Von Christian Günther

 

Vor dem Haus hält ein weißer SUV mit zwei Uniformierten. Eine Polizistin und ein Polizist steigen aus, beide tragen Brille. Sie sieht streng aus, er wirkt gemütlicher. Ich bin nicht so gut im Schätzen, sie wirken etwa gleichaltrig, über vierzig.

Wie sind die mir auf die Spur gekommen?

Also, Leute, zunächst einmal möchte ich meinen richtigen Namen aus Diskretionsgründen nicht nennen. Ich habe zur Tarnung einen besonderen Namen gewählt: Arno Nühm. 12 Jahre alt, Schüler aus Essen-Rüttenscheid. Die Schule habe ich heut geschwänzt, da ich etwas Wichtigeres vorhatte. Es musste erledigt werden.

Nun ist es Nachmittag. Mama ist zurück von ihrem Halbtagsjob, Papa arbeitet noch. Ich bin ein Einzelkind aus gutem, reichem Hause. Mir fehlt es an nichts, enttäuschen möchte ich niemand aus der Familie. Dennoch habe ich zum ersten Mal die Schule geschwänzt. Habe Mama vorhin erklärt, dass mir auf dem Weg dorthin schlecht geworden sei. Was ich verschwieg: Den Rucksack zurückgebracht, stattdessen etwas anderes mitgenommen.

Damit war ich in Wahrheit woanders, nämlich in der Rüttenscheider Straße, und habe dort einen Großeinsatz ausgelöst. Innerhalb kürzester Zeit war die Straße voll mit Einsatzfahrzeugen: Feuerwehr, Krankenwagen und Polizeiwagen füllten den Bereich geradezu komplett aus.

Ich bin ein normaler Schüler, habe Fächer, die mir mehr liegen und Fächer, die mir weniger liegen. Mit den Schulkollegen komme ich aus. Bin eher ein ruhiger Typ, stehe nicht gerne im Mittelpunkt. Mit den Lehrern habe ich kein Problem. Nur die Biolehrerin ist mir suspekt mit ihrer strengen Art und ihrer schrillen Stimme. Mit dem Rechnen habe ich es nicht so, Schreiben kann ich sehr gut. Wie ein Erwachsener, lobte meine Deutschlehrerin vor Kurzem! Das war nice!

Der einzige Mitschüler, mit dem ich ein Problem habe, ist Fabian, unser Klassenclown. Ich schäme mich für die Situation, die eingetreten ist. Anvertrauen konnte ich mich niemandem, mir war und ist das unangenehm. So kam ich auf die Idee, das Problem selber zu lösen. Ein kleiner, aber effektiver Streich. Ein Denkzettel, um etwas zu beenden, ein für alle Male! Ich lass mir doch nicht alles gefallen! Dachte dieser Teilzeittarzan echt, ich würd merkeln oder lindnern? Niemals, Diggah!

Bin ich dabei über das Ziel hinausgeschossen?

Vor Ort hatte ich den weißen SUV bereits gesehen. Er hielt umgehend, als Fabians Mutter »Hilfe« rufend auf die Straße stürmte. Warnblinker an und Blaulicht aufs Dach gestellt, stiegen beide aus und sprachen sie an. Ich bekam es aus sicherer Entfernung mit, bevor ich mich vom Ort des Geschehens entfernen wollte. Die haben mich nicht sehen können, das glaube ich nicht. Da bin ich mir sogar sicher. War einiges los auf der Rüttenscheider, viele Passanten unterwegs. Zumal mich nur seine Mutter kennen konnte, vom letzten Klassenausflug zum Baldeneysee.

Nur: Wie sind die mir auf die Spur gekommen?

Es sollte ein Streich sein, ein Denkzettel. Wurde aber viel mehr, so wie die Mutter reagierte. Ihre Hände waren leer. Hatte sie es fallengelassen? Es? Ja, es, das Paket, das ich ihr vor die Wohnungstür im dritten Stock gelegt hatte. Vor der Haustür drückte ich auf die Schelle und zog mich zurück. Cheedo, mein genialer Plan hatte doch funktioniert: Oben ablegen, unten schellen, alles unerkannt.

Obwohl: Ein Nachbar hatte mich im Flur gesehen. Auf dem Rückweg, ohne mein Paket. Andererseits: Ich kannte ihn nicht, er mich auch nicht. Woher sollte er meinen richtigen Namen wissen, dass die nun vor der Tür auftauchten? Selbst mit einer Beschreibung würden die mich nicht derart schnell ausfindig machen. Falls er überhaupt so genau auf mich geachtet hatte.

Ein Kind im Flur, na und? Allein in meiner Klasse sind vierzehn Jungen, elf etwa gleichgroß wie ich, acht dunkelhaarig wie ich, sieben schlank wie ich. Ein besonderes Merkmal wie eine Brille habe ich nicht. Davon haben wir in meiner Klasse nur drei, die ein solches Teil tragen müssen.

Wie die Polizistin und der Polizist. Gut, die sind älter.

Ich wollte nur einen Moment beobachten. Aus sicherer Entfernung. Blickte die Mutter eventuell aus dem Fenster, um zu gucken, von wem das Paket war? Gut, ich geb zu, ich wusste, was drin war. Das konnte die Mutter nicht wissen, fällt mir jetzt auf. Es war geplant, dass sie nur Fabian von dem Vorfall erzählt. Stattdessen rannte sie panisch auf die Straße.

Es klingelt, meine Mutter macht der Polizei auf.

Ich blicke durch das Zimmer. Im Grunde hab ich alles, was ich brauch. Nur fehlen inzwischen einige Dinge, und sie fehlen mir zum Teil wirklich sehr.

