Von Hope Winter

Die bronzene Klingel vor mir, der Kuchen in meinen zitternden Händen und mein schlagendes Herz in der Brust. Ich habe vielleicht nie die Theater-AG belegt, doch spiele ich schon mein ganzes Leben. Ein letzter, tiefer Atemzug und meine Angst schält sich von mir ab wie ein zu klein gewordenes Schneckenhaus von einem Einsiedlerkrebs. Er schlüpft in ein neues Zuhause, ich in eine neue Rolle. 

Ding-Dong! Das vertraute Geräusch jagt mir einen Schauer über den Rücken, Abscheu will sich in meinem Herzen einnisten. Doch da öffnet sie schon die Tür und ich setze den erwartungsvoll, schüchterne Gesichtsausdruck auf, welchen ich schon so lange geübt habe. So lange… Zwei Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet, den brodelnden Hass in mir befeuert, immer mit dem Bild seines Todes vor meinen Augen. Ich lächle scheu und schlucke mühsam die Galle herunter, die bei ihrem Anblick in mir aufsteigt. 

„Hallo Sigrid!“, meine Stimme ist einen Deut zu kühl und ihr verwunderter Gesichtsausdruck wandelt sich zu einem skeptischen. Okay, nochmal. Denk an deine Muschel! „Tut mir leid, dass ich ohne Vorwarnung erscheine. Ich hatte nur auf einmal solche Sehnsucht und konnte nicht länger warten.“ Treffer! Ihr Gesicht wird wieder freundlicher. 

„Ach, das ist kein Problem, ich freue mich über deinen Besuch. Willst du nicht hereinkommen?“ 

Erfreutes, hoffnungsfrohes Lächeln. „Gerne.“ Ich trete in den rostroten Flur meiner Kindheit, atme das Aroma des immer noch gleichen Parfums ein, als ich an Sigrid vorbeigehe und meinen dunkelblauen Mantel an einen Haken hänge. 

Dabei fällt mir etwas auf. „Wo sind denn Manfreds Jacketts?“ Normalerweise hatte er sämtlichen Platz eingenommen und sollte man etwas von diesem nutzen, hatte die Wange schnell die Farbe des Flures. Ich zwinge mich, bei dem Gedanken nicht zusammenzuzucken. Ist er wirklich tot? Die Traueranzeige in der Zeitung… 

„Oh, wusstest du es nicht? Er ist schon wenige Zeit später, nachdem du…“, sie stockt, blickt mich unsicher an. 

„Nachdem ich abgehauen bin“, vervollständige ich nüchtern. Sigrid nickt und weicht meinem Blick aus. 

Als sie nicht weiterspricht, tue ich es. „Er ist tot?“ Wieder nickt sie und führt mich schweigend ins Wohnzimmer. Ihre Ringe unter den Augen haben sich nur wenig gebessert, früher wirkte sie wie ein Zombie. Keine Ahnung, warum sie die Schlaftabletten immer weiter genommen hat, nachts ist sie dennoch ständig durch das Haus geschlichen. 

Sie hat den Tisch umgestellt. Er steht jetzt da, wo vorher sein Körbchen lag. Das in Lila mit den schwarzen Tupfen. Wut flammt in meinem Bauch auf und meine Hände wollen sich zu Fäusten ballen. Ihr vermehrter Platz, das dunkle Loch in meinem Herzen. Ich beiße die Zähne zusammen, verdränge seine treuen, braunen Augen, mit denen er immer zu mir hoch sah. „Setz dich doch!“ Sie macht eine Geste zu dem alten Holztisch. Während ich ihrer Aufforderung nachkomme, neben ihr Platz nehme, bringe ich mein Herz zum Schweigen. Einsiedlerkrebs, sage ich mir. Das hier ist deine Muschel, nicht deine Persönlichkeit. 

„Ich habe dir einen kleinen Kuchen mitgebracht!“, ich reiche ihr mit einem hoffentlich versöhnlichen Lächeln das Geschenk in meiner Hand. 

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, Sigrid streckt erfreut die Hand  danach aus. 

„Doch, ich bin einfach so gegangen und hatte seitdem nie die Möglichkeit mich für alles zu bedanken, was du für mich getan hast.“ Ihre Augen leuchten auf und ich zwicke mich ins Schienbein. Einsiedlerkrebs. 

„Danke, das habe ich gerne getan. Weißt du, ich habe dich immer geliebt. Du bist so groß geworden.“ Lächeln. „Möchtest du einen Kaffee haben?“ Ich beiße die Zähne zusammen. Geduld, sage ich mir, Geduld. 

„Nein danke, aber ich würde einen Tee nehmen“, erwidre ich und mein Blick folgt ihrem gebeugten Rücken, als sie mit den Worten: 

„Dann mache ich uns welchen. Kräutertee, wie immer?“, in die Küche verschwindet. Mein Magen verkrampft sich. 

„Ja, gerne“, rufe ich ihr hinterher.

Ich höre sein Röcheln, spüre meine Schritte, wie ich erschrocken die Treppe runterrenne, beinah Manfred ramme. 

Ich mustre meine Hände, den Holztisch unter ihnen, versuche, die Kontrolle zu behalten. „So, da bin ich wieder!“ Sigrid kommt mit einer dampfenden Tasse Tee und zwei kleinen Tellern mit Gabeln wieder. 

Ich bedanke mich artig und nehme mir ein kleines Stück Kuchen. Sigrid tut es mir nach und ich probiere ein Stück, um kein Aufsehen zu erregen. Es schmeckt kein bisschen nach Erdnuss. Innerlich gratuliere ich mir. 

