Von Katrin Thelen
Ich war neu hier an dieser Schule. Ich hatte keine Lobby. Das war gut so. Es gab für mich nichts zu verlieren. Ganz im Gegenteil.
Ich stand im Raum der 10b und fühlte mich für diesen Moment unsichtbar, niemand nahm ernsthaft Notiz von mir. Das war nicht ungewöhnlich, denn nichts an mir zog die Aufmerksamkeit anderer schnell auf sich. Weder meine Größe noch meine Kleidung oder Frisur suchte das Rampenlicht. Nicht selten war das sogar angenehm. Unauffällig studierte ich die Schülerinnen und Schüler dieser Klassengemeinschaft, denen ein herausfordernder Ruf vorauseilte. Ab heute würden sie meine Klasse sein.
„Guten Morgen!“, klang meine Stimme freundlich, aber deutlich durch den Raum. Überraschtes Aufsehen, Getuschel, Stühlerücken. Der erste Eindruck ist der wichtigste, sagt man, und hier, von der Perspektive des Lehrertisches aus, überblickte ich sie, diese immer gleichen Persönlichkeiten, die wiederkehrenden Charaktere, auch die Muster der Cliquen. Laute und leise Menschen, modisch gekleidete und solche, denen das Aussehen nicht so wichtig ist. Schultaschen namhafter Modedesigner mit gammeligen Brötchentüten neben schwarz glänzenden Mopedhelmen. Und natürlich die eine Person, auf die es ankommt. Die eine Person, die vermutlich der wirkliche Grund ist, warum ich heute überhaupt hier stehe. Weshalb ich mich dazu entschlossen hatte, Englisch und Biologie auf Lehramt zu studieren und mein Studium als Jahrgangsbeste abzuschließen. Ein Erfolg, der vor allem aus einem Antrieb heraus unaufhaltsam geglückt war: Wut.
In dieser Klasse hieß diese eine Person also Niklas. Die Version von sich selbst, die er der Welt präsentiert, macht es leicht, ihn zu identifizieren, auch, wenn man ihn nicht kennt. Alle hatten sich zu ihren Plätzen getrollt und blickten je nach persönlicher Konstitution mit teenagerhafter Langeweile oder eher menschlicher Neugier auf die neue Person im Raum. Mich. Nur Niklas lehnte stehend an der Fensterbank neben seinem Platz in der letzten Reihe und beschäftigte sich mit seinem Smartphone, neuestes Modell. Als er sich sicher sein konnte, die Aufmerksamkeit aller dadurch gewonnen zu haben, das Geschehen um ihn herum scheinbar zu ignorieren, schaute er hoch. Er leckte sich die Lippen, bereit etwas zu sagen, die Partie zu eröffnen. Doch der Moment gehörte mir und meine Stimme hallte durch den Raum: „Mein Name ist Frau Griese. Mit Beginn dieses Schuljahres bin ich eure Klassenlehrerin und ich unterrichte euch in Englisch und Biologie.“ Ich sah Niklas ins Gesicht und sprach weiter: „Da die Stundenpläne noch nicht finalisiert sind, notiert euch bitte die vorläufigen Stundenzeiten.“ Jetzt, dachte ich, müsste er sich setzen, um die Zeiten, die ich nennen würde, mitzuschreiben. Allgemeines Taschenkramen und Stiftezücken der anderen war zu hören.
Niklas zog es vor, noch weiter aus seiner Deckung hervor zu kommen. Er setzte sich nicht, sondern packte stattdessen demonstrativ seinen Rucksack. Schließlich blickte er gelangweilt zum Fenster und sagte mit angeödeter Stimme: „Sorry, hab keinen Stift mit. Geht das nicht digital? Und überhaupt, wenn es noch keinen Stundenplan gibt, gibt´s auch keine Fehlstunden.“ Mr. Coolness schlenderte, so breit er es vermochte, durch den Gang zwischen den Tischen, die Arroganz in Person. „Ich geh dann jetzt mal. Kommt jemand mit?“ Er verlor wirklich keine Zeit, mir zu zeigen, wer die Regie in diesem Raum führte. Auffordernd blickte er sich um. Er wusste, in wenigen Augenblicken würden die ersten aufstehen und ihm folgen, und ich wusste es auch. Vielleicht waren es die Jungen, die sein unanfechtbares Selbstbewusstsein und seinen Erfolg bei den Mädchen bewunderten. Vielleicht war es auch eines der Mädchen, das sich damit würde brüsten wollen, die Neue an seiner Seite zu sein, ein vergänglicher Triumph für den eigenen Status.
