Von Denise Fiedler

Bäume säumten den Weg, warfen ihre Schatten auf die unzähligen Steine. Manche Namen waren bereits so verwittert, dass man sie kaum noch lesen konnte.

Melanie stellte die Schubkarre ab, genoss den Wind, der ihre Stirn kühlte und den Duft von frisch gemähten Rasen mit sich brachte. Gedämpft drangen die Geräusche der Straßenarbeiten an ihr Ohr, vermochten aber die Ruhe dieses Ortes nicht stören.

Früher hatte sie Angst vor Friedhöfen, wenn sie an bleiche Knochen dachte, die unter der Erde lagen.

„Ein Friedhof bedeutet nicht Tod, sondern Leben“, hatte Elli ihr einmal gesagt. „Denk nur an all die Erinnerungen, die dort schlummern. So viel Erlebtes. Gute, aber auch schlechte Dinge. Die ganzen Namen, die dir sagen: Ich war hier, war Teil dieser Welt.“

Melanie atmete tief ein und wieder aus, dann nahm sie die Griffe ihrer Karre und ging weiter.

Die Muskeln in den Armen brannten bereits, aber zum Jammern war jetzt keine Zeit. Sie konzentrierte sich auf das Knirschen des Kieses unter den Füßen, das Singen einer Amsel. Nur noch wenige Schritte.

Zwei Steine, die Erde vor dem einen noch locker.

Sie kniete sich hin, strich über den Namen.

„Hallo, Elli. Ich habe dir etwas mitgebracht.“

 

*

 

Achte darauf, dass die Münzen nicht rausfallen.“ Gerti schob einen weiteren Pfennig zwischen den Stoff. Die Gummiknöpfe der Strumpfhalter waren abgefallen. Lizzy hatte vorgeschlagen, Steinchen zu suchen, doch ihre Schwester hatte Angst, dass diese den dünnen Stoff ruinierten. Gerti ging einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk. Zufrieden nickte sie. „So sollten sie halten.“

Lizzy drehte sich vorsichtig vor dem Spiegel, die Stirn in Falten gelegt.

„Bist du sicher?“ Die Nylonstrümpfe fühlten sich ungewohnt auf der Haut an, ganz anders als die kratzigen Strumpfhosen. Sie musste zugeben, dass ihre Beine jetzt aussahen wie die einer Dame. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Fritz mich gefragt hat.“

„Ich auch nicht.“ Gerti kniete wieder hinter Lizzy und zupfte die Naht gerade. „Pass auf, dass du dir keine Laufmasche ziehst, ich habe die Strümpfe gerade erst fertig machen lassen!“

„Ich werde schon nicht auf Bäume klettern.“ Im Spiegel streckte Lizzy ihrer Schwester die Zunge raus. „Ich bin ja kein Kind mehr!“

„Dann benimm dich auch nicht so“, tadelte Gerti und streckte ihrerseits die Zunge raus.

„Ganz brav werde ich mich neben Fritz auf die Picknickdecke setzen und Konversation betreiben. Ich werde eloquent und charmant sein.“ Lizzy zog den Rock hoch und schlüpfte in die Schuhe. Gerti hatte etwas Watte hineingestopft, trotzdem saßen sie noch locker.

„Und sei nicht wieder so patzig!“

Lizzy wollte gerade etwas erwidern, da riss sie die Augen auf. „Ist der Korb eigentlich schon gepackt?“

Mit offenem Mund starrte Gerti ihre Schwester an, dann sprang sie auf und gemeinsam rannten sie hinunter in die Küche.

 

*

 

Langsam aber sicher wurde das Loch größer.

Melanie schnaufte und setzte sich neben den Erdhaufen. Schweiß tropfte von ihrer Nasenspitze. Sie griff nach der Wasserflasche. Die kühle Flüssigkeit tat gut.

Das Gesicht zur Sonne gereckt, schloss sie die Augen. Irgendwo blühte Flieder. Sie atmete den Duft tief ein. Er erinnerte sie an die Kerzen, die ihre Tante so geliebt hatte.

