend neben seiner Frau, die sich nicht bewegt.

„Was hast du? Steh doch auf. Komm, ich helfe dir.“ Er schiebt seine Arme unter ihren Körper, sie rührt sich nicht. Blut tropft langsam aus ihrem Hinterkopf.

Er schüttelt sie. „Hilde! Bitte, wach auf. Lass mich bitte nicht allein!“