Von Claudia Aristov

 

Der alte Holzventilator an der Decke brummte behaglich, während eine Klinge zärtlich über ein mit Seifenschaum bedecktes Kinn glitt. Mit geübten Bewegungen verwandelte Hugo seinen Kunden in einen Monsieur, wie er es zu nennen pflegte. Und wenn jemand diese Kunst verstand, so war es Hugo. Messieurs, das waren all jene, die eine gute Nassrasur noch zu schätzen wussten. Leider gehörten sie einer zunehmend aussterbenden Spezies an.

Unwillkürlich seufzte Hugo auf. Für einen Moment schienen seine Hände aus dem Takt zu geraten. Dies mochte an seinen trüben Gedanken liegen oder aber der Tatsache geschuldet sein, dass sich seit gut zehn Minuten zwei dunkel gekleidete Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite herumdrückten: der eine groß und massig, der andere etwas kleiner und hager von Gestalt. In ihren zu eng geratenen Anzügen erinnerten sie Hugo an Stan Laurel und Oliver Hardy.

Hugo presste die Lippen zusammen. Wie eine Seuche griffen in letzter Zeit Schutzgelderpressungen um sich. Das war wirklich der Gipfel der Geschmacklosigkeit, einfach nur vulgär. Hugo zog eine Augenbraue hoch und befreite Monsieur von letzten Seifenresten: Was waren das bloß für Zeiten. Missbilligend schüttelte er den Kopf.

Jetzt lehnte sich der Dicke an eine Parkuhr, klemmte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und entflammte ein Streichholz. Der andere schüttelte verneinend den Kopf und nickte dann in Hugos Richtung.

Kaum hatte Monsieur den Laden verlassen, als die Glocke erneut von Besuch kündete. Stan und Ollie traten ein. Mit einer schnellen Bewegung griff der Hagere in seine Jackettasche. Erschrocken tänzelte Hugo einen Schritt zurück. Sein Blick drückte höchste Besorgnis aus.

„Herr Hugo?! Kriminalpolizei!“, sagte Stan und hielt Hugo eine Dienstmarke unter die Nase. Hugo, der sich mit einem Spitzentüchlein den Schweiß von der Stirn tupfte, atmete auf.

„Ügooo, einfach nur Hugo, bitte. Betonung auf O, das H wird nicht mitgesprochen.“ Pikiert schnalzte Hugo mit der Zunge. „Ganz zu Ihren Diensten.“ Er deutete eine Verbeugung an.

Ungläubig nahm der hagere Polizist seine Sonnenbrille ab und musterte Hugo mit einem Blick, mit welchem sonst nur Insektenkundler ihre aufgespießten Lieblinge betrachten. „Ja, natürlich Hugo. Verzeihung.“ Stan warf seinem feixenden Kollegen einen flehenden Blick zu.

„Gehört Ihnen der Laden? Sie sind, äh, Friseur?“ Es sollte eigentlich eine Feststellung sein, doch das exzentrische Auftreten dieses kleinen, rundlichen Mannes brachte den Beamten zunehmend aus dem Konzept.

„Fri-sööör,“ Hugo zog das Wort wie einen gebrauchten Kaugummi angeekelt in die Länge. „Nun, ja, vielleicht für Ihresgleichen. Ich allerdings präferiere den Ausdruck Coiffeur. Er bringt den künstlerischen Aspekt meiner Arbeit weitaus besser zum Ausdruck. Ah, Fran-zö-siiiisch, diese élégance der Sprache.“ Hugos rosige Hände wirbelten wie kleine Propeller durch die Luft. Mit dem großen Kopf auf dem gedrungenen Körper, dem rosa Hemd mit ausladenden Rüschenärmeln und der grün-karierten Hose erinnerte er an einen putzsüchtigen Kobold. Die auffällig spitzen Ohren komplettierten das Bild.

