Von Barbara Hennermann

Der Blick in den Spiegel zeigte Carla nichts Gutes – irgendwie wurde sie Oskar immer ähnlicher. Selbst wenn sie der Plattitüde, dass sich Lebewesen im Laufe längeren Zusammenlebens mehr und mehr angleichen, zustimmte – irgendwann ist eine Grenze eben auch überschritten …

Ohne den Blick von ihrem Spiegelbild abzuwenden, grabschte Carla nach dem Telefon und suchte die eingespeicherte Nummer: „Gerald, Friseur“. Wie üblich läutete es ewig, doch als sie gerade auflegen wollte, meldete sich eine näselnde Stimme:
„ Salon très précis, Sie sprechen mit Scheraar.“
Die Person im Spiegel hielt Carla davon ab, sofort wieder aufzulegen.
„Hi, Gerald, hier spricht Carla. Ich brauche dringend einen Termin bei dir!“ Sie kannte den Haarkünstler seit ewigen Zeiten, da war mit „Scheraar“ nix drin. Grinsend lauschte sie seinem Gezwitscher am anderen Ende der Telefonleitung.
„Oh, Carlaa, wie schön, disch su ´ören!“
Sie musste zugeben, dass er „den Franzosen“ wirklich gut hinkriegte – Gerald Schmitt, ihr Spezel aus der Grundschulzeit.
Carla erinnerte sich, dass er schon damals einen Hang zum Ausgefallenen hatte. Im Sportunterricht versuchte er sich auf seinen streichholzdünnen Beinchen als Balletttänzer und selbst Frau Habicht, die Klassenlehrerin, war beeindruckt von dem Büblein, das unbeirrt in Ballettschläppchen in der Sporthalle umhertanzte, während alle anderen Buben am liebsten mit groben Stollen an den Turnschuhen dem Fußball hinterherjagten.
Nun, mit dem Ballett war es nichts geworden. Vater Schmitt, Besitzer einer gut gehenden Metzgerei, wollte seinen Einzigen gern als Nachfolger im Geschäft sehen. Das wiederum lehnte Gerald strikt und verbissen ab.
Als Kompromiss – „ein Handwerk musst du lernen, Sohn!“ – war er dann Friseurmeister geworden. Und, so sehr Carla sein französischer Tick auch auf die Nerven ging, er verstand sein Handwerk!
Der Salon lief gut, wozu sicher beim Einstand auch eine ansehnliche Spende aus Papas Metzgerei beigetragen haben dürfte.
So war es auch nur ihrer langen Bekanntschaft geschuldet, dass er ihr schon für den nächsten Tag einen Termin zugestand.

Oskar war nicht erfreut, dass er als Friseurbegleitung auserkoren wurde. Struwwelige Rauhaardackel sehen sich nun einmal nicht als Klientel gehobener Friseursalons.
„Doch. Oskar!“
Carlas Stimme sowie ihr Zeigefinger hoben sich drohend, als der Dackel nach dem Aussteigen aus dem Auto mit elegantem Schwung zum dritten Mal seinen Kopf aus dem Halsband wand.
„Hör auf, die Ohren anzulegen, sonst mach ich es enger, dann kannst du von mir aus würgen!“
Der Dackel setzte sich auf sein Hinterteil, legte den Kopf schief und schoss seinen Dackelblick, ähnlich Amors Pfeil, voll auf Carla ab. Carla seufzte. Jaja, sie wusste es natürlich – selbst schuld! Aber wie sollte man diesem Blick aus den braunen, leuchtenden Augen auch widerstehen können?
„Also gut, mein Lieber. Du bekommst einen leckeren Knochen und ich einen neuen Haarschnitt, ok?“
Der Dackelschwanz fegte freudig über´s Straßenpflaster. Oskar war offensichtlich einverstanden.
Carla fragte sich, ob ihr vierbeiniger Freund endlich auch einmal länger allein zu Hause bleiben würde. Er war längst kein Welpe mehr, aber das Alleinsein behagte ihm gar nicht. Sobald sie länger als eine Stunde weg war, stellte er mit Sicherheit etwas an. Erst gestern hatte er eine ihrer Strumpfhosen aus dem Schrank gezerrt, völlig zerrissen und sich zu allem Überfluss auch noch so darin verwickelt, dass er am Ende seine Vorderpfoten selbst gefesselt hatte. Carla kicherte, als sie daran dachte. Immerhin hatte ihn das von weiteren Untaten abgehalten … Aber natürlich hatte ihr sein herzzerreißender Blick sofort ein schlechtes Gewissen beschert, weil sie ihn allein gelassen hatte. Glücklicherweise konnte sie ihren Hund zur Arbeit mit in´s Büro nehmen, wo er brav unter ihrem Schreibtisch verschwand und sich über Stunden nicht rührte. Carla nahm an, dass er diesen Platz für seine sichere Höhle hielt.

Die Metzgerei Schmitt lag praktischer Weise und nicht ganz zufällig direkt neben dem Friseursalon, so dass Carla ihr Versprechen rasch einlösen konnte. Der Knochen, der eher ein Knöchlein war und Oskars Größenverhältnissen angemessen, ersparte es ihr, den Dackel durch die Tür zerren zu müssen, denn Oskar schwang sein vier Füße freiwillig hinterher.

