Von Andreas Schmeling

„Fein, ich lege waagerecht das Wort STRUMPFHOSE hier hin. Das macht wie viele Punkte?“

Mechthild verdrehte die Augen. Tante Frieda hatte das Scrabble-Punktesystem auch nach all den Jahren nicht verstanden. Jedes Mal fragte die greise Dame nach der Punktezahl. Mechthild rechnete das Ergebnis für sie zusammen und notierte es auf einem Zettel.

 

Seit nunmehr 25 Jahren trafen sich Mechthild, Tante Frieda, Paul und Gertrud zur mittwöchlichen Scrabble-Runde. Selten gingen die Nachmittage ohne Streit zu Ende, aber die unklaren Regeln und die unzähligen Wörter machten es einem auch schwer! Aber eins war allen klar: Wenn man sich nicht an die Spielregeln hielt, machte es keinen Spaß.

Nun gut, Tante Frieda war das vielleicht nicht ganz so klar wie den anderen Teilnehmern der Runde, aber sie bemühte sich immerhin – meistens jedenfalls.

 

Paul war an der Reihe und musste nicht lange überlegen. Als geübter Scrabblespieler nutzte er geschickt die Mehrfachpunktesymbole und legte STREICHOLZ senkrecht nach unten, in dem er das erste S aus STRUMPFHOSE nutzte. Jetzt war Gertrud an der Reihe. Die stille und schüchterne Frau überlegte, wie sie P, K und U am gewinnbringendsten einsetzen konnte. Schon bald entdeckte sie, dass sie das Wort PARKUHR senkrecht nach unten legen konnte, in dem sie das R aus Strumpfhose nutzte. Gertrud klatschte in die Hände und kicherte leise über ihren hohen Punktgewinn.

 

Mechthild war als nächstes an der Reihe. Als ehemalige Elevin, mit dem Alter allerdings zunehmend fülliger geworden, entdeckte sie natürlich bald die Möglichkeit, BALLETT zu legen. Schön, dass ihre Buchstaben durch das L aus STREICHHOLZ ergänzt wurden.

 

Nun war die erste Runde beendet und alle Mitstreiter wussten, was jetzt passierte: Tante Frieda musste überlegen. Meist sehr lange überlegen – nervtötend lang. Und trotz ihrer intensiven Denkarbeit kamen dabei meistens Begriffe heraus, die zu langanhaltenden Diskussionen und Streitereien führten. Paul und Mechthild setzten sich auf ihren Stühlen zurecht und tranken Tee. Dies war die beste Vorbereitung auf die nun kommende Wartephase und die sich daran anschließende oft heftige Diskussion. Paul starrte verträumt an die stuckverzierte Decke. Warum tue ich mir das eigentlich immer wieder an?, überlegte er. Tat er es für die alten Damen oder weil es inzwischen einfach zu seinem Leben dazugehörte? Ein Mittwochnachmittag ohne Scrabble war schließlich denkbar – aber sinnlos.

 

Die Worte „Oh wie schön! Das passt.“ schreckten Paul aus seinen tagträumerischen Gedanken. Tatsächlich! Nach nicht einmal fünf Minuten Bedenkzeit legte Tante Frieda ihre Buchstabenplättchen aus. Das erste H in STREICHHOLZ nutzend, legte sie waagerecht einen Buchstaben nach dem anderen aus. Mit zittrigen Fingern und einem Siegerlächeln im Gesicht schaute sie in die Runde. Die Mitspieler starrten auf das Wort SCHWANZHUND.

 

„Was soll das denn schon wieder sein?“, fragte Mechthild im erbosten Ton, „das Wort gibt es doch gar nicht.“

„Doch“, entgegnete Tante Frieda „da liegt es, es passt und damit gibt es das Wort! Wie viele Punkte macht das?“

„Nein, Nein, Nein. Das zählt nicht!“

„Doch, Doch, Doch!“

„Nein, Nein, Nein!“

„Doch, Doch, Doch!“

Leider war der solche Streitfragen klärende Duden vor gut 10 Jahre in einem Handgemenge zerrissen worden. Der heftige Konflikt war damals um das Wort ELEFANTENTURNSCHUH entbrannt. Tante Frieda war der Meinung, dass dieser Begriff sowohl als Bekleidungsstück im Tierreich als auch als Modellbezeichnung für einen Kleinstwagen, Teil der deutschen Sprache war. Ein Wort, dass mit zwei Bedeutungen vorkam, musste einfach bei Scrabble gelegt werden dürfen. Paul, der dies unvorsichtigerweise bestritt, bekam es mit dem Duden als Waffe zu tun. Tante Frieda knallte ihm das dicke Buch an den Kopf und verursachte eine Platzwunde. Voller Wut zerriss sie anschließend das blutgetränkte Lexikon. Seitdem waren große, schwere oder spitze Gegenstände am Scrabble-Tisch verboten. Aber natürlich konnte und wollte die Scrabble-Runde nicht auf Tante Frieda verzichten: Nach drei Wochen Pause war Pauls Platzwunde soweit verheilt und Tante Frieda schmollte nicht mehr, weil die anderen Mitspieler ihr das wunderbar passende Wort ELEFANTENTURNSCHUH verweigerten.

 

Mechthild und Paul befürchteten schon, dass nun ein ähnlicher Kampf um das Wort SCHWANZHUND entbrennen würde. Und tatsächlich liefen Mechthild und Tante Frieda schon gefährlich rot an. Der befürchtete Streit stand unmittelbar bevor. Unwillkürlich zog Paul seinen Kopf ein. Erstaunlicherweise ergriff aber die sonst so stille Gertrud das Wort: „Tante Frieda darf von mir aus SCHWANZHUND legen, aber nur, wenn ich das hier machen darf.“ Bei diesen Worten beugte sie sich über den Tisch, und reihte ihre Buchstabenplättchen auf. Senkrecht legte sie das Wort FRISSEUR und nutzte dabei das F in STRUMPFHOSE und das U in SCHWANZHUND. „Ich spreche das immer mit kurzem I aus!“, triumphierte Gertrud.

 

Paul brach innerlich zusammen. Er konnte nur noch „Aber, aber…“ stammeln. Mechthild griff wutentbrannt nach dem Spielbrett und riss es vom Tisch. Im hohen Bogen flogen die kleinen Holzplättchen durch die Luft und landeten überall im Zimmer verstreut.

„RAUS“, brüllte Mechthild, „ich will Euch alle nie wiedersehen. Verlasst auf der Stelle mein Haus!“ Sie sprang vom Stuhl hoch und zeigte mit dem Finger in Richtung Tür.

Tante Frieda, Gertrud und Paul zogen rasch ihre Jacken an und verschwanden schnell nach draußen, während die vor Aufregung immer noch bebende Mechthild mit zitternden Finger den Ausgang markierte.

 

„Bis nächsten Mittwoch“, verabschiedete sich Paul von den beiden Damen vor der Tür. „Ich freue mich schon auf Kaffee, Kuchen und eine entspannte Partie Scrabble.“