Von Gerhard Fritsch

Vor langer, langer Zeit, begab sich Herzog Moskott mit seinen Knechten zur Jagd in den Blauwald an den Abhängen des Miron-Gebirges. Zwei Tage hindurch wüteten sie im Wald und jagten alles Getier, das ihre Wege kreuzte. Der Kummer unter den Waldtieren war groß, denn Moskott wollte die größten und stärksten von ihnen zur Strecke bringen. Viele der versprengten Tiere wussten sich nicht anders zu helfen, als in den hintersten Winkel des Gebirges zu fliehen, wo sie im Garten Sterzins, des Zwergen, Zuflucht zu finden hofften.

 

Sterzin aber war nicht zu Hause und hatte den Garten mit einem Zauberspruch abgeschlossen, der ihn unsichtbar machte. So geschah es, dass Moskott dem in die Enge getriebenen Einhorn seinen Speer in die Schulter bohrte. Als er aber erkannte, welches Wesen er zu Fall gebracht hatte, befahl er seinen Knechten, es nicht zu töten, sondern in Stricke zu legen und auf seine Burg zu bringen, denn er hatte gehört, dass Einhörner Wundertaten bewirken können. So sollten ihre Tränen steinerne Figuren zum Leben erwecken und das frisch zubereitete Herz Unsterblichkeit verleihen. Ein Haar von seinem Schweif aber sollte die Liebe der edelsten und schönsten Prinzessin im ganzen Land für den Überbringer entfachen.

So brachten sie das Einhorn auf Moskotts Burg und sperrten es in einen Stall ohne Fenster, damit kein Sonnenstrahl hineinfiel, der ihm magische Kräfte hätte verleihen können.

Moskott riss gleich ein paar Haare aus dem Schweif und ließ diese von der Hexe Zerxixa, seiner Mutter, in einen weißen Schal einweben, so dass man sie darin vom Leinen nicht unterscheiden konnte. Sodann begab er sich nach Sanharum zu König Karsomeid, dessen Tochter als die Schönste der ganzen Lande galt. Als man der Prinzessin den Besuch meldete, wollte sie sich in ihrem Turmzimmer einschließen, denn sie empfand Abscheu vor dem finster dreinblickenden, narbengesichtigen Moskott. Ihr Vater aber drängte sie, dem Gast wenigstens die Ehre einer kurzen Aufwartung zu gewähren. Als Moskott ihr nun sein Gastgeschenk überreichte, veränderten sich Kuneldas Gefühle und sie sah Moskott freundlich an und genoss seine Gegenwart. So kam es, dass Moskott um ihre Hand anhielt und die Prinzessin sich sogleich hocherfreut zeigte. Der König war erstaunt, aber er wollte nur das Beste für seine Tochter und willigte in die Hochzeit ein. Sogleich begannen sie, das Fest zu planen, das schon zwei Wochen später gefeiert werden sollte. Moskott indes begab sich zurück zu seiner Burg und wähnte sich bereits in dem Gedanken, bald auch König von Sanharum zu sein.

 

In der Zwischenzeit war Sterzin zurückgekehrt. Von allen Seiten drängten Tiere des Waldes zu ihm und erzählten, was sich zugetragen hatte. Sterzin brach in Tränen aus, als auch sein Rabe, der Moskott unbemerkt gefolgt war, vom Leid des Einhorns berichtete: es lebte zwar, war aber schwer verwundet und in einem finsteren Verlies eingesperrt. Voller Sorge rief er sogleich den Rat der Waldbewohner ein. Doch so sehr sie alle darin übereinstimmten, das Einhorn zu befreien, so wusste doch niemand um schnelle Abhilfe, denn Zerxixa wohnte im höchsten Turm der Burg und erspähte von dort aus jede Gefahr, die sich ihr und ihrem missratenen Sohn näherte. Da klopfte es plötzlich an der Türe und ein junger Ritter von edlem Aussehen betrat den Raum. Er stellte sich als Prinz Saban von jenseits des Miron-Gebirges vor und bat die Gemeinschaft höflich um Auskunft nach dem Weg zur Königsburg von Sanharum, denn sein Herz drängte ihn, die Tochter des Königs zu sehen, von der die Kunde umging, sie sei die schönste unter allen Prinzessinnen, die die Erde bewohnen.

