Von Sabine Esser

Die zwei Jugendlichen, die in betrunkenem Zustand mit einem gestohlenen PKW eine Parkuhr umgefahren hatten, abgeurteilt – je vier Wochen Arrest.

Keine Pause. Der nächste Fall wird aufgerufen. Thomas trocknet sich die schweißnasse Stirn, der Kragen der Richterrobe wirkt auf einmal eng. Kreislaufprobleme. Mit Anfang Vierzig müsste er topfit sein.

 

Aber schon wieder hatte ihm seine Lebensgefährtin mit den Worten „Tom, du wirst zu fett, geh‘ endlich ins Fitness-Studio“ ein ordentliches Abendessen verweigert, dabei hatte er – wie so oft – vergeblich angeboten, selbst zu kochen. Stattdessen gab es zum Quinoa-Salat vom Feinkosthändler einen Vortrag über gesunde Ernährung und Sport. Rotwein oder Bier zu Rindsrouladen mit Rotkohl und viel Sauce wären ihm lieber gewesen. Er hatte nachgegeben – wie immer.

 

Und morgens dieses lausige Müsli und der entschlackende Kräutertee!

Vor allem aber: Seit Ewigkeiten kein Kuscheln mehr mit Frühstück im Bett. Es gab Zeiten, da schleckten sie sich die Erdbeerkonfitüre vom Körper, tranken Sekt dazu und lachten über die Krümel. Jetzt hat sie nur noch Termine und wird immer dünner!

 

Ein Schluck Wasser. Das ist erlaubt. Leichter Duft steigt ihm in die Nase: Brötchen! Brötchen mit Belag!

Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Rührei mit Schnittlauch. Ein einziges weich gekochtes Ei! Gut gereifter Käse, luftgetrockneter Schinken. Oder gar ein zwiebelduftendes Mettbrötchen! Und frisch gebrühter Kaffee!

 

Thomas schluckt hilflos: Halluzinationen.

 

Er blättert kurz in der Akte: Sonja Müller, 14 Jahre, Gymnasium, Kaufhausdiebstahl. Begleitperson: Mutter, Frau Eva Müller, 34 Jahre, alleinerziehend, Hartz IV, zusätzlich Geringverdienerin auf 400-Euro-Basis. Den anzeigenden Kaufhausdetektiv, Harald Kläffer, kennt er, ein widerlicher Wichtigtuer.

 

Der flätzt sich breitbeinig auf seinem Stuhl und kaut auf einem Streichholz.

„Bitte unterlassen Sie das. Auch Sie unterliegen der Würde des Gerichtes“, weist  Thomas ihn gereizt zurecht.

Das Mädchen ist sichtlich verschüchtert. Er fragt so freundlich wie möglich:

„Sonja Müller, ich darf doch „du“ sagen? Du bist angeklagt, eine sehr teure Strumpfhose gestohlen zu haben. Wie ist es denn dazu gekommen?“

„Meine Tochter stiehlt nicht! So habe ich sie nicht erzogen! Ich kann Ihnen alles erklären!“, empört sich ihre Mutter.

 

Der Duft von Brötchen und frischem Kaffee ist real!

„Bitte, Frau Müller, lassen Sie Ihre Tochter erzählen“, unterbricht er sie ungehalten.

„Also Sonja, warum bist Du heute hier? Erzähl‘ von Anfang an.“

 

Die druckst mit hochrotem Kopf herum: „Ich, ich weiß nicht“ und beginnt zu weinen.

„So geht das nicht! Sie sehen doch, dass das Kind total verunsichert ist“, schimpft ihre Mutter. „Bitte, ich war doch selbst dabei!“ Tröstend nimmt sie ihre Tochter in beide Arme und flüstert: „Herzchen, keine Angst. Mama ist doch da.“ Das Mädchen schmiegt sich an sie.

 

Überrascht blättert Thomas in dem Vorgang und befragt leise die Protokollantin, warum dieser Fall überhaupt vor Gericht ist. Die hebt ratlos die Schultern.

„Zu Protokoll: Einvernahme des anzeigenden Harald Kläffer.“

 

Noch ein Schluck Wasser. „Herr Kläffer, mir liegt Ihre polizeiliche Aussage vor. Sie geben nicht an, dass die Mutter der Beklagten bei der Festnahme anwesend war. Auch scheint sie bei der polizeilichen Vernehmung nicht befragt worden zu sein. Ihnen war aber schon bewusst, dass es sich um eine Minderjährige handelt? Und nehmen Sie gefälligst endlich das Streichholz aus dem Mund! Ich verwarne Sie zum letzten Mal!“

 

„Woher sollte ich denn wissen, dass die Alte dabei war! Die Kiddies sind doch alle gleich! Die da stand jedenfalls mit der Packung in der Nähe der Kasse und wartete auf ihre Komplizin. Wir wissen doch alle, wie das läuft.“ Provozierend pult er mit dem Streichholz zwischen seinen Zähnen.

„Es reicht! Bitte schreiben Sie“, wendet Thomas sich an die Protokollantin: „Wegen Verstoß nach § 178, Abs 1 GVG „Ungebührlichkeit“ wird gegen Herrn Harald Kläffer ein Ordnungsgeld in Höhe von EUR 200,–, ersatzweise zwei Tage Ordnungshaft, verhängt.“

 

Kalter Schweiß auf der Stirn. Noch ein Glas Wasser. Das macht nicht satt, täuscht aber den Magen.

„Traubenzucker“, flüstert die Protokollantin.

„Scht“. Thomas will nicht während des Prozesses auf etwas herumlutschen, das entspricht nicht der Würde des Gerichtes.

