Von Johanna Stracke
„Unverschämtes Glück“ deklariert Judith Holofernes zur Trompete aus dem Lautsprecher auf der Fensterbank und ich tanze im Kopf dazu, denke an meine Kinder, an meine Frau, an den Frühling, der endlich durchbricht und dann, ganz plötzlich, an meinen Französischlehrer aus der Oberstufe.
Ich sehe sein schlohweißes Haar vor mir, als säße ich heute noch dort am Fenster, in der zweiten Reihe der 5d. In alle Richtungen steht es von seinem Kopf ab. Außer vorne, da ist keins mehr. Er ist die Vertretung für Frau Colischonns Migräne. Ich glaube, er kann gut Französisch. Jedenfalls hat er einen französischen Nachnamen. Wir sollen ihn aussprechen, immer und immer wieder. Keiner schafft es richtig, er verzieht seinen Mund zu einem Grinsen. Seine Zähne sind nicht so weiß wie seine Haare. Er verfärbt sich, tiefrot, wenn er sich ärgert. Zielsicher wirft er seinen Schlüsselbund nach T-Shirt-Lubo, als der seinem Nachbarn etwas zuflüstert. Poissonier besitzt sehr viele Schlüssel.
In der Mittelstufe bringen wir reihenweise Referendare zum Heulen, ziehen Unterrichts-Streiks in geschlossener Klassengemeinschaft durch und kriegen den Kunstlehrer dazu, ein Hakenkreuz zu malen, für das wir ihn dann bei der Schulleitung verpfeifen. Und wir sehen, wie sich jedes Jahr aufs Neue die kleinen Fünftklässler wegducken, wenn sie dem Poissonier auf dem Flur begegnen.
Wir starten in die Oberstufe und bekommen ihn in Französisch. Wir sind der Alptraum des Kollegiums, aber jetzt, wo er vor uns steht, spüren wir nur die altbekannte Angst. Fühlen uns wie 10, vermeiden direkten Blickkontakt, auch, als er die VHS-Kassette reinschiebt mit der Verfilmung eines französischen Theaterstücks.
Er drückt Play. Der ganze Bildschirm ist voll mit Beinen und Armen und anderen Körperteilen und alles ist irgendwie aufeinander gequetscht. Es sind viele nackte Körper. Poissonier wird knallrot. Wir alle halten die Luft an, nur mein Freund Julius prustet los vor Lachen. Poissonier hält die Hände auf den Röhrenfernseher, deckt immer wieder, immer schneller neue Stellen ab. Vergisst, dass es einen Stopp-Knopf gibt. Wir können unser unverschämtes Glück kaum fassen. Ich grinse.
Am Ende der 12. wählen wir gesammelt Französisch ab und erzählen seiner neuen 5. Klasse, dass der Schlüssel-Poissonier Pornos schaut.
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