„Sehen wirst du sie wohl können“, erwiderte da Sterzin, „aber nur als Braut des finsteren Moskott, der sich mit dem Zauber einer Hexe ihre Hand erschlichen hat.“

Enttäuscht sank Saban auf einen Stuhl nieder und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Doch da kam der Fee Beorela der rettende Gedanke und sie sprach zu Saban: „Geh’ zu der Prinzessin und tausche den Kristall, den ich dir geben werde, gegen den Schal, den sie von Moskott bekommen hat. Sage ihr, sie soll sich zur Burg Moskotts in den finstersten Stall begeben, den Kristall mit ausgestreckten Armen vor sich halten und den Vers aufsagen, den ich dir ins Ohr flüstere. Sage ihr auch, dass sie dann das edelste aller magischen Geschöpfe der Tierwelt erblicken wird, das es zum Dank mit dem Kostbarsten belohnen wird, das sie sich wünschen kann. Und auch dir, Saban, wird dadurch dein größter Wunsch in Erfüllung gehen. Doch sei auf der Hut: der Spruch darf nur einmal in Gegenwart des Kristalls gesprochen werden, danach verliert er seine Wirkung.“

Sofort machte sich Saban auf den Weg zur Königsburg, den Kristall der Fee in einem Lederbeutel verborgen, und den Spruch in Gedanken immer wieder vor sich hersagend, um ihn nicht zu vergessen.

Als Saban früh am nächsten Tag das Königsschloss erreichte, besprach er sein Anliegen mit dem König und dessen Tochter. In Saban entbrannte glühende Leidenschaft ob der blendenden Schönheit der Prinzessin, auch wenn diese sich wenig angetan zeigte von dem Werben des Prinzen und einem Tausch ihres Schals gegen den Kristall nicht zustimmen wollte. Dem König selbst war es schließlich zu verdanken, dass sie sich darauf einließ, denn er sagte zu ihr: „Tu doch, was er dir vorschlägt, mein Kind. Wenn stimmt, was er sagt, wirst du die Wahrheit erfahren. Was könntest du dir mehr wünschen, als Gewissheit zu haben? Saban aber darf das Schloss bis dahin nicht verlassen, denn hat er gelogen, wird er für seinen Frevel bezahlen.“

Saban willigte etwas verdrossen ein, denn er wollte am liebsten nicht mehr von der Seite der Prinzessin weichen.

Kunelda machte sich auf den Weg zu Moskotts Burg, die drohend von ihrer Bergspitze herabblickte. Von Weitem fragte sie sich, wie ein so netter Mann wie Moskott auf einer solch hässlichen Burg wohnen konnte, doch als sie durch das Tor einritt, waren alle Bedenken wieder verflogen. Zerxixa sah Kunelda zwar von ihrem Turm aus kommen, aber sie erkannte ihre Absicht nicht, weil diese vom Zauber, den der Schal über sie gelegt hatte, verdeckt war.

Moskott lachte zufrieden, als er hörte, dass Kunelda ihr künftiges Heim besichtigen wollte, blieb aber in der Trinkstube sitzen, wo bei reichlich Wein und Bier der Jagderfolg der letzten Tage begossen wurde. So ließ Kunelda sich von einem Diener zu den Stallungen führen, in denen alle Pferde in engen, dunklen Nischen standen. Im hintersten Winkel stieß sie auf eine Kammer, in die kein Lichtstrahl mehr vordrang. Ihre Furcht vor der Dunkelheit überwindend, holte sie den Kristall hervor, hielt ihn mit ausgestreckten Armen vor sich hin und sagte mit lauter Stimme den Spruch auf, den Saban ihr gelernt hatte:

 

„Die Kraft des Berges hier in Händen,

wird das Schicksal sich bald wenden.

