Von Siegfried Reitzig

Die Halle war mit Zuschauern gut gefüllt, die Stimmung wirkte angespannt, als der Spielleiter die Bühne betrat, um das Publikum zu begrüßen.

Vicco Trontanelli genoss den ersten Applaus des Abends, zeigte sein verbindlichstes Lächeln und begann die Moderation.

„Liebes Publikum, wir haben weder Kosten noch Mühe gescheut, um sie gut zu unterhalten und ihnen einen spannenden Abend zu bereiten.
Die Wahl fiel uns nicht leicht, aber es ist uns gelungen, aus hunderten Bewerbern drei Kandidaten auszuwählen, die nicht nur mutig genug und bereit sind, das Abenteuer zu wagen, sondern denen wir auch zutrauen, bis zum Ende durchzuhalten.
Unser Spiel wird diese drei Menschen bis an ihre Grenzen führen und es wird nur einen Gewinner geben.
Der Sieger wird wie immer eine Million Euro erhalten und das Geld, verehrte Zuschauer, hat dieser Kandidat sich am Ende auch wirklich verdient.
Ich weise hier noch auf die wichtige Rolle hin, die sie, geschätztes Publikum im Verlauf des Wettbewerbes spielen werden und ich bitte sie, die Instruktionen aus dem Vorab-Briefing meiner Kolleginnen zu beherzigen.

Möge das Spiel beginnen – nur, wer durchhält, kann gewinnen.“

Nun folgte die Vorstellung der Kandidaten.

„Bitte begrüßen sie Ingo! Er ist 45 Jahre alt, Berufsschullehrer und unterrichtet Klassen mit überwiegendem Migrationshintergrund an einer Brennpunktschule in Berlin-Kreuzberg.“
Der erste Kandidat betrat die Arena und ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert empfing ihn.
Ingo hatte Mühe, den Wurfgeschossen auszuweichen, die auf ihn gezielt auf die Bühne flogen, schaffte es aber, sich artig zu verbeugen, bevor ihn ein Schuh an der Stirn traf und zu Boden streckte.

Während der Ohnmächtige auf einer Trage hinter die Bühne gebracht wurde, kündigte Trantonelli den zweiten Kandidaten an.

„Bitte heißen sie mit mir gemeinsam eine Frau willkommen, die in ihrem Leben schon viel aushalten musste und dabei nie aufgegeben hat – jedenfalls bis jetzt nicht!
Ich darf ihnen die 58-jährige Beatrix präsentieren, die nicht die Chance hatte, einen Beruf zu erlernen und ihre 4 Kinder allein großgezogen hat. Trixie ist langzeitarbeitslos und hat es erst vor kurzem geschafft, eine kleine Wohnung zu finden und ihre Obdachlosigkeit zu beenden.“

Trixie, die sehr wohl gesehen hatte, wie es ihrem Vorgänger ergangen war, betrat sehr vorsichtig die Bühne – bereit, sie fluchtartig wieder zu verlassen.
Es blieb totenstill, keine Hand rührte sich und die Kandidatin blickte in 1000 unfreundliche versteinerte Mienen.
Eine Zuschauerin erhob sich und rief:
„Verpiss dich, du Schlampe – du lebst von unserem Steuergeld und wir brauchen dich hier nicht!“
Um nicht schon in der Vorrunde auszuscheiden, lächelte Trixie die Zwischenruferin an und trat erhobenen Hauptes wieder ab.

Vicco Trontanelli strich sich mit gekonntem Schwung die gefärbten Haarsträhnen aus der Stirn und klopfte ein wenig störenden Staub von seinem Strass-Jäckchen.

„Kommen wir nun zu Otto, unserem wahrhaft gewichtigen Kandidaten.
Otto wiegt 300 Kilo und es ist uns eine große Ehre, ihn heute bei uns zu haben, denn normalerweise verlässt dieser 30-jährige Spieleentwickler seine Wohnung nicht.
Freuen wir uns gemeinsam über unseren dritten Kandidaten, sehr verehrtes Publikum!“   

Otto kam mit einem speziellen Elektrofahrzeug auf die Bühne gefahren und präsentierte seinen beeindruckenden Körper einem – nun in ein zunächst verhaltenes und dann schnell tosendes und gar nicht mehr enden wollendes Hohngelächter ausbrechendes – Publikum.

„Ich liebe euch alle!“ rief Otto dem Sturm aus Spott entgegen, dachte „die Dreckschweine kriegen mich nicht klein,“ und rollte wieder zurück.

