Von Björn D. Neumann
Irmgard war ein gutmütiger Mensch. Manch einer würde sagen zu gutmütig. In ihrer Harmoniebedürftigkeit vergaß sie allzu oft, ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren. Der „liebe Frieden“ stand bei ihr an erster Stelle. Sie führte auch eine ebenso harmonische Ehe. Einziger Konfliktpunkt mit Bernhard war dann zumeist, wenn er gegen das Unbill, welches von außen auf ihre kleine Welt einstürmte, angehen wollte und mit Klauen und Zähnen versuchte, diese zu verteidigen, indem er Streit mit Familie, Nachbarn und Behörden suchte. Irmgard konnte das nicht ertragen und so endete es meist damit, dass sie Bernhard bedrängte, es sein zu lassen. Bernhard liebte seine Frau über alles. Unter anderem auch wegen dieser Wesenszüge und so konnte sie ihn mit einem „Lass es, Hase!“ oft genug zurückpfeifen. Er schluckte den Ärger hinunter und grummelte dann eine Zeit lang vor sich hin.
Irmgard hatte geerbt, unter anderem ein Ferienhaus in Buxtehude. Sieht man einmal von der Tatsache ab, dass damit der frühe Abschied von den Eltern verbunden war, eigentlich eine schöne Sache. Zwei Haken gab es allerdings an diesem Erbe: Haken Nummer eins war dem Umstand geschuldet, dass es da noch ihren Bruder Heinz gab. Im Gegensatz zu Irmgard hatte Heinz nicht das geringste Interesse an dem Haus. Während Irmgard damit die zahlreichen Familienurlaube verband, war es für Heinz schlichtweg nur eine Geldquelle. Er war nie ein sonderlich empathischer und gefühlsbetonter Mensch, sondern das verhätschelte jüngste Kind, das immer nur auf seinen persönlichen Vorteil bedacht war. Für Irmgard war es der „Safe-Place“ mit wertvollen Erinnerungen. Um ihren Bruder auszubezahlen, fehlte es an dem nötigen Kleingeld. So überließ sie Heinz die Mieteinnahmen, während sie den Unterhalt des Hauses mit all seinen Begleiterscheinungen alleine trug. Einschließlich der Terroranrufe ihres Bruders, wenn es Probleme bei der Zahlungsabwicklung gab.
Die Mieteinnahmen waren der zweite Haken. Das Zweifamilienhaus wurde zu einer Hälfte von einem befreundeten Ehepaar der Eltern bewohnt. Ronny und Nele wohnten seit Jahrzehnten für den berühmten „Appel und das Ei“ in dem Haus. Der Deal besagte, dass sich die beiden dafür um kleinere Reparatur- und Gartenarbeiten zu kümmern hatten. Irmgards hemdsärmeliger Vater hatte jedoch nie einen gültigen Vertrag mit den beiden geschlossen, sondern es war lediglich eine Übereinkunft per Handschlag. So kam es, wie es kommen musste – die Verabredungen waren von einem Tag zum anderen hinfällig. Viel mehr verhielten sich die „Freunde der Familie“ abweisend und man hatte mehr und mehr das Gefühl, man versuche, Irmgard aus dem Haus zu ekeln. Sie wollten es für sich selber, aber Irmgard weigerte sich standhaft, ihren Rückzugsort zu verramschen. So erduldete sie auch dies, um des lieben Friedens willen.
Vielleicht lag es in ihrem Beruf als Erzieherin begründet, oder sie war Erzieherin auf Grund ihrer Harmoniesucht. Wer weiß das schon. Auch die Kolleginnen von Irmgard hatten ziemlich schnell raus, ihre Charaktereigenschaft auszunutzen. Berichte, Elterngespräche, Konzeptionen. Alles wurde oft und gerne bei der Diplom-Pädagogin abgelegt. Die Auszeichnungen, Belobigungen und Beförderungen strichen die Kolleginnen für sich ein. Irmgard war stolz auf ihre Arbeit und das reichte ihr.
Wichtig war es ihr, ein ruhiges Leben mit Bernhard in den eigenen vier Wänden zu führen. Sie hatten eine wunderschöne Eigentumswohnung mit Terrasse am Waldrand. Allerdings bedeutete Eigentumswohnung auch, dass man es mit Nachbarn zu tun hat. Ein besonders boshaftes Exemplar dieser Sorte lebte direkt über ihnen. Die 83-jährige Witwe Annemarie Pampel war eine Hexe. Jedenfalls war Bernhard davon überzeugt. Auf ihrem Balkon über der Terrasse versprühte sie tagein, tagaus ihr Gift. Sie gab freundliche Tipps zur Gartenarbeit, die nur vor Boshaftigkeit trieften und kommentierte mit Sätzen wie „Die Vorbesitzer haben das aber ganz anders gemacht!“, „Der Strauch ist aber viel zu hoch!“, „Der Sonnenschirm nimmt mir die Sicht!“ oder „Immer diese Grillerei!“, wenn das dritte Mal im Sommer der Gasgrill angeworfen wurde. Dazu kamen gehässige Kommentare, wenn einer der beiden einmal krank zuhause blieb oder einen Tag Urlaub hatte. Mähte Bernhard den Rasen, wurde demonstrativ die Balkontüre zugeknallt. Goss sie die Blumen, kam es oft genug vor, dass Irmgard und Bernhard eine kleine unfreiwillige Dusche erhielten. Natürlich ganz ohne Absicht. Zupfte Frau Pampel die roten Blütenblätter ihrer Geranien, landeten die, wie selbstverständlich auf den weißen Terrassenfliesen und hinterließen dort unschöne Flecken. Oftmals schäumte Bernhard vor Wut und hätte ihr allzu gerne eine Erwiderung entgegengeschleudert. Stattdessen verzog er sich leise vor sich hin schimpfend in die Wohnung und mied den Garten. Alles für den Frieden.