Licht ins Dunkel bringe,

nieder böse Mächte zwinge.

Frei und heil von hier nun eile,

dank dem Feuer, das im Steine weile

….“

 

Sie hatte den Reim noch nicht zu Ende gesprochen, als der Kristall zu leuchten begann, erst blass und milchig, dann immer heller und klarer. Nun sah Kunelda das Einhorn. Entkräftet und traurig dreinblickend stand es vor ihr, doch je mehr das Licht sich ausbreitete, desto munterer wurde es. Sein Fell richtete sich auf und strahlte, als würde es selbst leuchten, und in seine Augen kehrte der Glanz von Lebensfreude zurück.

„Wer bist du?“, fragte es, und Kunelda erschrak sehr. Die Prinzessin erzählte in aller Eile die Geschichte, die sie zu ihm geführt hatte und musste sich eingestehen, dass Saban nicht gelogen hatte: das schönste und edelste Tier, das sie je gesehen hatte, stand vor ihr.

Kunelda sah nun auch die Verletzung an der Schulter des Einhorns, die aber, je näher sie den Kristall heranführte, wie durch ein Wunder rasch verheilte. Kunelda dachte an den Wunsch, den ihr das Einhorn erfüllen würde, und schon begann es zu sprechen, als hätte sie die Gedanken der Prinzessin erraten: „Moskott hat dich mit Hilfe der Hexe verzaubert, so dass du nur Gutes in ihm siehst. Aber er ist ein böser Mensch, der nur Leid und Unfrieden über das Land bringt.“

 

Als die Leuchtkraft des Kristalls nachließ, fasste Kunelda all ihren Mut zusammen und führte das Einhorn von ihrem Kerker hinaus auf den Burghof. Dort, wo es die Strahlen der Sonne erreichten, erwachten dessen wundersame Kräfte mit einem Male wieder zu ihrer vollen Größe. Befreit bäumte es auf und schüttelte sich. Tränen der Freude lösten sich und sprühten beiseite.

„Komm mit mir“, sagte es zu Kunelda, und die Prinzessin sprang auf den Rücken des Einhorns.

 

Zerxixa aber hatte gespürt, dass Unheil drohte und sofort nach Moskott gerufen. Doch gerade, als er ihnen mit seiner Streitaxt in Händen den Weg versperren wollte, begann sich der in Stein gehauene Drache neben dem Burgtor von einer Träne des Einhorns getroffen zu regen. Sein Brüllen reichte aus, um Moskott und die Torwächter in die Flucht zu schlagen. Kunelda und das Einhorn aber konnten unbehelligt die Burg verlassen. Der Drache steckte mit seinem feurigen Atem die ganze Burg in Brand und wütete fürchterlich unter ihren bösen Bewohnern.

 

Als Kunelda das Einhorn streichelte, berührte sie auch dessen Horn, und mit einem Mal war der Zauber verflogen, der über ihr gelegen hatte. Ungläubig dachte sie an die Gefühle, die sie für Moskott empfunden hatte und schämte sich darob. Sie wollte nur noch zurück zur Königsburg, um Prinz Saban aus dem Arrest zu befreien, denn ihm hatte sie die Freiheit ihrer Gedanken und damit die Freude am Leben zu verdanken.

Bei Saban wirkte der Zauber des Schals nicht, denn er war schon zuvor über alle Maßen von der Schönheit und dem Liebreiz der Prinzessin hingerissen. Schon bald daraufhin wurde am Königshof Hochzeit gefeiert. Und als Kunelda nach einigen Jahren Königin von Sanharum wurde, unterstützte sie Saban bei allen ihren Regierungsgeschäften.

 

Das Einhorn aber kehrte in den Blauwald zu Sterzin zurück, der seinen Garten von da an für immer vor den Blicken der Menschen verschloss.