Von David Robertson

Er hatte es schon wieder getan. Schnell drückte er die Nachricht vom Bildschirm weg, die er ihr vor zwei Wochen gemailt hatte, ohne eine Rückantwort bekommen zu haben.

Aber er wollte wissen, ob er Ihr etwas so formuliert hatte, dass Sie es Ihm übelnehmen könnte.

 

Eigentlich war er darüber hinweg. Von diesem Sekunde um Sekunde an Sie denken müssen. Damals hatte er sich schon Sorgen  um seinen Geisteszustand gemacht, bis er, eher aus Jux und Tollerei im Lexikon über den Begriff der Limerenz gestolpert war und erleichtert feststellen durfte, dass dieser Psychosen gleiche Zustand doch keine geistiger Defekt war.

Er fragte sich nur immer wieder, wieso gerade Sie?

Wieso gerade jetzt. Die Situation zu Hause war doch schon seit Jahren die Gleiche. Die spontan auftretenden Krisen mit seiner Frau bei denen Sie  so hilflos aneinander gerieten und gegenseitig tief verletzten. Wo er sich jedes Mal dachte, dass eine Trennung jetzt die einzige Lösung sei. Aber nach einer zornig gerauchten Zigarette oder dem Dahinschwelgen in seiner melancholisch angehauchten Musik schaffte er es dann immer wieder irgendwie in einem der Kinderzimmer einzuschlafen. Und am nächsten Tag war es zwar eine Quälerei sich aus dem Bett zu kämpfen und dem Alltag stellen zu müssen. Aber die Gleichförmigkeit eines so oft wiederholten Tagesablaufes hatte wiederum eine beruhigende Wirkung auf seinen zerrütteten Seelenzustand, so dass sich ein einigermaßen neutrales Nebeneinander für Sie und Ihn, und stellenweise sogar ein Miteinander einstellte. Für lange Strecken waren die Kinder der einzige Kitt gewesen, der dieses Gefüge noch zusammenhielt.

Es musste sich langsam eingeschlichen haben. Waren es diese vielen persönlichen Eigenheiten, die er nach und nach an Ihr entdeckte und erst merkte, wie entzückend er diese fand, wenn sie diese Eigenheiten lebte? Sie war ein stiller Typ und in einer Menschengruppe hörte man Sie selten einen Kommentar in die Runde einwerfen. Aber wenn man das Glück hatte, mit Ihr alleine dahin zu plaudern, entwickelten sich oft anregende Gespräche mit unerwarteten Wendungen. Gespräche, bei denen er sämtliche Nuancen des Gesagten ganz und gar verstand und er manchmal den Eindruck gewann, als würde man gemeinsam die wahre Wirklichkeit entdecken. Dann glitt er hinein in diesen Zustand, wo Gefühl und Verstand zu streiten aufhörten. In diesen Zustand, so stellte er sich vor,  könnte die Menschheit auf die Idee gekommen sein, dass dem Dasein einen göttlicher Funke innewohnt.

Es waren diese nicht geplant reproduzierbaren Geschenkmomente, die er vom Radfahren her kannte. Wie er manchmal nach einem ausgelassenen Abend mit seinem Fahrrad über die hügelige Landschaft in den neuen Tag eintauchte. Die Luft sich kühl und feucht auf der Haut anfühlte und frisch und herb nach den abgemähten Wiesen roch. Wo ein kleiner Fetzen einer Nebelschwade im Tal soeben dabei war sich aufzulösen. Da überkam Ihn gelegentlich ein ähnliches Gefühl. Der ungetrübte Genuss am Dasein. Der Genuss an der Farbe Lila der Kornblumen.

 

Da waren diese meist viel zu großen Taschen die sie immer mit sich herumschleppte, im Gegensatz zu den perfekt gewählten und perfekt  sitzenden Kleidchen. Kleidchen mit lustigen Motiven. Motiven die man erst beim zweiten Hinschauen entdeckte und einem ein unausweichliches Grinsen aufs Gesicht zwang, wenn man die bunten Tupfer als einen Dompfaff oder einen farbenfrohen Stieglitz identifizieren konnte.

Sie war zweifelsohne ein wunderhübsches Mädchen. Nicht die Sorte von glatt hübsch, wie Sie in diesen schrecklichen Teenagerfilmen aus den USA zu sehen waren. Auf einem Foto war diese Art von Schönheit unerklärlicher Weise kaum darstellbar: war es der Faktor Zeit der auf einem Foto fehlte? Die kurzen Liedschläge und das kaum wahrnehmbare Spiel der  Lippen die Ihr, wie das leise Hintergrundkratzen auf einer Vinylscheibe der Musik diesen unterschwelligen aber unverwechselbaren Charme verliehen?