Ich war fast enttäuscht, so wenig Überraschendes bot sich mir. Ich fühlte mich wie in einem viel zu oft gesehenen Film. Nur das deutliche Kribbeln in meinem Körper zeigte mir, dass heute etwas anders war. Heute war ich weder mit der falschen Filmrolle ausgestattet noch ein zur Passivität verdammter Zuschauer.
„Nun, Niklas, ich würde dir die Daten an die Tafel schreiben und dir erlauben, sie zu scannen, wenn dich das Aufschreiben so überfordert.“ Ich ließ den Satz seine Wirkung einen Moment lang entfalten. Die gesamte Klasse hatte eine Atmosphäre ergriffen so dick wie ein Eintopf von Oma. So unaufmerksam sie manchmal waren, hatten alle in diesem Moment verstanden, dass sie Zeugen einer Szene wurden, die mit Stundenplänen nichts zu tun hatte. Wie sehr sie mit dieser Einschätzung recht hatten, wusste allerdings nur ich.
Niklas sah mich an. Eine Mischung aus Überraschung, dass ich zum Angriff übergegangen war und Belustigung, was wohl mein nächster Schritt sein würde, las ich in seinen Augen.
Er hatte schöne Augen. Groß und rehbraun. Sie erinnerten mich an andere Augen meiner eigenen Mitschüler aus vergangenen Tagen. An die von Lehrern, Busfahrern, Fremden, ja, sogar ein wenig an die meines Vaters. Sie sahen auf mich herab. Abschätzig oder milde lächelnd. Zweifelnd oder überheblich oder manchmal auch siegessicher. Meist wertend, gerne prüfend, oft voller Hohn und Spott und böser Worte, ob ausgesprochen oder nicht.
Das letzte Mal, dass jemand mein junges Ich in schmächtiger, nichtssagender Mädchengestalt nicht ernstgenommen, ausgelacht oder als dumm bemitleidet hatte, lag lange zurück. Der Grund dafür war allein der, dass ich angefangen hatte, es nicht mehr zuzulassen. Die Menschen hatten sich nicht geändert. Noch immer waren vermeintlich Schwache das Lieblingsziel all derer, die diese Schwäche für sich nutzten wie Vampire, die das Blut ihrer Opfer zum eigenen Überleben brauchen. Eigene Macht durch das Herabsetzen eines anderen waren ihr billiges, aber wirksames Mittel, ihr Blut. Das, nur das, war es, was mich so wütend gemacht hatte, dass es der unstillbare Antrieb meines Lebens geworden war.
Mich würde niemand mehr aussaugen. Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht. Mein Moment stand unmittelbar bevor. Tatsächlich spürte ich deutliche Erregung als ich sprach: „Nur leider ist die Tafel ganz vollgeschmiert.“ Selbst der bedauernde Tonfall gelang mir. Jetzt war ich Regisseurin und Hauptdarstellerin meines eigenen Bühnenstücks, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich hatte keine Angst und spürte keine Unsicherheit mehr. Es fühlte sich großartig an. Ich nahm den ergrauten Tafelschwamm und legte ihn langsam und bedeutungsvoll wie eine scharfe Waffe auf das Pult zwischen Niklas und mich. Für einen entscheidenden Moment sah ich ihn direkt an. Ich genoss es. Jetzt war er das Reh in meinem Fadenkreuz. Ich bemühte mich meinen Emotionen nicht allzu viel Raum in meinen Gesichtszügen zu geben. Stattdessen nahm ich seelenruhig mein Tablet zur Hand und tippte.
