Von Viktoria Wehrle
Hilde Wimmer hat sich nicht unter Kontrolle. Ein tiefes Stöhnen zieht sich von ihren Lendenwirbeln durch den Bauch in die Brust, um dann durch ihren halb geöffneten Mund in die Freiheit zu entweichen. “Oh, Carlos!“.
Carlos ist einfach gut. Wie er mit seinen Fingerspitzen von ihrer Stirn über die Schädeldecke bis in den Nacken hinunter massiert. Das ist ein Fingertanz auf ihrem Körper. Hilde meint sogar, das Allegro Moderato aus dem sterbenden Schwan, zu erkennen.
Alle vier Wochen macht sie einen Termin bei Carlos. Wirklich leisten kann sie sich das nicht. Der Frisörsalon „Haargenuss“ hat gepfefferte Preise. Aber seit Carlos hier arbeitet setzt sie ihre finanziellen Prioritäten anders.
Sie geht wieder mehr zu Fuß, auch wenn es regnet oder stürmt. Und wenn sie doch das Auto nimmt, dann wirft sie einfach kein Geld mehr in die Parkuhr. Die eingesparten öffentlichen Gebühren hütet sie sorgfältig in einer kleinen Schachtel. Das ist das Trinkgeld für Carlos. Damit versüßt sie sich regelmäßig den vierwöchigen Abschied von ihm. Sie drückt ihm das Geld ganz langsam in seine begnadeten Hände und streicht ihm dabei kurz über seine Finger. Und manchmal hat sie den Eindruck, er drückt zurück. Ganz zart. Sie spürt es kaum.
Hilde hat sich in ihren Frisör verliebt. Carlos ist knapp 20 Jahre jünger. Aber das kümmert sie nicht. Der Trend geht zum jüngeren Mann. Die Lisa Fitz hat einen und die Simone Thomalla auch. Warum sollten für Hilde Wimmer andere Regeln gelten?
„Ciao Mädels, bis morgen!“ ruft Carlos und schon fällt die Tür hinter ihm zu. Feierabend. In seinem Kopf klingt Musik, es zuckt in seinem Körper und er tänzelt die Straße entlang nach Hause.
Wenn er am Abend in seine Wohnung kommt zieht er als Erstes seine weiße Strumpfhose an. Wolle mit Seide Gemisch. Er liebt dieses kuschelige Gefühl auf der nackten Haut. Es tanzt sich viel leichter in der
Strumpfhose als in den Jeans. Außerdem kommt die Form seiner schlanken Beine besser zur Geltung. Jedes Mal wenn er im Flur am Spiegel vorbei tanzt, genießt er den Blick auf seinen Körper.
Er hätte ganz groß raus kommen können. Als Ballett Tänzer auf den Bühnen dieser Welt. Das ist der Plan gewesen. Aber sein Vater, ein Metzgermeister aus dem Westerwald, hat für die Berufswünsche seines einzigen Sohnes kein Verständnis gehabt. „Ei, et wird ein Handwerk geliehrt. Basta!“, und mit diesem Schlusswort sauste das Hackebeil wortlos durch den Hals des Federviehs auf den Holzklotz. Blut spritzte. Carlos wusste sich zu rächen. Frisör ist ein Handwerk. Aber ganz sicher nicht das, was sich sein Metzgervater vorgestellt hat.
Tagsüber geht Carlos seinem Beruf als Frisör nach. Und wenn Kundinnen wie Hilde Wimmer aufstöhnen, dann weiß er, auch mit einem Handwerk kann man Emotionen wecken. Aber am Abend, da geht er seiner Berufung nach.
Jeden Freitag tanzt Carlos in der Bar zum scharfen Eck. Das Lokal ist mit dunklem Holz getäfelt, Spiegel hängen an den Wänden. Nischen mit Sofas und Sesseln sind um die kleine Bühne platziert. Mit den anderen Künstlern kommt Carlos gut aus und Lola, die Bardame, hat ein großes Herz für alle.
„Hilde, willkommen im Club der 50er!“, strahlt Edda ihre alte Schulfreundin Hilde an, und drückt ihr einen Gutschein in die Hand. „Alles Gute zu deinem Geburtstag! Am nächsten Freitag gehen wir alle miteinander ins scharfe Eck. Da tanzen die heißesten Kerle! Annemarie und Gerda waren mit ihrer Gymnastikgruppe dort und haben ganz begeistert von der Show erzählt! Das ist unser Geburtstagsgeschenk für dich!“
Hilde ist nicht gerade begeistert von dem Geschenk. Sie hat gehofft, einen Gutschein für den Frisörsalon „Haargenuss“ zu bekommen. Hat sie doch ihren Freundinnen mehrfach kleine Hinweise in diese Richtung gegeben. Aber sie haben es nicht kapiert. Edda ist schon früher in der Schule nicht die Hellste gewesen und von den meisten Menschen kann man nicht wirklich viel erwarten.
Carlos zieht hinter der Bühne seine weiße Strumpfhose an. Heute ist ein Pas de deux mit Heinzi an der Stange geplant. Heinzi ist viele Jahre zur See gefahren und ist vom Kopf bis zu den Füßen tätowiert. Eine riesige Tigerpython schlängelt sich von seinen Füßen rund um seinen Körper bis hoch über seinen kahl geschorenen Kopf. Auf der Stirn das offene Maul in dem die Zunge zuckt und züngelt. Und wenn diese Schlange sich um die Stange schlingt, dann reicht der Funken eines Streichholzes, um das Publikum zum Kochen zu bringen.
Die Schulfreundinnen haben es sich in einer Nische gemütlich gemacht. Hilde saugt gelangweilt an ihrem Hugo. So hat sie sich das nicht vorgestellt. Die artistische Show mit den drei Japanern auf dem Seil hat sie nicht begeistert und auch der Pudel, der auf der Wippe mit Sektgläsern jongliert, fesselt sie nicht.
„Hilde hat sich verändert“, flüstert Edda Annemarie zu.
„Das ist mir auch schon aufgefallen“, antwortet Annemarie. „Sie wirkt fast ein wenig depressiv“.
„Ja, und gleichzeitig brezelt sie sich auf wie eine 20jährige“, sagt Edda.
„Sicher die Wechseljahre“, raunt Gerda, während sie ihr Glas hebt und Hilde aufmunternd zuprostet.
„Passt nur auf, jetzt kommen die Tänzer. So schöne Männer“! verspricht Annemarie.
„Stimmt. Nur leider alle für die Frauenwelt verloren.“ wirft Gerda ein.
Ein Tusch! Auf jeder Bühnenseite erscheint ein Ballett Tänzer. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein. Einer klein und schlank, ein James Dean des Tanzbodens, und dann die mächtige muskulöse Schlange. Es
entwickelt sich ein spannungsgeladenes Spiel zwischen den beiden Tänzern. Die zarten aufreizenden Bewegungen von dem jüngeren Mann üben einen erotischen Magnetismus auf die Schlange aus. Diese gebärdet sich wie ein wildes Tier auf der Bühne. Ein Tanz zwischen zwei Göttern der Leidenschaft. Das Publikum tobt. Die meist weiblichen Gäste springen auf, rufen und winken, werfen Rosen und rosa Schlüpfer auf die Bühne.
Hilde sitzt versteinert auf ihrem Sessel. „Oh, Carlos“, haucht sie bevor sie bewusstlos unter den Tisch rutscht.