Aber eine unverschämt gut aussehende Frau war es doch auch, mit der er dieses andere, so oft unglückliche Leben hatte. Dieser Umstand stimmte Ihn deshalb manchmal sogar skeptisch gegenüber Ihrer starken physischen Attraktivität.

 

Erst als Sie plötzlich weg war, spürte er, wie wichtig Sie für Ihn geworden war. Er konnte nicht verstehen, wie Sie so ohne Aussicht auf ein Wiedersehen verschwand.

Plötzlich hatte er heftige Flashbacks. So heftig und unerwartet wie bei traumatisierten Unfallopfern. Da blitzte der Moment auf, als Sie mit einer kleinen Gruppe von anderen Kollegen ein wenig verspätet mit dem Fahrrad angehetzt kam. Ihre schwarzen Haare vom Wind leicht zerzaust. Die Wangen auf einmal ganz rot in dem meist blass geschminkten Gesicht. Aber nicht meckernd oder sich beschwerend, sondern einfach nur nach Atem ringend. Später an diesem Tag hatte Sie Ihm erzählt, wie sehr Sie sich schon immer einen Hund gewünscht hatte, aber Ihre Eltern es immer ablehnten. Ob Sie Ihren Eltern deswegen böse Sei, wollte er wissen. Aber sie antwortete Ihm nur mit einem dieser Lächeln welches ausdrücken sollte, was solls?

 

Oder plötzlich fand er sich in Gedanken wieder mit Ihr auf dem Weg zum Turm. Spürte wie die heiße Sommerluft durchs Autofenster hereindrang. Hörte wie Sie Ihm bei lauter Musik über das Zephyr-Team erzählte. Erstaunlicherweise wusste Sie mehr über die Anfänge seiner wiedergefundenen Leidenschaft, das Skateboarden als er. Obwohl Sie deutlich jünger war, schien Sie in manchen Dingen weiser zu sein als er.

Er liebte Ihre Abneigung gegen Versuche, Sie manipulieren zu wollen. Er liebte Ihre absolute Unbestechlichkeit. Ihre Selbstständigkeit, die Sie in Ihren vielen Reisen unter Beweis gestellt hatte. Mit Ihren Reisen bewies Sie das gleiche Interesse an der Welt, diese Lust das volle Leben erleben zu wollen wie er sie so oft verspürte.

In Ihrer Nähe fühlte er diese ungezwungene Leichtigkeit. Bei Ihr wusste er, dass er keine krampfhafte Konversation in Gang halten musste. Irgendwann hatte sie ihm einmal erzählt, dass sie es mochte, wenn man gemeinsam schweigen konnte.

 

Am schlimmsten traf es Ihn, wenn ein Mädchen in sein Blickfeld trat, das Ihn an Sie erinnerte. Da beschleunigte sich sein Herzschlag so abrupt, dass er das Pochen im Hals spürte und es Ihm schwer machte, seinen Atem ruhig zu halten. Er musste den Impuls unterdrücken, Ihren Namen über die Köpfe der Menschen hinweg durch die Menge zu rufen. Und wie groß jedes Mal die Enttäuschung, weil das Mädchen da vorne von hinten zwar die gleiche Frisur trug, er aber sofort an Ihrem Gang erkannte, dass Sie es nicht sein konnte. Wie erschöpfend traurig der Moment nach dieser unverhofften Aufregung!

 

Und dann fand er die Telefonliste, die ein Kollege für den Radlausflug zusammenstellt hatte.

Ginge er zu weit wenn er den Kontakt wieder aufnahm? Würde sie sich von Ihm verfolgt fühlen? Warum sonst war sie damals einfach weggegangen, ohne ihm ihre Telefonnummer zukommen zu lassen? Was stellte er sich denn eigentlich vor?

Dieser Altersunterschied. Konnte es irgendeine gemeinsame Zukunft geben? Er wusste dass Sie es nie ertragen könnte, dass er seine Frau für Sie verlassen hätte. Die Kinder, die er so sehr liebte. Die Kinder, die Ihn so sensibel werden ließen seit es Sie gab.

Es wurde ihm fast übel, als er Ihr eine kurze Nachricht per SMS mit seinen ungeübten Fingern eintippte. Als er die Nachricht abgesendet hatte, war er sich nicht mehr sicher, ob er das Richtige getan hatte.

 

Als das ungewohnte Geräusch einer hereinkommenden Nachricht auf seinem Handy ertönte, musste er  sich förmlich dazu zwingen, die SMS zu öffnen.

 

Er würde Sie tatsächlich wieder sehen!