Von Helmut Blepp
Der Zug hielt außerplanmäßig in einem verschlafenen Kaff. Wegen Personenschaden auf der Strecke, informierte die Durchsage. Da hatte sich wieder mal einer auf die Gleise geschmissen und mir zwei Stunden Wartezeit eingebrockt. Zu lange, um gelangweilt in meinem Abteil auszuharren. Also stieg ich aus.
Ich verließ die Bahnhofshalle und trat auf den nächtlichen Vorplatz. Eine S-Bahn parkte da, die schon Feierabend hatte. Ein Kiosk, Klappe zu. Hochmoderne Laternen tauchten alles in grelles Licht, dazu Kameras an hohen Masten, unterschiedlich fokussiert. Dahinter, wo die Nacht begann, zwinkerten die Ampeln einer Kreuzung einander zu. Kein Mensch war unterwegs.
Leicht tänzelnd wie ein Boxer, der einen Angriff erwartet, überquerte ich den Platz. Ich behielt dabei die Kameras im Auge, doch sie blinkten nicht und starrten ins Leere. Der Überwachungsstaat schlief.
An der Kreuzung der übliche Schilderwald. Ein Pfeil war mit `City-Center´ beschriftet. Das genügte als Versprechen. Ich nahm diese Richtung.
Das Center war nicht nur unbeleuchtet, sondern eine einzige Enttäuschung. Die Springbrunnen vor den Treppen zu den Aufgängen waren trocken und verdreckt, die meisten Schaufenster mit Plakaten von Veranstaltungen verklebt, die längst gelaufen waren. Ohne viel Hoffnung umrundete ich den gläsernen Koloss, bemerkte dann aber tatsächlich einen Lichtschein über einer Treppe. Es war der Eingang einer Kneipe, die sich `Voller Deckel´ nannte, wie ich durch die zittrige Leuchtreklame über der Tür erfuhr. Damit kannte ich mich aus und wertete es als Einladung.
Die Inneneinrichtung bestand aus viel dunklem Holz, verschalten Wänden, grob behauenen Balken und schwach beleuchteten Sitznischen. Siebziger-Jahre-Mief. Es war nicht viel los, eine Handvoll Gäste, die mich nicht beachteten. Die Hocker an der Bar waren unbesetzt, und ich wählte den am hinteren Ende, den Eingang und die Toilettentür im Blick.
Der Barkeeper schlenderte zu mir her.
„Ein Bier?“
„Was habt ihr denn im Angebot?“
„Bier.“
„Klingt gut. Nehm ich.“
Er brachte eine gute alte Halbe, perfekt gekühlt, in einem dickwandigen Glas mit Henkel. Ich setzte es an und trank die Hälfte, genoss den Augenblick und trank es dann leer.
„Noch eins?“
„Klingt gut. Nehm ich.“
Er brachte das zweite Glas, blieb aber stehen, bis ich es halb geleert hatte, und sagte dann: „Sie sitzt da hinten in der Nische neben dem Eingang.“
„Wer?“
„Frag nicht, geh hin!“
Also ging ich hin.
„Abend!“
Mit einem Wink lud sie mich zum Sitzen ein. Ich tat es und stellte mein Glas ab. Sie war wohl die Chefin von dem Laden. Zumindest benahm sie sich so. Aus der Nähe sah man, dass ihre Augen in hochprozentigen Alkohol eingelegt waren, ihre Haut von Jahrzehnten im Zigarettenrauch vergilbt.
„Hast du sie dabei?“
Ich wusste nicht, was sie meinte und sagte vorsichtshalber nichts.
Sie wertete das offenbar als Zustimmung, denn sie nickte und sagte: „Der Blonde mit dem Schnauzer ist es. Bringt es auf dem Klo über die Bühne. Beeilung!“
Leicht tänzelnd, die Jacke geöffnet, bewegte ich mich auf die Toilettentür zu. Niemand nahm Notiz von mir, auch der Blonde nicht. Also benutzte ich erst mal das Pissoir. Nachdem das erledigt war, drehte ich mich um. Jetzt stand er vor mir, kaute auf seiner Unterlippe herum und wippte von einem Fuß auf den anderen. Noch ein Tänzer.
Ich zündete mir eine Zigarette an.
„Na, wo hast du sie“, schnarrte er.
„Was soll ich haben?“
„Komm, Alter! Verarsch mich nicht!“
Er nestelte an seiner Jeanstasche, zog einen Umschlag hervor und zeigte mir den Inhalt.
„Hier ist die vereinbarte Kohle, Mann. Nun schieb schon die Knarre rüber.“
Er wurde immer zappeliger. Entweder auf Droge oder ein Waffennarr, jedenfalls gefährlich.
„Ich habe keine.“
Es dauerte einen Moment, bis die Botschaft sein Hirn erreichte. Sein Körper spannte sich an. Er ballte die Fäuste. Als er zuschlagen wollte, verriet ihn das flatternde Lid seines linken Auges.
Ich drückte die Zigarette hinein, und als er stöhnend zurückwich, trat ich ihm zwischen die Beine. Sein Oberkörper klappte nach vorn. Ich zog mein Knie an. Sein Kiefer brach. Er sackte geräuschlos zusammen.
Ich hob den Umschlag mit dem Geld auf und steckte ihn in die Innentasche meiner Jacke.
Auf dem Weg zum Ausgang blieb ich an ihrem Tisch stehen.
„Alles klar?“
Ich trank mein Bier zu Ende und sagte: „Alles klar!“
Dann klopfte ich zum Abschied zweimal auf die Tischplatte und ging zurück in Richtung Bahnhof.