Von Michael Voß

Harry drückt den Gummistöpsel in die Edelstahlspüle und öffnet den Kaltwasserhahn. Er lässt das Becken volllaufen, dreht den Hahn zu und knipst den starken LED-Scheinwerfer an. Während er auf die Knie geht, hält er mit einer Hand den Stöpsel fest. Mit der anderen richtet er den Scheinwerfer aus, so dass der Raum unter der Spüle gut beleuchtet ist. Dann zieht er den Stöpsel. Leise rauscht das Wasser durch Abfluss, Siphon und die verwinkelte Rohrleitung, die in den Wandanschluss mündet. Aufmerksam suchen Harrys Augen nach einem Wassertropfen. Doch bis jetzt ist alles dicht. Ein Gurgeln verkündet, dass das Spülbecken leer ist. Nach wie vor ist nirgends ein Leck zu erkennen. Zufrieden räumt Harry sein Werkzeug zusammen, schließt die Tür des Spülenschranks und wischt das Becken trocken. 

„Fertig“, sagt er.

Die alte Frau Bangert strahlt. „Danke, Herr Kaminski, vielen Dank! Ich bin ja so froh, dass der Abfluss wieder frei ist. Was bekommen Sie?“

Harry rechnet still: Reinigung einfach 30 plus Anfahrt lang 40 sind 70, abzüglich 30 Euro Rentnerrabatt macht 40. Ein kurzer Blick durch die Küche und auf die Kleidung der Kundin offenbart die sehr begrenzte Finanzlage von Frau Bangert. „30 Euro.“

Die alte Frau strahlt. Sie holt drei Zehner aus ihrem Portemonnaie und kramt eine Tafel Vollmilchschokolade hervor, die legt sie dazu.

„Danke, Frau Bangert.“

Harry steckt Geld und Schokolade ein, packt sein Werkzeug und fährt nach Hause. Leider ist keiner der Anwohnerparkplätze in der Nähe seiner Wohnung frei. Sie sind belegt von einem Miettransporter und einigen PKW mit dem Kennzeichen einer anderen Stadt. Leute tragen Möbel und Kram aus dem Transporter ins Nachbarhaus, einem dreigeschossigen Sechsparteienhaus. Ein Umzug. Schulterzuckend fährt Harry um den Block. Es dauert, bis er einen Parkplatz gefunden hat. Nach zwanzig Minuten Fußmarsch ist er endlich zu Hause und gießt sich ein Bier ein. Durch die Wand wummern die Bässe eines Schlagers.

Der Umzug, denkt Harry. Ein bisschen Musik, um sich bei der Schufterei bei Laune zu halten. Er duscht, legt seine Sachen für den nächsten Tag zurecht, surft noch ein wenig im Internet und legt sich gegen elf ins Bett.

Inzwischen sind nicht nur die Bässe zu hören, auch die Melodie des jeweiligen Musikstücks dringt durch die gemeinsame Wand der nach Kriegsende sparsam wiederaufgebauten Häuser. 

Es ist laut. Zu laut, um einschlafen zu können.

Harry steht auf, steigt in Jeans und Schlappen, wirft ein T-Shirt über. Er geht zur Tür des Nachbarhauses, betätigt die einzige Klingel ohne Namensschild.

Er muss mehrmals drücken, bis der Türsummer ertönt. Harry geht rein und stiefelt die Treppe hoch in die erste Etage. Die linke Wohnungstür ist zu, doch Musik, Lachen und Rufe  zeigen auch so, dass hier die Geräuschquelle ist.

Umzugsparty, denkt Harry und betätigt die Klingel neben der Tür. Nach dem achten Mal öffnet eine Frau, Harry schätzt sie auf Anfang bis Mitte zwanzig.

„Ja?“

„Hallo“, sagt Harry. „Dein Einzug?“

„Wer will das wissen?“

„Dein Nachbar. Glückwunsch zur neuen Wohnung. Ist ein Grund zum Feiern.“

„War´s das?“

„Bei allem Verständnis: Es ist so laut, dass ich nicht schlafen kann. Ich bitte, den Sound runterzudrehen.“

„In meiner Wohnung mache ich, was ich will.“

Sie knallt die Tür zu, etwas später dröhnt die Musik noch lauter.

