Von Martina Zimmermann

„Du hast so großes Glück gehabt, mein Engel.“ Mama streichelt mir liebevoll über mein hellblondes langes Haar. Ich weiß, sie hat mindestens genauso gelitten wie ich, wenn nicht mehr.

Als ich immer schwächer wurde und keiner mehr weiter wusste, alle schier der Verzweiflung nahe waren, da kam die Rettung, in Form eines Spenderherzens. Für mich die Rettung. Alle atmeten erleichtert auf, als mein Körper das Spenderorgan annahm und jeder sehen konnte, es ging bergauf.

Zunächst breitete sich die Erleichterung auch in mir mehr und mehr aus. Ich fasste mit meinen gerade mal 12 Lebensjahren neuen Mut. Überhaupt hielt ich mich für reifer als meine gleichaltrigen

Freundinnen. Ich glaubte, es lag daran, dass ich schon in so jungen Jahren schlichtweg um mein Überleben kämpfen musste.

Wie auch immer, ich wurde optimistischer, meine erträumten Ziele, die ich mir immer vor Augen gehalten hatte, schienen greifbar und teilweise schon umsetzbar. Eigentlich stand meinem Glück und einem unbeschwerten Leben nichts mehr im Wege, wenn da nicht diese Veränderung gewesen wäre. Ich spürte, ich wurde mir von Tag zu Tag ein wenig fremder. Ich fühlte eine innere Zerrissenheit und konnte sie nicht einordnen. Was war es und woher kam es?

 

Zu Anfang fand meine Familie es lustig, dass ich Dinge gerne essen mochte, die ich früher auf den Tod nicht ausstehen konnte. Mein Bruder witzelte: „ Du hast eine Geschmacksveränderung eingebaut bekommen.“ Alle lachten, aber irgendwie fand ich es seltsam und insgeheim machte ich mir Gedanken. Es passierten öfter Dinge. So konnte ich nie etwas mit Kunst anfangen, ich war kein kreatives Kind. Malen war für mich der Horror und so sahen meine Bilder auch aus. In der Schule war das Fach Kunst der Graus. Doch plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich scheinbar wie ferngesteuert eine Skizze von unserem Hund Otto anfertigte und zu meiner eigenen Überraschung war sie gut. Sie war sogar ausgezeichnet. Meine Familie konnte ihre Verwunderung ebenso wenig verbergen wie ich selber, versuchten aber kein großes Thema daraus zu machen. Sie wollten mich scheinbar nicht noch mehr verwirren. Schließlich konnte keiner mit meinen neuen Talenten so richtig umgehen, oder eine plausible Erklärung dafür finden. Sie beschlossen wohl alle, dem keine weitere Bedeutung zu schenken und es als gegeben hinzunehmen.

 

Bis dahin konnte ich mit meiner Veränderung leben. Ich wunderte mich von Tag zu Tag, über Dinge  die ich tat, wusste aber teilweise nicht warum, oder wieso ich es konnte. Ich beschloss mich darauf einzulassen und es zu akzeptieren, bis es schlimmer wurde.

Schlimmer waren diese Träume. Plötzlich träumte ich jede Nacht. Albträume, schlimme Albträume.

Jede Nacht wachte ich schweißgebadet auf. Mein Herz raste in meiner Brust, so dass ich Angst bekam, es wäre wieder etwas Schlimmes. Dann beruhigte ich mich nach kurzer Zeit.

Ich versuchte damit umzugehen. Aber es wurde noch schlimmer.  Nachdem ich mir zu Anfang mehr Sorgen um meine Gesundheit gemacht hatte, begann ich nach einiger Zeit darüber nachzudenken, was in den Träumen passierte. Ich versuchte mich zu erinnern. Tatsächlich träumte ich immer den selben Traum. Es war der Horror …

Ich träumte von einem Mann. Er betrat mein Zimmer. Aber es war nicht wirklich mein Zimmer. Alles war so verworren und doch sah ich es so klar vor Augen, als wenn es real war. Dieser Mann kam auf mich zu. Ich sah ihn genau. Diese eindringlichen Augen. Ich wusste, er will mir etwas antun. Mein Herz raste und ich konnte kaum atmen vor Angst. Ich schrie, doch niemand kam. Unwillkürlich versuchte ich in die Ecke des Bettes zu kriechen und schützend das Bett vor zu halten, doch vergebens. Ich schrie weiter: „Hilfe, Hilfe“, doch niemand half. Warum nicht? Ich konnte doch nicht alleine gewesen sein. Ich war ein kleines Mädchen! Ich glaubte es zumindest. Alles erschien so real und doch war es fremd. Aber diese Angst, diese Panik, sie war echt. Ich könnte es beschwören, dass es mir passierte.