Dort liegt er, neben seinem Körbchen. Sein dunkelbrauner Brustkorb, schweißnass, hebt sich unregelmäßig schnell und mein Herz bleibt einen Augenblick stehen. Wir waren doch gestern noch beim Tierarzt. „Jules!“, schreie ich, stürze neben ihm auf die Knie. 

Sigrid nimmt den ersten Bissen, kaut, schluckt ihn herunter. Ich unterdrücke mein erstes, echtes Lächeln. Noch ist es zu früh. 

Ich knie neben ihm, schüttle ihn leicht, doch seine Augen finden meine nicht. Verzweifelt rufe ich nach der einzigen Person, die mir helfen kann, der ich vertraue, meiner Mutter. „Sigrid!“ 

Sigrid fasst sich an den Hals und beginnt zu husten. „Entschuldige, ich brauche ein Glas Wasser“, keucht sie und erhebt sich. Ihr Gesicht ist schon puterrot. Wie sein Spielball. Ich lächle ihren Rücken zufrieden an. Wasser wird dir auch nicht mehr helfen. 

Ich wende mich um und da steht sie, beobachtet mich an der Seite des Hundes und mir wird ganz schlecht. Ein zufriedenes, entschlossenes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. „Hilf mir!“, rufe ich panisch. Noch gestern war er völlig gesund.

Ein weiterer Hustenanfall schüttelt sie und sie muss sich am Stuhl festhalten. Ich bleibe sitzen und betrachte die alte Kommode, auf der immer noch Bilder unserer Familie stehen. Wie kann sie nur?! Sigrid blickt in den großen Wandspiegel, über ihr Gesicht zieht sich roter Ausschlag. Ihre Augen werden klar, fokussieren mich, entsetzt. „Erdnüsse?“, presst sie hervor. 

„Erdnüsse!“, bestätige ich. Seit ich hier weg war, hatte ich ihre Erdnussallergie niemals vergessen. Meine Waffe, meine Rache. 

Ich verlasse meine Muschel, als Sigrid hustend zu Boden stürzt. Langsam erhebe ich mich und nehme das Foto von der Kommode. Dann ist es also so weit, ich werde die Letzte sein, die übrig ist. Ich blicke in die harten Augen meines Vaters. Können Menschen solch schwarze Augen haben? Vielleicht haben sie ihn schon immer als ein Monster ausgewiesen. 

Daneben ich, ein breites Lächeln im Gesicht, während ich den Kopf unseres Labradors streichle. Eine Zeit lang hatte ich mir gewünscht, wieder so zu sein, die grausame Seite des Lebens nichts als die böse Hexe im Märchen, die am Ende verbrannt wird. Doch diese Zeit ist vorbei, seit ich Nacht für Nacht in die sterbenden Augen eines Hundes blicken und schweißgebadet auf meiner Matratze hochschrecken musste. 

Die Frau auf dem Bild, in sicherem Abstand zum Mann, hat nur einen Mundwinkel hochgezogen und ihre ganze Körperhaltung wirkt, als hätte sie dieses Fotoshooting nicht nur nicht arrangiert, sondern wäre geradezu hineingezerrt worden. 

Ich muss an den Morgen denken, an die seltsamen, weißen Tabletten in Jules´ Futter, deren Form Sigrids Schlaftabletten glich. Ihre Augen sind kalt, geradezu abwesend und die Erkenntnis durchzuckt mich wie ein Blitz. „Du…?“, meine Stimme bricht, Sigrid blickt mich nicht einmal an. Antwort genug.

Ein leises Husten, es gleicht schon eher einem Keuchen zwingt mich in die Gegenwart und mein Atem beruhigt sich. Es ist soweit, das Ende ist gekommen. Ich zerschmettre das Bild samt Rahmen und Glas direkt neben der am Boden gekrümmten Frau. „Mira, bitte! Hör mir zu!“, obwohl ihre Stimme kaum mehr lauter als ein Flüstern ist, ist sie eindringlicher, als ich die schwache Frau, die tatenlos zusah, wie ihre Tochter geschlagen wurde, jemals erlebt habe. Während ich mich neben sie knie, sehe ich wieder Jules. 

Ich habe sein Gesicht in meine Hände genommen, heiße Tränen tropfen auf ihn. Mit ihm verliere ich mein Vertrauen in diese Welt, in meine Mutter, in mich. Die Wände verschwimmen, schlingern, wollen mich einkesseln. Jules´ rasselnder Atem endet. Ich schreie und Sigrid flüchtet die Treppe hinauf. Ich brauche nicht lange, packe nur die notdürftigsten Sachen und nicht einmal Manfred hält mich auf, als ich die Haustür ein letztes Mal hinter mir zuschlage. 

„Ich war das nicht!“, hustet Sigrid neben mir. „Manfred hat ihn“, sie keucht, stammelt nur noch einzelne Wörter. „Meine Schlaftabletten“, ist eine der letzten Sachen, die ich verstehe und „gleiche Mittel… heimgezahlt“. Dann ein weiteres Husten und plötzlich: Stille. Mein Gehirn verarbeitet die Worte nur langsam, die Stille dröhnt in meinem Kopf und meine Lunge brennt. Ja, Manfred war immer der aktive, dominante Part in ihrer Beziehung. Ja, er hat den Hund gehasst. Wieder sehe ich die Ringe unter Sigrids Augen. Womöglich… 

Aber Manfred ist tot. Die Wahrheit hat sich selbst zerstört, bis ins Unkenntliche verzerrt. Ich presse die Hände vor mein Gesicht, halte meinen Kopf fest, damit er nicht zerspringt. Ich sitze neben meiner Mutter und neben meinem Hund. Meine neu erbaute, düstere Welt schwankt um mich herum, dann bricht sie krachend in sich zusammen. Und ich zerbreche mit ihr.

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