 

Aha, denkt Harry und kehrt in sein Domizil zurück und überprüft seine Optionen. Aber selbst in dem am weitesten von der Lärmquelle entfernt gelegenen Raum, dem Bad, wummern unbarmherzig die Bässe. Seufzend kramt Harry Schlafsack und Isomatte aus dem Schrank und pilgert zu seinem Transporter. Er rollt die Matte längs zwischen den beiden Regalen mit den Werkzeugen aus, stellt den Wecker seines Handys ein und krabbelt in die Penntüte. 

 

Später einschlafen, früher aufstehen und dann arbeiten ist unkomfortabel, findet Harry, als er den eifrig piepsenden Handywecker ausschaltet. Er steigt ins Fahrerhaus, fährt zu seiner Wohnung, wo zum Glück inzwischen wieder ein Anwohnerparkplatz frei geworden ist. Die Tageszeitung nebst einem reichhaltigen Frühstück heben seine Stimmung und als der erste Kunde anruft, ist die Welt wieder in Ordnung.

 

Der Tag vergeht wie im Flug – ein verstopftes Klo hier, ein Regenfallrohr dort, Mittagspause beim schnellen Didi, der Abfluss in der Bankfiliale, zwei weitere Klos und die Dusche der Schulsporthalle, dann ist Feierabend. Zufrieden parkt Harry den Wagen vor dem Haus. Er gönnt sich ein Croissant, dann pilgert er zur Garage in der Kreuzstraße, wo seine Benelli TNT steht. Kette schmieren und spannen, Bremsen kontrollieren, Motoröl auffüllen, Luftdruck prüfen und dann: Putzen. Nach zwei Stunden ist das Big-Bike bereit für die nächste Wochenendtour. Harry geht nach Hause.

 

Abendessen, Sachen rauslegen, PC an, Nachrichten gucken, ein bisschen Surfen, Bett, Augen zu.

„Atemlos …“, donnert es durch die Wand.

`S darf nicht wahr sein, denkt Harry. Hose, T-Shirt und Schlappen an, raus. Auf dem Gehweg parken kreuz und quer E-Scooter, einige liegen quer auf dem Pflaster. 

Harry klingelt, geht rein. Im Hausflur ist es zwar weniger laut als in seinem Schlafzimmer, dafür hört man hier die Gäste besser johlen und quietschen.

Türklingel, sechs Mal.

„Was denn?“, fragt die neue Nachbarin sichtlich genervt. 

„Dasselbe wie gestern. Es ist mir zu laut“, sagt Harry mit Nachdruck.

„Mir nicht. Hör auf, hier rumzustressen und verpiss dich.“ Mit angewiderter Miene knallt sie die Tür zu.

Ganz bezaubernd, denkt Harry und macht sich auf die Suche nach Mitstreitern. Doch im Erdgeschoss links ist ein Kiosk, der um diese Zeit schon geschlossen hat. In der Wohnung über der Party wohnt ein schwersthöriger Rentner, der noch nicht einmal mitgekriegt hat, dass es einen Umzug gegeben hat. Die Leute auf der anderen Seite des Treppenhauses haben kein Problem oder sind konfliktscheu.

„Bei uns hört man kaum was.“

„Es ist nicht schön, aber es geht. Außerdem ich bin Rentnerin und kann am Vormittag ausschlafen.“

„Nein, ich will keinen Ärger bekommen.“

Harry kehrt in sein Haus zurück und spricht die Nachbarn über und unter ihm an.

„Wir nehmen unsere Hörgeräte raus und dann ist Ruhe. Und am Montag fahren wir für zwei Wochen weg“, sagt das Ehepaar im Erdgeschoss. 

Der nägelkauende Student im Zweiten packt gerade. „Die Semesterferien fangen bald an. Ich wollte ohnehin zu meinen Eltern fahren.“

Harry überlegt, dann greift er zum Handy.

„Klar! Du kannst jederzeit bei mir pennen“, freut sich sein Freund Ernie.

 

Der IT-Spezialist und Single ist ein Nerd, wie er im Buche steht. Die Wohnung ist zugestopft mit allerlei Gadgets sowie lebensgroßen Aufstellern von Marvel-Figuren und anderen Helden. Und mit leeren Pizza-Kartons. Nachdem Harry ein wenig umdekoriert und die Kartons in seinem Transporter gestapelt hat, ist nun ein netter Schlafplatz in Ernies kleinem Zimmer geschaffen.