„Oh Carlaa, Schätzchen, wie schöön!“
Gerald kam auf sie zugeschwebt. Eigentlich echt schade, dass aus ihm kein Balletteur –„Hä? Wie nennt sich eigentlich ein männlicher Tänzer im Ballett?“, schoss es Carla durch den Kopf – geworden war. Er war eine echte Naturbegabung!
Carla ließ sich umarmen, Bussi hier, Bussi da. Zu ihren Füßen knurrte es …
„Oh Oskaar, mon p´tit chou!“
Gerald beugte sich hinunter, um Carlas Begleitung über den Kopf zu streicheln. Doch offenbar verstand Oskar da etwas falsch. Sein Gebiss war jung und kräftig, als es sich um Geralds Handgelenk schloss. Der stieß einen Schrei aus und fuhr zurück.
„Du Mistköter!“, fluchte er ganz unfranzösisch.
Auch Carla war erschrocken.
„O Gott, Gerald, lass mal sehen!“
Sie packte Geralds Hand. Außer ein paar roten Flecken konnte sie an seinem Handgelenk keine weiteren Blessuren entdecken.
„Naja“, setzte sie an, doch Gerald unterbrach sie.
„Dein blöder Köter hat mich gebissen!“
Seine weinerliche Stimme überschlug sich fast.
„Ich hoffe, du hast eine gute Versicherung, Carla! Und bring das Vieh bloß schleunigst raus auf die Straße, da kannst du den Satan vor dem Salon anbinden!“

Hoppla.
Carla schluckte.

Dann legte sie los:
„Jetzt hör aber mal zu, Gerald! Oskar hat sich völlig normal verhalten und wollte nur seinen Knochen verteidigen! Woher soll der Hund denn wissen, dass du nicht scharf auf seinen Knochen bist? Ich finde, er hat dich wirklich sehr vorsichtig behandelt!“
Ihre Stimme wurde immer schriller.
„Und wenn du glaubst, dass ich den Dackel alleine vor dem Salon sitzen lasse, wo ihn jeder klauen kann und vielleicht an ein Tierversuchslabor verkauft …“
Sie schnaufte tief durch.
„Komm, Oskar, wir gehen!“
Leider war Oskar verschwunden. Selbstverständlich erschien er auch auf´s Rufen nicht. Ein anständiger Dackel weiß schließlich, was von ihm erwartet wird …

Das war nun doch eine etwas peinliche Situation, fand Carla. Natürlich versuchten nicht nur die Angestellten des Salons durch alle möglichen Körperverrenkungen mehr vom Geschehen zu erhaschen … Geralds hochrotem Kopf nach zu schließen war der mit seiner Tirade auch noch nicht zu Ende. Alles in allem schien es folglich angebracht, diesen Ort rasch zu verlassen. Doch wo steckte Oskar bloß?
Offenbar hatte sich der Hund auch erschrocken, denn sein Knochen lag einsam zu Carlas Füßen. Normalerweise hätte er den doch nie aus den Augen gelassen? Wo mochte er sich in seiner Angst versteckt haben?
Carla machte einen Schritt auf die extravagante Theke zu, die rechts und links jeweils von einer altmodischen Parkuhr begrenzt wurde.
(Gerald hatte die billig erworben, als in seiner Straße auf Tickettautomaten umgestellt worden war. Jetzt konnte die zufriedene Kundschaft ihr Trinkgeld dort einstecken.)
Dabei trat sie auf den Knochen, strauchelte und knallte mit ihrem ganzen Körpergewicht voll gegen eine der Parkuhren. Ratternd gab diese ihre angesammelten Schätze preis. Das Geklapper beeindruckte anscheinend auch Oskar, denn er kam schwanzwedelnd unter der Theke hervor und lief zu seinem Frauchen. Carla schossen vor Schmerz die Tränen in die Augen, aber immerhin schien der Dackel momentan kooperationsbereit.
„Also los, Oskar, wir gehen!“
Ihre Stimme klang etwas brüchig, doch der Gute hatte sich offenbar entschlossen, ihr zu folgen. Unter den interessierten Blicken von Personal und Kundschaft öffnete Carla die Salontür, um an dem perplexen Gerald vorbei auf die Straße zu gelangen.
Aber Oskar war noch nicht ganz fertig. Carla drängte sich der Verdacht auf, dass ihr Hund vorhin gar nicht erschrocken, sondern vielmehr ziemlich verärgert gewesen war. Bei Dackeln absolut nichts Ungewöhnliches … Jedenfalls stand er in diesem Augenblick seelenruhig an der unbeschädigten Parkuhr, hob elegant das linke Hinterbein und –
es plätscherte leise, dann schritt der Teckel hoch erhobenen Hauptes an den versteinerten Anwesenden vorbei hinaus auf den Gehweg. Carla folgte fluchtartig.

Die Dienste des „Salon très précis“ würde sie wohl nicht mehr in Anspruch nehmen können, dafür hatte Oskar gesorgt.
Wobei –
war er nicht ein wirklich prachtvolles Exemplar von Rauhaardackel? Ihm ähnlich zu sehen hieß im Grunde nur, die Frisur unkonventionell zu tragen!

Insofern würde sie die paar Tage noch problemlos aushalten können, bis sie bei einem anderen Friseur einen Termin bekäme …
hb V2 06/17