Der Hagere räusperte sich und warf seinem glucksenden Kollegen einen wütenden Blick zu. „Wir suchen Franz Tueur, 1,80 groß, schlank, lange schwarze Haare, Vollbart, schwarze Augen, südländisches Aussehen. Er ist heute aus der Haftanstalt entwichen – und sehr gefährlich.“

„Ach, du meine Güte!“, jammerte Hugo. Er rang die zierlichen Hände, wirbelte auf dem Absatz seiner Stiefeletten herum, griff nach einem der zahlreichen Flacons und sprühte sich ein wenig Duftwasser ins Gesicht, während er sich mit der anderen Hand Luft zufächelte. „Moschus mit Lavendel als Herznote. Beruhigt ungemein. Mögen Sie auch?“

Noch bevor der schwere Duft die empfindlichen Beamtennasen zu attackieren vermochte, fuhr Hugo auch schon fort. „Was hat er denn getan? Schutzgelderpressung?“, fragte er und gönnte sich noch einen Stoß seiner Duftkomposition.

Ollie beschloss endlich, seinem Kollegen unter die Arme zu greifen. „Nein, Mord“, erwiderte er streng und bemühte sich um Wiederherstellung behördlicher Autorität.

„Oh, natürlich, dann ist ja alles gut“, murmelte Hugo und dankte seinem Schöpfer dafür, dass es sich nur um Mord und nicht um Erpressung handelte. „Ein richtig böser Junge, also?“

Das Doppelkinn des Dicken zitterte vor gewichtiger Wichtigkeit: „Na ja, wenn jemand zehn Leute umbringt, dann kann man schon eine gewisse Bösartigkeit unterstellen.“

Hugo ignorierte den sarkastischen Unterton und blickte verträumt an dem Beamten vorbei. „Ein Serienkiller in unserer kleinen Stadt. Wie aufregend.“

Von Hugo unbemerkt, vollführte Ollies Zeigefinger eine kleine rotierende Bewegung an der Schläfe. „Hören Sie, das ist kein Abenteuerroman. Sie sollten das ernst nehmen. Wir gehen davon aus, dass sich der Täter hier irgendwo versteckt hält und haben den ganzen Bezirk abgesperrt. Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ Der Polizist blickte den Friseur, Pardon, Coiffeur, scharf an.

„Nein, tut mir leid“, erwiderte Hugo und wirkte sehr bekümmert.

„Wo geht es dahin?“, hakte Ollie nach und musterte eine kleine Holztür, die an der seitlichen Wand eingelassen war und offenbar eine Verbindung zum Nachbargebäude darstellte.

„Ach, da geht‘s direkt zur Tierpräparation. Meinem Bruder gehörte der Laden. Gehen Sie ruhig hinein. Wissen Sie, seit dem Tod meines Bruders steht die Werkstatt leer. Die meisten Sachen sind schon verkauft. Egon war begnadet, hat nicht einfach nur ausgestopft, nicht gepfuscht wie die anderen.“

Angewidert deutete Hugo ein Spucken an und fuhr fort: „Egon hat präpariert! Er hat den Tieren mit der natürlichen Wiederherstellung ihrer Züge deren Würde wiedergegeben, den Toten neues, echtes Leben eingehaucht. Mein Bruder war ein unangenehmer Mensch, furchtbar, aber auf seinem Gebiet einfach virtuos. Folgen Sie mir bitte.“

„Danke. Nicht nötig. Wenn Ihnen etwas auffallen sollte, melden Sie sich bitte.“ Der Polizist reichte Hugo eine Karte und wandte sich hoffnungsvoll dem Ausgang zu. Dann schien ihm etwas einzufallen, und er drehte sich widerwillig um: „Ihr Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Haben Sie nicht die kleine Sophie vor dem Ertrinken gerettet, als sie auf der Flucht vor diesem Pädophilen war?“

„Oh ja, mon Dieu, dieser widerliche Benny Overleden. Seinen Namen werde ich nie vergessen. Ich hasse rohe Gewalt.“ Aufregung malte rosa Flecken in das Gesicht des Friseurs. „Gottseidank ist dem Kind nichts passiert.“

„Dank Ihrer Hilfe. Gut gemacht.“ Der Ermittler räusperte sich. „Wir wollen dann mal. Passen Sie gut auf sich auf.“ Zu seiner eigenen Überraschung deutete er eine leichte Verbeugung an, während er sich rückwärts dem Ausgang näherte.