Einmal hatte Elli ihr auf die Finger geschlagen, als sie ihr Feuerzeug gezückt hatte.

„Es gibt nur eine Art und Weise Kerzen zu entzünden.“

Kurz darauf zischte es und die kleine Flamme loderte an dem Streichholz.

Das war nur eine von Ellis Marotten. Eine andere war das Sammeln. Ihr Haus kam einem Museum gleich. Ein Sammelsurium von Figuren, Büchern und Kisten. Das Mobiliar zusammengestellt aus verschiedenen Epochen und Stilen.

Trödelhalle hatte es Melanies Mutter genannt. Eine Schatzkammer war es stets für Melanie. Was hatte sie gejauchzt, als sie einmal eine Kiste voller Kreisel gefunden hatte.

Für Elli war es ein Ort der Erinnerungen.

„Das Leben ist wie ein Tanz, irgendwann ist das Lied zu Ende und wir gehen von der Bühne. Wenn wir Glück haben, schwingt die Melodie in der Luft nach und erzählt von unserem Moment.“ Ihre Tante hatte immer derartige Weisheiten parat gehabt.

„Woher hast du nur immer deine Sprüche?“, fragte Melanie einmal.

Aus Glückskeksen, manchmal stehen die auch in den Zeitungen beim Friseur, war die Antwort, zusammen mit einem Augenzwinkern.

Melanie griff wieder nach dem Spaten. Es gab noch viel zu tun.

 

*

 

Lizzys Mundwinkel taten vom Lächeln schon weh. Sie hatte nicht gedacht, dass eine Autofahrt so anstrengend sein konnte. Fritz redete die ganze Zeit nur von sich. Nach ein paar Versuchen hatte sie aufgegeben, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Mit Mühe verhinderte sie, dass sich die Langeweile in ihrem Gesicht widerspiegelte.

Statt des Picknicks war Fritz eingefallen, dass er noch einen Termin in der Stadt hatte. Lizzy sollte in einem Café auf ihn warten.

Danach können wir ja ins Kino gehen, hatte er sie angelächelt.

Mittlerweile war er merklich stiller geworden, sah immer wieder auf die Uhr an seinem Handgelenk, trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad.

Werd nicht patzig, Gertis Worte hallten in ihren Gedanken nach, während sie sich auf die Zunge biss.

„Verdammt“, schimpfte Fritz. „Jetzt haben die hier auch diese Parkographen aufgestellt. Vater hat neulich schon getobt, als er das Bußgeld bezahlen musste!“

Er parkte den Wagen am Rand, stieg aus und ging zügigen Schrittes um das Fahrzeug herum, wühlte dabei in den Jackentaschen.

Lizzy hatte das Gefühl, er wollte die Tür aus den Angeln reißen. Er ergriff ihre Hand und zerrte sie aus dem Wagen.

„Es tut mir leid, Lizzy“, sagte er und sah wieder auf die Uhr. „Ich komme noch zu spät. Wenn du bitte den Parkographen fütterst …“ Dann war er auch schon weg.

Mit offenem Mund starrte sie ihm hinterher. Hatte er sie wirklich stehen lassen?

 

*

 

Eine Parkuhr im Wohnzimmer? Das ist selbst für dich übertrieben!“

Elli hatte gelacht.

„Ich finde sie hübsch.“

„Mir reichen schon die Parkscheinautomaten in der Stadt, da muss ich so ein Ding nicht noch zu Hause rumstehen haben.“

Aber für ihre Tante hatte diese Parkuhr eine besondere Bedeutung. Welche, erfuhr Melanie erst später.

Ach Elli, dachte Melanie. Sie war die Einzige, die ihre Tante so nannte. Ein Überbleibsel aus Kindheitstagen, als sie den Namen noch nicht aussprechen konnte, so war es erst Ellabett und dann schließlich Elli.