Niklas gab ein kurzes abwertendes Grunzgeräusch von sich. Mit einem mitleidigen Kopfschütteln ob meiner lächerlichen Provokation ging er langsam weiter Richtung Ausgang, als von seinem Handy ein Benachrichtigungston erklang. Da noch immer niemand seiner Mitschüler sich zum Mitgehen entschlossen hatte, blieb er erneut stehen und holte sein Handy aus der Hosentasche. Währenddessen hörten wir alle, wie Nachricht zwei und drei eintrafen. Ich beobachtete ihn weiter wie durch ein Zielfernrohr und fühlte mit ihm, als er auf seinem Display las: „Ein Tadel beim Direktor ein Spaß? Eine Abmahnung ein Orden? Ein Schulverweis fast eine Auszeichnung? Dann kommt jetzt etwas Neues für dich.“ Es folgte ein Bild von Niklas Motorrad vor dem Schultor. Es war übersät mit pinkem Glitzerlack und einem eingeritzten Einhornmotiv. Untertitel: „Bisher nur eine Fotomontage…“ Er war so verwirrt, dass die ewig coole Gesichtsmaske einem irren Blick wich, der es nicht einmal wirklich erfasste, als die Nachricht sich löschte und eine neue an ihre Stelle trat. Niklas gab einen erstickten Laut von sich, der seine übliche Überheblichkeit völlig vermissen ließ. Auf dem nächsten Bild erkannte er einen kleinen Stein, beschriftet mit dem Namen seiner Katze und einem beunruhigend aktuellem Todesdatum. „Was … geht hier … ?“, stammelte er, als er erneut eine Nachricht an Stelle der vorherigen erhielt. Auf diesem Bild war er selbst zu sehen. Er kannte das Bild. Seine Mutter hatte es im letzten Urlaub gemacht. Auf dem Original zuhause auf dem Kaminsims trug er die neue Armani Jeans und das Poloshirt, das seine breiten Schultern so gut zur Geltung brachte. Auf dem Bild auf seinem Smartphone trug er diese Kleidung nicht. Er war nackt. Unübersehbar allerdings fiel der Blick sofort auf die auffällig unangenehme Körperbehaarung an zu vielen Stellen. Im Fokus der Aufnahme lag allerdings unbestreitbar sein nahezu minimalistisches Geschlechtsteil. Die Nachricht war unterschrieben mit „ Geht auch in DIN A Null!“ So schnell dieses Unfassbare vor seinen Augen erschienen war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Es war verblüffend leicht gewesen, sich im Darknet ein wenig notwendiges Spezialwissen zu erwerben, das die digitale Welt so grenzenlos machte. Auch grenzenlos kriminell.
Niklas sah aus, als würde die Welt sich zu schnell für ihn drehen. Jeder andere hätte gewiss Mitleid mit ihm.
Die letzte Nachricht, die jetzt eintraf, enthielt nur drei Worte: „Wisch. Die. Tafel.“
Ich sah, wie Niklas Hand zitterte. Er sah hoch und schaute mich an. Ein Häufchen Elend, geboren aus lodernder Panik, totaler Unsicherheit und blanker Angst. Kannte ich. Ich erahnte den Alptraum, der in seinem Inneren tobte. Freundlich lächelnd deutete ich auf den Schwamm auf dem Pult.
Niklas Tasche rutschte auf den Boden. Er ergriff den Schwamm. Begleitet von erstauntem, aufgeregtem, fast angewidertem Wispern, das den Klassenraum erfüllte wie ein zorniger Hornissenschwarm, wischte er bis zum letzten Strich alles sauber. Zum Schluss warf er sein Smartphone in den Papiermüll und setzte sich an seinen Platz.
Es klingelte zur Pause. Ich war mit meiner ersten Stunde sehr zufrieden. Es würden noch viele weitere folgen.
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