„Das werde ich. Versprochen.“ Hugo lächelte fein und sperrte die Tür hinter den beiden Polizisten ab. Er ließ die Rollläden hinab und freute sich auf seinen Feierabend. Das leise Geräusch im hinteren Teil der Werkstatt hörte er nicht.

Der Coiffeur legte eine Schallplatte auf das Grammophon und schon bald durchflutete Tschaikowskys Zuckerfee die Räumlichkeiten. Hugo zog sich um und betrachtete zufrieden sein Spiegelbild. Aus einem silbernen Schmuckdöschen zog er einen Stift hervor und begann, sorgfältig seine Lippen nachzuziehen. Dann begab er sich in den hinteren Teil der Werkstatt.

Er beugte sich über ein auf dem Boden liegendes Bündel und zog behutsam ein weißes Leinentuch beiseite. Ein Schrei entrang sich qualvoll seiner Kehle. Betroffen blickte Hugo auf die reglose Gestalt zu seinen Füßen. Leere Augen starrten ihn aus einem angstverzerrten Gesicht an.

„Erstickt! Quel malheur. Wie konnte das nur passieren?! Sie haben versucht, sich zu befreien, nicht wahr?! Konnten Sie nicht auf mich warten? Jetzt ist Ihr Gesichtsausdruck zur Grimasse erstarrt. Aber keine Sorge. Das bekomme ich schon wieder hin. Schließlich bin ich bei meinem Bruder in die Lehre gegangen, wissen Sie.“

Hugo strich dem Toten liebevoll das lange Haar aus dem Gesicht. „Was für eine Sünde. So schön und so böse.“ Der Coiffeur zog ein blutrotes Schmollmündchen, während seine Finger sanft über die bleichen Lippen des Toten strichen. „Pardon, mon chéri, wir müssen improvisieren. Gleich morgen kümmere ich mich um Sie, mache aus Ihnen einen echten Monsieur. Versprochen!“ Hugo hauchte dem Toten einen Kuss auf die Stirn. „Aber jetzt wollen wir doch nicht unsere Gäste warten lassen, François. Ich darf Sie doch so nennen? Franz passt nicht zu Ihnen. Das ist so gewöhnlich.“

Und mit Kräften, die niemand diesem Männlein zugetraut hätte, schleppte Hugo die leblose Gestalt in den Keller. Behutsam drapierte er sie auf einem der bereitstehenden Sessel.

„Sehen Sie, wir sind nicht allein, François. Darf ich bekannt machen? Das sind Monsieur Egon und Monsieur Benny. Wunderschön, n‘est-ce pas? Einfach betörend!“

Verzückt klatschte er in die Hände und kicherte. Kerzen warfen lebendige Schatten, während er zum Takt der Musik tanzte. Ein kleiner Mann, dessen Füßchen in zierlichen Ballettschuhen steckten. Die weiße Strumpfhose, die in einen rosafarbenen Tutu mündete, knisterte erregt bei jedem Sprung, bei jeder Pirouette.

Hugo tanzte, lächelte selig und rief: „Hören Sie den Chor der Engel, hören Sie das Raunen der Stimmen Ihrer Opfer, denen nun Gerechtigkeit widerfahren ist? Ein Ballett zu Ehren der Toten, denn allein die Schönheit der Kunst vermag das Böse zu tilgen. Ich liebe Sie, Messieurs, die Sie nun geworden sind.“