Ein Mann ging vorbei. Der Terrier an der Leine schnüffelte an der Schubkarre. Mit einem kurzen Blick kontrollierte Melanie, ob die Plane ihre Fracht noch bedeckte. Sie hatte keine Lust, irgendwelche Fragen zu beantworten.

Der Mann nickte ihr kurz zu und zog seinen Hund weiter.

 

*

 

Tränen standen in Lizzys Augen. Wut, Verzweiflung, Enttäuschung? Am liebsten wäre sie gegangen, aber Fritz würde sie suchen und schließlich daheim finden. Wie sollte sie ihren Eltern erklären, dass sie ihn einfach hatte stehen lassen? Sie spürte jetzt schon Gertis tadelnden Blick – einen Mann wie Fritz, wegen dir hat er jetzt auch noch ein Strafmandat!

Womöglich musste sie noch das Bußgeld bezahlen, weil er sie schließlich gebeten hatte, den Parkographen zu füttern.

Der Geldschlitz schien sie höhnisch auszulachen.

Sie war auf ein Picknick eingestellt und die einzigen Münzen, die sie bei sich trug, waren Pfennige und hinderten ihre Strümpfe daran, herunterzurutschen!

Vielleicht hatte Gerti in den Picknickkorb …?

Sie packte den Türgriff. Abgeschlossen!

Wütend stampfte sie auf, besann sich aber eines Besseren, als es verdächtig an den Haltern zog.

Da hörte sie hinter sich ein Klimpern.

Der junge Mann warf gerade einen Groschen in den Münzschlitz. Er war nicht so stattlich anzusehen wie Fritz, die Nase schien zu groß für das schmale Gesicht mit dem lausbübischen Lächeln.

„Wenn ich schon die Gebühren Ihres Begleiters zahle, hat er bestimmt nichts dagegen, wenn ich Sie auf einen Kaffee einlade.“

Lizzy wusste, dass sie ihn anstarrte, war aber zu perplex, um zu antworten.

„Verzeihen Sie, wie unhöflich von mir. Gestatten, Hans Winkler.“ Er zog einen imaginären Hut.

„E… Elisabeth Berger“, stammelte Lizzy.

„Wie wäre es mit dem Café dort drüben? Dann können Sie sehen, wenn Ihr Begleiter zurückkommt.“

Ehe sie sich versah, hatte er sie schon untergehakt. Nach ein paar Schritten blieb Lizzy stehen.

„Lieber nicht da, dort wollte Fritz mich treffen!“

Er überlegte. „Eine Straße weiter ist noch eins.“

Lizzy nickte und sie gingen weiter, als plötzlich ein kleiner Gegenstand herunterfiel. Hans bückte sich und zog eine Augenbraue hoch, während er die Münze betrachtete. Lizzy spürte, wie ihre Wangen glühten.

„Oh“, sagte er, „ ich glaube, dieser Knopf gehört Ihnen.“

 

*

 

Total erschöpft aber zufrieden lehnte sich Melanie an den Spaten, mit dem sie die Erde rund um den Stiel plattgeklopft hatte. Den alten Reifen, der als Fuß befestigt war, hatte sie kurzerhand mit eingegraben. Sie hoffte, es würde halten.

Beton wäre sicherlich besser gewesen, sie hatte aber keine Ahnung, wie sie den hier anrühren sollte. Außerdem wäre es auffälliger gewesen, so blieb ihre kleine Verschönerung vielleicht länger unentdeckt.

Die Parkuhr stand nun genau zwischen den beiden Gräbern.

„Jetzt bist du wieder bei deinem Hans, Elli.“

Sie packte die Sachen zusammen und ging zurück Richtung Parkplatz, blieb kurz stehen und machte noch einmal kehrt.

In einer von Ellis Kisten hatte sie einen alten Groschen gefunden. Sie zog ihn aus der Hosentasche und warf ihn in den Schlitz.

 

 

„Das Leben ist wie eine Parkuhr, jede Stunde hat ihren Preis. Die Frage ist, ob du bereust, ihn bezahlt zu haben.“

Elisabeth Winkler, geb. Berger †2017

 

 

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