Trontanelli, der laut mitgelacht hatte, eröffnete nun die Hauptrunde und Ingo, der inzwischen wieder laufen konnte, erschien als erster auf der Bühne, um eine Aufgabe zu wählen.

Die verfügbaren Möglichkeiten leuchteten auf der Wand der Demütigungen, um zu verlöschen, nachdem diese Aufgabe ausgesucht wurde.
Es gab noch drei weitere Schauwände, jeweils mit der Aufschrift Bilder der Schande, auf denen das Publikum mit dem eingeblendetem Namen des Kandidaten den Fortgang der Aufgabe verfolgen konnte – wenn es besonders interessant wurde, auch als Nahaufnahme.

Die Kandidaten durften die Aufgabe jederzeit abbrechen, wodurch sie dann allerdings verloren hatten und ausscheiden mussten.
Auch sofort nach hause geschickt wurde, wer sich keine neue Tortur mehr zutraute und keine weitere Aufgabe wählte – das galt auch, wenn nur noch ein Teilnehmer im Rennen war, der musste allein alle Prüfungen bestehen, bis die Wand der Demütigungen abgearbeitet war.
Bei einem Gleichstand sollte das Publikum entscheiden.

Ingo wählte die Aufgabe Restaurant und wurde aus dem Saal geführt, um wenig später auf der Wand Bilder der Schande in einem gut besuchten Speiselokal wieder aufzutauchen.
Er saß allein an einem Tisch und auf den übrigen Plätzen des Restaurants wurde gespeist und getrunken, was die Küche hergab. Ingos Tisch war noch leer und er hob, den Arm, um seine Bestellung aufzugeben, wurde von den Kellnern aber völlig ignoriert!

Während Ingo als einziger völlig unversorgt und von Hunger und Durst gequält im Tempel der Genüsse darbte, bat der Spielmaster die Kandidatin Trixie zur Wand der Demütigungen, um zu wählen.

Trixie entschied sich für Schule und fand sich in einer Turnhalle wieder, in der ein Sportlehrer ein Ballspiel vorbereitete. Das Publikum konnte nun auf Bilder der Schande verfolgen, wie zwei Spielführer sich immer abwechselnd ihre Mannschaft aussuchten und Trixie als letzte übrigblieb.
Der Lehrer sagte: „Dich können wir leider nicht gebrauchen, du bist zu schlecht, um mitzuspielen!“
Er gab zwei Mitschülern ein Zeichen, und die beiden führten Trixie durch einen Flur zu einem stinkenden Mädchenklo und sperrten sie dort ein – sie blieb hinter der verschlossenen Tür aber nicht allein, denn eine Ratte erschien unter der Kloschüssel und die Videokamera übertrug Trixies Panik direkt in die Arena.

Otto sollte es aber nicht besser ergehen, denn nachdem er Zoo gewählt hatte, wurde er zum städtischen Tierpark transportiert und musste sich zu seinem Entsetzen nackt ausziehen.
Trontanellis Assistenten positionierten Otto in ein Gehege – wo er nun nicht nur für alle Zoobesucher sichtbar war, sondern auch auf die Bilder der Schande übertragen wurde.

Der Showmaster erklärte nun dem schadenfrohen Publikum, dass sich im Gehege von Otto als Raumteiler eine entspiegelte Glaswand befand, die der Kandidat nicht bemerken konnte.
Als in dem Raum hinter dieser Glasabtrennung nun ein ausgewachsener Löwe erschien, sah Otto sein letztes Stündlein gekommen und bat darum, den Käfig augenblicklich verlassen zu dürfen und um seine Kleidung.
Beides wurde gewährt, aber damit war Otto ausgeschieden.

Im weiteren Spielverlauf wählten Ingo und seine Mitstreiterin nun ihre verschiedenen Aufgaben, die sie auch mehr oder weniger leidvoll absolvierten, bis Trixie sich nach der Wahl Kirche auf einem fiktiven Scheiterhaufen wiederfand und glaubte, der bevorstehenden Verbrennung als Hexe nur noch durch Flucht entgehen zu können.

Es blieb also nur noch Ingo, der die restlichen Prüfungen allein absolvierte – und er schaffte sie alle, auch wenn er das Bespucken durch das von Trontanelli persönlich angefeuerte Publikum nur schwer ertragen konnte.

Zum Abschluss der Spielshow ließ es sich der Showmaster schließlich nicht nehmen, die Million persönlich dem Kandidaten Ingo zu überreichen.

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Der bekannte Moderator des Millionenspiels, Vicco Trontanelli, wurde unweit seines Hauses am Berliner Stadtrand tot aufgefunden – erschlagen von einem bisher unbekannten Mörder.

Die Polizei ermittelt…

 

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