Von Ingo Althöfer

 

Es war nicht alles schlecht in der DDR. Es war aber auch nicht alles gut. Carola machte das Beste aus den Umständen, leitete in ihrem Mehrparteien-Haus unten im Erdgeschoss einen Kondi-Laden. Sie hatte drei Mitarbeiterinnen, die sich anstellig zeigten. Jede bekam 460 Mark Monatslohn, und eigentlich waren die Mädels damit zufrieden. Natürlich blieb auch genug für Carola selbst übrig.

 

Also Leipziger Sozialismus vom feinsten. Wenn nicht dieser bescheuerte Broiler-Lutz gewesen wäre. Lutz betrieb neben dem Haus eine Broilerbar, die auch gut lief. Er hatte sogar vier Mitarbeiterinnen – Carola gönnte es ihm. Tagsüber schlief er im Hinterzimmer seiner Bar auf einer Couch, um abends fit zu sein für sein Glücksspiel-Casino. Das betrieb er im feinen Zimmer der Wohnung einer Witwe, die dafür von ihm 1.000 Mark monatlich bekam.

 

Also wirklich alles gut, bis im September 1975 die Brotverkäuferinnen zu Carola kamen und herumdrucksten. Eigentlich sei alles gut, aber die Frauen in der Broilerbar würden jede Woche 100 Mark zusätzlich bekommen, damit sie ihren Chef tagsüber in Ruhe schlafen ließen.

 

Das sei denen ja auch gegönnt. Andererseits würden sie ihre Arbeit im Kondi-Laden genau so gut machen. Also ständen ihnen eigentlich auch 100 Mark extra pro Woche zu. Aber sie wären auch schon mit 75 Mark extra zufrieden. Carola rastete aus. „Habt ihr sie noch alle? Der reguläre Lohn ist 460 Mark im Monat – und keinen Pfennig mehr kriegt ihr!“ Die drei zogen mit mürrischen Mienen ab – und arbeiteten ab da nur noch widerwillig.

 

Carola packte das Problem bei den Hörnern. Eigentlich war Lutz ein umgänglicher Nachbar. Er hatte ihr im letzten Dezember sogar Westgeld zum Vorzugskurs getauscht, als sie ihrer Familie einen Wunsch aus dem Intershop erfüllen wollte. Und einen lustigen Witz konnte er auch immer erzählen.

 

Carola überlegte und rang sich zu einem Entschluss durch. An einem Vormittag ließ sie die Mädels mit den Broten allein und begab sich in die Große Fleischergasse. Es dauerte, bis sie sich zum richtigen Mitarbeiter durchgefragt hatte. Dann saß sie am Schreibtisch und konnte ihr Herz ausschütten.

 

„Wissen Sie, der Bürger Lutz arbeitet nicht richtig. Den ganzen Tag schläft er im Hinterzimmer seiner Broilerbar und lässt die Mitarbeiterinnen unbeaufsichtigt schaffen. Und gegen alle Regeln gibt er jeder einzelnen dafür 100 Mark extra pro Woche. Nachts betreibt er illegales Glücksspiel und sockt arme Werktätige ab. Ach ja, einen Sportwagen Melkus hat der Lutz auch, den er aber nicht pflegt.“

 

Der Genosse nahm alles zu Protokoll und sagte bei der Verabschiedung freundlich, sie sei wirklich eine vorbildliche Genossin und solle ruhig weiterhin von Zeit zu Zeit Bericht erstatten. Auf die Ausfüllung einer Verpflichtungs-Erklärung verzichtete er.

 

 

Lutz kam ein Jahr später unter die Räder, musste für zwei Jahre in den Knast, durfte danach in den Westen ausreisen und brachte es dort zum Casino-Millionär.