Meine Armbanduhr habe ich wie mein Smartphone verloren. Hab beides neu geschenkt bekommen. In der CD- und DVD-Sammlung fehlen einige meiner Favoriten. Fällt nicht auf, da die verbliebenen nun anders stehen. Die Lücken kann ich zur Zeit nicht wieder füllen, leider!

Besonders schmerzt der Verlust des Autogramms von Marie Wegener. Zum Glück hatte ich einen Scan davon, der hängt nun an der Wand in einem Bilderrahmen. Bisher ist die Kopie niemandem aufgefallen.

Vom Taschengeld sind nur ein paar Euro übrig, und der Monat ist noch lang. Not nice! Und wie erkläre ich meinen Eltern das Fehlen meiner neuen Schuhe? Beim Laufen kann ich sie schlecht verloren haben. Zum Glück waren sie nicht zu Hause, als ich an dem Tag auf Socken aus der Schule zurückkam.

Fabian ist der neue Eigentümer meiner Sachen. Wie gesagt, Mathe ist nicht meine Stärke. Durch einen Zufall bekam ich vorab einen Einblick in die Mathearbeit. Zum ersten Mal kein Zittern, ob es zu einer Vier reicht. Ich schrieb eine Zwei! Cheedo! Wie hatten sich meine Eltern darüber gefreut! Sie dachten, es sei auf natürlichem Wege passiert, nicht durch Betrug. Leider hatte Fabian beobachtet, wie ich ein Foto mit dem Handy von den Aufgaben machte, und erleichterte mich nun kontinuierlich um meinen Besitz.

Ich konnte und wollte nicht mehr, musste zurückschlagen. Musste Fabian zeigen, dass mit mir nicht gut Kirschen essen ist. Dem Klassenclown sollte das Lachen vergehen. So kam mir die Idee mit dem Paket. Auf dem Speicher fand ich noch einen alten Wecker. Einen von diesen, die ticken. Den packte ich hinein, DHL-Aufkleber auf den Karton und selber ausgeliefert. Den Namen der Mutter kannte ich, an sie war das Paket adressiert und nicht an Fabian. Das wär zu auffällig gewesen.

Er sollte die Warnung verstehen, wenn er nach Haus kam. Seinen Eltern hatte er sicher nichts von seiner Erpressung erzählt. Als Absender wählte ich meinen Tarnnamen, und meine richtige Adresse hab ich natürlich nicht verwendet. Ich bin doch nicht blöd!

Fabian würde sicher checken, dass das von mir kam. Aber was sollte er machen? Sich seinen Eltern anvertrauen? Die Polizei informieren? Er, der mich erpresste? Das konnte er nicht! Nein, mein Plan, der war genial. Dachte ich zumindest.

Bis auf die Reaktion der Mutter, das war so nicht geplant gewesen. Das Ausmaß schockierte, die Sache wurde groß. Sehr groß! Doch: Wer kennt schon Arno Nühm? Ich hoffte, es würde im Sande verlaufen. Davon ging ich aus, bis eben das Auto mit der Polizistin und dem Polizisten vor dem Haus hielt.

Wie sind die mir nur auf die Spur gekommen?

Die haben mich nicht sehen und der Nachbar meinen Namen nicht kennen können. Die Adresse kann es ebenso wenig sein, ist ja nicht meine. Was hat sie zu mir geführt? Wo war die Schwachstelle meines Planes? Die, die ich nicht einberechnet hatte? Einberechnet, toll, der erinnert an die Mathematik, dieser Wortteil! Hatte Fabian gequatscht, alles zugegeben? Nein, konnte nicht sein. Die Polizei hatte ja nichts dabei, stand mit leeren Händen vor der Tür. Hatte der Nachbar etwa ein fotografisches Gedächtnis?

Es klopft an der Zimmertür. Der Polizist lässt der streng wirkenden Polizistin den Vortritt. Sie trägt einen Dutt, sehr fest. Dass ihr ihre Haare nicht ausfallen, so eng sie oben am Kopf anliegen, und die Stirn wirkt dadurch noch höher. Eine übernatürlich intelligente Frau? Sie ist mir noch suspekter als meine Biolehrerin, diese Polizistin. Ist sie mir etwa auf die Spur gekommen? Bei der Biolehrerin wird gern gemunkelt, sie habe keinen Mann, und dass das kein Wunder sei. Mit Strenge und schriller Stimme würde sie jeden Mann in die Flucht treiben. Ist das bei der Beamtin genauso? So sieht Strenge in wirklich reinster Form aus, dazu gepaart mit Intelligenz. Eine gefährliche Kombination?

Die Polizistin ist diejenige, die mich anspricht: »Oßwaldt, Polizei Rüttenscheid, Revierleitung, und der Kollege Fengler aus dem Revier Kettwig/Werden.«

Ach Gott, jetzt kommt auch noch die Leitung persönlich, und mit Verstärkung aus den anderen Stadtteilen. Warum wurde nicht gleich der Polizeipräsident oder der Generalbundesanwalt geschickt? Mir bleibt echt nichts erspart. Was ist nur aus meinem Streich geworden, und noch immer meine Grundfrage: Wie sind die mir auf die Spur gekommen? Leute, was meint Ihr?

»Bist du Arno Nühm, und hast du eine Oma, die in der Sommerburgstraße in 45149 Essen wohnt?«, fragt Frau Oßwaldt mit überraschenderweise sanfter Stimme und sympathisch ausschauenden Grübchen auf den Wangen. Das beides hat meine Biolehrerin nicht!

 

Version 2 / 9059 Zeichen