Bei Cola (Ernie) und Bier (Harry) schildert er dem Freund die missliche Situation mit der neuen Nachbarin. 

„Die ist ja richtig fies.“

„´n verzogenes Blag mit übersichtlichem Wortschatz.“

„Übersichtlicher Wortschatz?“

„In Summe drei Vokabl´n: Ich, Ich und Ich. Ihre Gäste war´n auffer selben Schule.“

„Ja, gleich und gleich gesellt sich gern“, sagt Ernie. „Und du denkst, die Polizei kann dir nicht helfen?“

„Die sorgt kurz für Ruhe und fährt wieder. Dann dreht das Kind wieder auf. Bleibt nur die Selbsthilfe. Bloß wie? Mädchen darf man nich hauen. Aber sach ma´: Wieso steht da Teufel drauf?“, fragt Harry und zeigt auf eine Reihe schwarzer Kästen. 

„Der Name ist Programm“, lächelt Ernie.

„Kannste mir das Zeugs mal leihen?“

 

Das Wochenende ist kurzweilig. Ernie schließt Harrys Bildungslücken in Sachen IT-Sicherheit und nimmt ihn mit auf eine Reise in das World-of-Warcraft-Universum. Harry kocht Pasta und zeigt Ernie, wie man einen echten Espresso herstellt.

Dann ist der Montag da. Nach der Arbeit kauft Harry Ohropax, bevor er in seine Wohnung zurückkehrt. Er vergewissert sich, dass die anderen Hausbewohner tatsächlich verreist sind, dann schleppt er Ernies THX-System in sein Schlafzimmer. Die Boxen stellt er mit der Lautsprecherseite dicht an die Schlafzimmerwand und schließt den Verstärker an, den er mit dem MP3-Player verbindet. Gegen neun Uhr abends beginnt die erwartete Party nebenan. Diesmal stört das Harry nicht. Mit Ohropax in den Ohren legt er die Isomatte im Bad aus und schläft wie ein Murmeltier. Um fünf Uhr morgens weckt ihn, per Zeitschaltuhr gesteuert, das grelle Licht des Arbeitsscheinwerfers. 

Kaffee, denkt Harry und steht auf. 

Aber zuerst, und der Gedanke zaubert ein Lächeln in sein Gesicht, ein wenig Musik.

Ein leises Summen erfüllt das Schlafzimmer, als er Ernies Anlage einschaltet. Harry scrollt noch einmal die im MP3-Player gespeicherte Playlist durch, dann drückt er auf Start.

BADA DAMM! BADA DAMM! BADA DAMM DADA DAMM DADA DAMM DAMM DAMM! Livin´easy! Lovin free!  …“

Die App des Handys zeigt 104 dB(A). Unangemessen wenig für den AC-DC-Hit von 1979.

Harry regelt nach. 120, ein guter Rockkonzertwert, erscheinen ihm richtig. Er geht in die Küche und setzt die Kaffeemaschine in Gang. 

Keine fünf Minuten später, gerade noch hörbar unter dem Klangteppich, klingelt es.

„Ich will schlafen. Mach gefälligst diesen Scheißkrach aus! Sofort!“, kreischt die Nachbarin wutentbrannt.

„Geht nich´. Muss ja irgendwie wach werden, wenn ich nachts nicht schlafen kann.“

„Asoziales Macho-Arschloch!“

„Ihnen auch einen schönen Tag“, meint Harry und schließt die Tür.

 

Feierabend. Harry parkt den Transporter ein, als die Nachbarin aus ihrem Haus kommt.

Sie wirkt gestresst-aggressiv.

„Ich dachte, wenn du zur Arbeit fährst, hört der Lärm auf. Stattdessen läuft den ganzen Tag Klassik! Was soll die Scheiße?“

„Meine Zimmerpflanzen müssen sich von den Charts und Schlagern erholen“, sagt Harry und lässt die Nachbarin stehen.

 

Zwei Tage später, nach Feierabend, bringt Harry die HiFi-Anlage zurück zu Ernie.

„Wie hat es funktioniert?“, fragt der Nerd.

„Bestens. Heute Morgen kam der Umzugswagen. Die Gute ist schon ausgezogen.“

 

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