 

Mitte der 1980er Jahre ging Carola in Rente. Als Rentnerin durfte sie auch ungehindert in den Westen reisen. So besuchte sie für eine Woche ihre Verwandten – Neffe Erwin und Familie – in Bad Pyrmont. Dort gab es für sie noch ein Sparbuch aus dem Erbe des lange verstorbenen Schwiegervaters. Innerhalb von zwei Tagen kaufte Carola eine moderne Kaffeemaschine, einen Elektrogrill und eine Mikrowelle. Erwin staunte nur, wie schnell das ging. Die Geräte wurden direkt verpackt und als Postpakete nach Leipzig geschickt. 

 

Am Mittwoch abend saß man bei einer Flasche Wein zusammen. Carola erzählte über einen Nachbarn in Leipzig, der eine Broilerbar betrieben und nebenbei mit illegalem Glücksspiel ein Vermögen gemacht hätte, ehe er in den Knast kam. Ihr Neffe schüttelte den Kopf : „Du magst es nicht glauben. Aber bei uns in der Siedlung lebt ein Roulette-Millionär, der sächsisch spricht. Morgen fahre ich mal mit Dir an seiner Villa vorbei.“

 

Gesagt, getan. Schon von weitem war vor dem Grundstück ein roter 7er-BMW zu sehen. Und im Moment des langsamen Vorbeirollens kam aus dem Haus ein Mann in den besten Jahren – fröhlich sächsisch mit einer jungen Begleiterin sprechend. Carola machte sich plötzlich ganz klein in ihrem Sitz. „Tante Carola, ist irgendwas?“ „Nein, fahr einfach weiter.“ Zu Hause bei Erwin fragte Carola: „Die junge Dame, ist das seine Ehefrau?“ „Nein, sie ist Abiturientin. Der Sachse – so nennen ihn hier alle in der Siedlung – gibt mehreren Mädels Nachhilfe in Französisch und Geschichte.“ „Das rote Auto an der Straße  – gehört das ihm?“ „Ja.“ „Und warum parkt er den teuren Wagen nicht

ordentlich in der Garage?“ „Da steht sein Lamborghini drin – übrigens auch in knallrot.“

 

Am Samstag früh brachte Erwin Tante Carola zum Bahnhof und passte auf, dass sie in den richtigen Zug stieg. Wieder zu Hause sagte er zu seiner Frau: „Nach der kleinen Runde beim Sachsen vorbei hat sie praktisch gar nicht mehr gesprochen. Kannst Du Dir das erklären?“

 

 

Erläuterungen:

 

* Broiler sind Hähnchen.

 

* Mark meint Ostmark. Die 460 Mark waren 1975 ein typischer DDR-Arbeitslohn.

 

* Kondi-Laden: Bezeichnung in der DDR für eine Verkaufsstelle von Brot und Kuchen, wo aber nicht selbst gebacken wurde. Als Lutz mir die Geschichte zum ersten Mal erzählte, sagte er aber „Brotausgabestelle“, wohl um mich als Westdeutschen nicht zu verwirren.

 

* IM = „Inoffizieller Mitarbeiter“ bei der Staatssicherheit.

 

* In der Straße „Große Fleischergasse“ in Leipzig war die örtliche Stasi-Zentrale. Ich fand es besonders witzig, dass jemand, der mit Broilern zu tun hatte, in der Fleischergasse verpfiffen wurde.

 

* Mit „socken“ meinte Carola „zocken“. Sie war aber in der Spielszene nicht zu Hause.

 

* Im Gegensatz zur Vermutung von Carola war Glücksspiel in der DDR nach dem neuen DDR-Strafgesetzbuch von 1968 nicht mehr illegal.

 

* Melkus war ein Sportwagen in der DDR, von dem nur 100 Exemplare gebaut wurden.

 

* In Bad Pyrmont gab es in den 1980er Jahren eine Spielbank mit grossen Roulette-Tischen.

 

* Rote 7er-BMWs waren in den 1980er Jahren eine Rarität. In seiner Schulzeit hatte Lutz in den 1950ern in Leipzig den Spitznamen „roter Lutz“ gehabt.

 

 

Version 3: 6079 Zeichen