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5 – 6 – 10 – 12 – 13 – 17
Irmgard schaute verwirrt abwechselnd auf den Bildschirm und den Lottoschein in ihren Händen. „Bernhard! Bernhard! Wir haben gewonnen!“
Bernhard lugte über die Zeitung. „Was haben wir gewonnen?“
„Im Lotto!“
„Reicht es für zwei Spaghetti-Eis?“
„Du Doof. Wir haben sechs Richtige! Wir sind reich!“ Irmgard hüpfte durchs Wohnzimmer.
„Du machst doch Witze.“
„Nein, sieh‘ nur. Unsere Zahlen.“
Er nahm ihr ungläubig den Lottoschein aus der Hand und verglich ihn mit den Zahlen auf dem Fernseher. „Ich werd‘ bekloppt! Wir haben tatsächlich gewonnen!“ Bernhard hob Irmgard in die Luft und drehte sich mit ihr einmal quer durchs Zimmer. „Und jetzt köpfen wir eine Flasche Schampus!“
Das Telefon klingelte. Irmgard seufzte, als sie die Nummer sah. „Mein feiner Herr Bruder. Ausgerechnet jetzt!“ Sie nahm ab und meldete sich.
„Wo bleibt meine Miete?“, schallte ihr ohne Begrüßung aus dem Hörer entgegen. „Entweder du sorgst dafür, dass pünktlich gezahlt wird, oder du zahlst mich aus. Verstanden? Ich habe keinen Bock mehr, ständig hinter dem Geld her zu laufen!“
Irmgard stiegen schon die Tränen in die Augen. Dann sah sie Bernhard an, der gelassen mit den Schultern zuckte und ihr wurde klar, dass Heinz keine Macht mehr über sie hatte. Sie schrie zurück. „Weißt du was gerade passiert ist? Wir haben im Lotto gewonnen. Du kriegst dein scheiß Geld. Ich zahle dich komplett aus. Und weißt du noch was? Ansonsten wirst du keinen Cent sehen! Sollten Bernhard und ich nicht mehr sein, kriegst du oder deine Brut nichts. Eher vererben wir es an das örtliche Tierheim!“
„Aber Irmgard …“, war das letzte, was sie hörte, als sie den Hörer aufknallte. „Mein Gott, tat das gut. Bernhard, reich‘ mir mal mein Handy rüber.“ Irmgard öffnete den Messenger. Jetzt, wo sie gerade in Fahrt war, schrieb sie in die Gruppe der „Kleinen Wichtel“: „Meine lieben Kolleginnen, die Zeiten in denen ihr eure Arbeit bei mir abgeladen habt, sind leider vorbei! Ab jetzt müsst ihr wohl selber euren Arsch hochkriegen. Ich wünsche euch viel Erfolg dabei. Da ihr ja schon so viele Erfolge erzielt habt, fällt euch das sicherlich nicht schwer!“. Dann setzte sie sich an den Laptop und begann einen Brief mit dem Dateinamen „Kündigung des Mietverhältnis Buxtehude“.
Durch die offene Terrassentür war ein „Was soll eigentlich diese Schreierei?“ gefolgt vom Zuknallen der Balkontür zu hören. Bernhard sah Irmgard treuherzig an. „Darf ich?“ Irmgard gab Bernhard nickend einen Kuss. Dann stiefelte er durchs Treppenhaus eine Etage höher. Sie verstand nicht viel von dem Gebrüll im Treppenhaus „Alte Schnepfe, Hexe und erstick an deiner Boshaftigkeit“ waren die Wortfetzen, die sie jedoch mit Genugtuung aufschnappte. Und es tat soo gut …
***
Es wurde nicht der erhoffte Millionengewinn – letztendlich fehlte die Superzahl für den ganz großen Wurf. 54.612,18 € reichten nicht, um ihren Bruder auszubezahlen und sich als Privatier zur Ruhe zu setzen. Allerdings ließ sie Heinz nichts davon wissen. Dieser war seit dem Telefonat überaus freundlich und mit der Erwartung, dass seine Familie vielleicht doch noch auf Berücksichtigung der Millionen-Erbtante hoffen konnte, fiel kein böses Wort mehr. In Buxtehude waren mittlerweile neue Nachbarn eingezogen. Ein nettes ukrainisches Paar mit einer kleinen Tochter. Sie waren sehr glücklich über eine preisgünstige Mietgelegenheit und bei jedem Besuch von Irmgard und Bernhard saß man bis spät in der Nacht zusammen, lachte und feierte. Zuhause hörte man von Frau Pampel nicht mehr viel. Mehr als einen „Guten Tag und guten Weg“ hatte man sich nicht zu sagen. Jedenfalls unterblieben ebenso die kleinen Gehässigkeiten der alten Dame. Den Großteil des Geldes verwendete Irmgard, um einen eigenen kleinen Kindergarten zu eröffnen. Das erste Mal im Leben war sie ihr eigener Chef. Sie war nun rundum mit sich und der Welt zufrieden. Man sagt, dass Geld allein nicht glücklich macht, aber sechs einzelne Zahlen können der Anfang von etwas Neuem, etwas Großartigem sein.
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