 

Etwas atemlos fährt er fort: „Dann befrage ich jetzt Sie, Frau Eva Müller, als Zeugin. Bitte so ins Protokoll. Sie arbeiten als…?“

 

Zum ersten Mal nimmt Thomas sie wirklich wahr: Halblange, blonde, zusammengebundene Haare, braune Augen, Wangengrübchen, ziemlich mollig.

„In Teilzeit als Servicekraft im „Tortentraum“, gar nicht weit von hier.“

Die Konditorei kennt er und macht jeden Tag einen großen Bogen darum.

Peinlicherweise knurrt gerade jetzt sein Magen lautstark.

„Wie war das nun?“, versucht er, das Geräusch zu übertönen.

 

Anstatt zu antworten, kramt Sonjas Mutter in ihrer Tasche. „Ich hab‘ für alle Fälle zwei belegte Brötchen dabei. Das mit Salami kann ich Ihnen abgeben, das mit Käse ist für Sonja. Wir essen sonst immer pünktlich nach der Schule. Nur heute … Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Ein Gerichtsbeamter hindert Eva daran, nach vorn zu laufen und dem Richter das Brötchen zu reichen.

 

Der Duft ist unerträglich. Heimlich trocknet er seine schweißnassen Hände an der Robe. Noch über eine Stunde bis zur Mittagspause. Das Wasserglas ist schon wieder leer. Wie soll er diesen Prozess durchstehen? Er reißt sich zusammen, wie immer.

 

„Also, Frau Müller, warum wird Ihre Tochter des Diebstahles beschuldigt?“

 

„Herr Richter, es ist alles falsch, was dieser Herr da behauptet. Ich habe Sonja von der Schule abgeholt und danach haben wir zu Mittag gegessen. Ich koche meistens vor, wissen Sie. Den Tag hatten wir Tomatensuppe mit Mettklößchen und Croutons, Altbackenes bekomme ich billiger durch den Job.“

 

Tomatensuppe! Mettklößchen! Thomas sieht sich selbst auf dem niedrigen Hocker neben seiner Mutter in der Küche stehen. Riecht den süßscharfen Duft der gedünsteten Zwiebeln, den Hauch von Knoblauch, fühlt den sämigen Saft der Dosentomaten an seinen Fingern, das Platzen der großen Früchte, wenn er sie mit seinen kleinen Händen zerquetschen durfte. Nach dem Würzen ließ Mama ihn den Probierfinger abschlecken. Gemeinsam kneteten sie das Hackfleisch. Es glitschte so schön, fast so wie die dicken Tomaten. Seine Hauptaufgabe aber war, winzig kleine Bällchen zu formen und in der roten, duftenden Suppe zu versenken.

 

Ihm ist schwindelig. Zitterig trinkt er das nächste Glas Wasser.

 

„Bitte, Frau Müller, kommen Sie zum Wesentlichen“. Er kramt verstohlen unter der Robe in seinen Taschen. Nichts. Absolut nichts.

 

„Sonja hatte an dem Tag um 18 Uhr eine Schulaufführung. Sie tanzt im Ballett, müssen Sie wissen. Ich hatte ihr sogar einen Haarschnitt beim Friseur spendiert. Um 16 Uhr waren wir wieder zuhause. Beim Umziehen habe ich gesehen, dass Sonjas Strumpfhose eine riesige Laufmasche hat. Das mag bei Pop-Sängerinnen ok sein, aber nicht bei meiner Tochter!“

 

Thomas wankt leicht. Alles, aber auch alles wurde ihm genommen, selbst der letzte, heimliche Schokoriegel! Und wofür? Quinoa-Salat vom Feinkosthändler mit Dauervorwürfen einer dürren Schicki-Micki-Karrierefrau!

 

Weder der Redestrom noch der Duft dieser Frau sind zum Aushalten. Er riecht den süßen Dampf eines gerade aus dem Backofen geholten Bisquitbodens, dazu die leichte Säure von Zitronen mit Vanille und viel Sahne. Zitronenrolle. Mit Puderzucker bestäubt. Gerade will er den Probierfinger in die cremige Masse tauchen, da rüttelt ihn jemand.

 

„Alles ok?“, fragt die Protokollantin, nachdem sie ihm etwas Saft eingeflößt hat. Thomas murmelt benommen: „Zitronenrolle.“

 

Der Prozess wurde nur kurz unterbrochen. Thomas kann ihn sogar selbst fortführen.

 

„Wo waren wir? Ah ja, die Laufmasche.“

 

Eva konzentriert sich auf das geforderte Wesentliche: „Finden Sie mal eine grüne Strumpfhose in Sonjas Größe! Immerhin sollte sie den Tannenbaum spielen! Jedenfalls haben wir getrennt gesucht und verabredet, uns an der Kasse zu treffen. Da war aber dieser Herr, der Sonja verhaftet hat.“

Wenn Blicke töten könnten, fiele der Detektiv jetzt vom Stuhl.

„Sie hat wirklich nur auf mich gewartet, hatte ja auch gar kein Geld dabei. Ich habe auf ihn eingeredet, es sei meine Tochter und natürlich würden wir bezahlen. Er hat mir aber nicht zugehört und die Polizei gerufen. Wahrscheinlich kriegt er Provision!“

 

Freispruch. Was sonst?, denkt Thomas und so lautet auch sein Urteil.

 

Einige Wochen zögert er, zieht dann aber immer engere Kreise um die Konditorei. Endlich traut er sich. Eva erkennt ihn sofort, lächelt und fragt freundlich: „Zitronenrolle?“ Er nickt. Woher weiß sie …?

 

Seitdem frühstückt er regelmäßig im „Tortentraum“, und demnächst wird er Eva zu Sonjas nächstem Auftritt begleiten.

 

Version 3