Dieser Mann, er kam auf mich zu und drückte mir die Hand auf den Mund. Der ledrige Geschmack des Handschuhs lag immer noch auf meiner Zunge. Kaum fähig mich zu wehren, während er mich packte und mich entkleidete. Ich sah ihm in die Augen, sein Gesicht brannte sich in mir ein wie ein Gemälde. Ich hätte ihn aus tauenden von Männern heraussuchen können. Meine Panik stieg, ich versuchte mich zu wehren und plötzlich spürte ich, wie meine Sinne schwanden. Ich verlor das Bewusstsein …

Was für ein Traum. Ich erwachte jede Nacht schweißgebadet und immer wieder träumte ich diesen Horrortraum. Was sollte ich tun? Es war doch nicht normal. Meine Mutter tröstete mich in der Nacht und irgendwann gelang es mir, wieder einzuschlafen. Aber es konnte doch kein Dauerzustand sein. Ich beschloss mich meinen Eltern anzuvertrauen. Beschrieb bis ins kleinste Detail die Dinge, die ich jede Nach in meinem Traum sah. Ich merkte, wie ihnen die Haare zu Berge standen.

Sie sahen mich mitleidig an und dann beschlossen sie etwas zu unternehmen.

Mein Vater erkundigte sich nach meinem Spender. Es war inzwischen fast zwei Jahre her und die Chance etwas über den Spender zu erfahren war nach dieser Zeit gut. Auch meine Mutter war auf meiner Seite und meinte: „ Es muss einen Grund geben. Irgend etwas stimmt nicht.“ Es kam mir vor, als wenn dieses Mädchen, welches ich jede Nacht im Traum sah, mir etwas mitteilen wollte. Ich glaubte, ich hatte eine Mission zu erfüllen. Ich mit meinen 12 Jahren. Was sollte ich tun? Warum erlebte ich diese Dinge Nacht für Nacht?

 

Meine Eltern fanden heraus, mein Spenderherz stammte von einem Mädchen etwas jünger als ich. Sie hieß Sandy und wurde umgebracht in ihrem eigenen Kinderzimmer. Die Eltern waren bei den Nachbarn nebenan eingeladen und als sie nach Hause kamen, fanden sie ihre Tochter  leblos vor.

Der Notarzt stellte einen Hirntot fest und somit schlug ihr Herz noch, das Organ, welches mir mein Leben rettete.

Es gab keine Spuren und der Täter wurde niemals gefasst.

Ich wurde bleich. Ich wusste, dass was ich in jeder Nacht im Traum sah, war die Ermordung meiner Spenderin. Die Arme, wie schrecklich. Sie hatte noch so viele Träume. Ein Mädchen genau wie ich. Ich fühlte mich plötzlich mehr mit ihr verbunden als zuvor. Ich litt schließlich jede Nacht mit ihr mit und ich begriff, dass ich ihr helfen konnte. Sie hatte mir geholfen mein Leben zu retten. Ihres konnte ich nicht mehr retten, aber ich konnte ihr helfen ihren Seelenfrieden zu finden und somit auch meinen. Sandy lebte in den USA in einem kleinen Städtchen, genau wie ich, und nicht sehr weit weg von mir. Meine Eltern erinnerten sich, dass diese Geschichte in den Medien war und keiner einen Anhaltspunkt hatte. Der Mörder wurde trotz großer Suchaktion und Öffentlichkeits-arbeit nicht gefunden. Die Eltern hatten Aufrufe gestartet, aber keiner konnte auch nur den kleinsten Hinweis geben …

Bis jetzt, und jetzt komme ich. Ich kann ihn beschreiben. Den Täter, kann ihn bis ins kleinste beschreiben. Jede Falte seines Gesichtes wird mir Nacht für Nacht ins Gehirn eingespeichert.

Jetzt ist er dran. Ein Mensch schlägt zurück, eigentlich ein junges Mädchen. Damit hätte keiner gerechnet.

Meine Eltern gingen mit mir zur Polizei und ich machte Angaben und beschrieb den Täter haargenau. Es konnte sich zwar niemand erklären, warum ich den Mann so beschreiben konnte, und warum ich Details wusste, die ich nicht wissen konnte, aber man nahm mich ernst. Tatsächlich wurde der Täter durch meine Beschreibung gefasst.

Es war der Nachbar. Er hatte sich weggeschlichen, während die Eltern von Sandy bei ihnen saßen. Er hatte vorgegeben länger auf der Toilette gewesen zu sein, da ihm nicht gut war und somit hatte er ein Alibi. Keiner wäre ihm auf die Schliche gekommen, wenn ich ihn nicht in meinen Träumen gesehen hätte.

Er wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Nachdem der Täter gefasst war, kehrte Ruhe in mein Leben. Ich glaube, Sandy konnte mir durch unsere Verbindung ihr Erlebtes mitteilen. So hat sie ihren Frieden gefunden, genauso wie ich.

Die Albträume blieben aus und ich konnte endlich weitgehend normal Leben. Genau wie andere  jungen Mädchen in meinem Alter. Ich hatte es mir gewünscht, aber Sandy und ich, werden für immer verbunden bleiben.

 

Angelehnt an einen TV Bericht in dem es um Organspenden ging und um Dinge, wie Geschmacksveränderugen oder neue Fähigkeiten, die bei Empfängern von Organen festgestellt wurden. Ein Phänomen, zu dem es Studien gibt, und welches weiter erforscht wird.

Die Geschichte mit dem Mord hat sich wirklich ereignet und der Mörder wurde anhand der  Beschreibung der Organempfängerin gefasst.